Gabriel Schillings Flucht: Drama - 5

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klänge wie eine Versammlung von Seemöwen. Dann hat sie noch eine andere,
äußerst nette Bemerkung gemacht: das Geräusch der Brandung erzeuge aus
einiger Ferne die Vorstellung eines gewaltigen Stiers, der eifrig Gras
rupft und dann wieder ausschnauft. Genau so klingt es, beobachte das
mal! Und nun ist sie der Meinung, daß dadurch die Sage von Zeus als
Stier und von der Europa entstanden ist.
Lucie:
Ich glaube, daß diese Idee, die du vor zwei Jahren mal hier improvisiert
hast, den Weg über mich zu Schilling, von Schilling zu Hanna, von Hanna
zu Fräulein Majakin genommen hat.
Mäurer:
Von mir soll das stammen? Das glaub ich nicht!
Lucie:
Übrigens, Rasmussen ist bei Schilling.
Mäurer:
Rasmussen ist angekommen?
Lucie:
Er wundert sich, daß du ihm gar kein Wort von Hanna Elias gedrahtet
hast.
Mäurer:
Inwiefern denn, Lucie, von Hanna Elias?
Lucie:
Wenn du ihn unterrichtet hättest, daß sie hier ist, dann hätte er
Eveline Schilling nicht mitgebracht.
Mäurer:
Eveline ist hier? (Er wird bleich, zuckt aber, etwas verstockt, die
Achsel.) Ja, das tut mir leid! Man soll eigentlich überhaupt seine Hände
nicht in fremde Angelegenheiten hineinstecken; aber man will immer
wieder Herrgott spielen und Schicksal sein. (Er rafft sich zusammen und
tut einige Schritt gegen Schillings Tür.) Na, man muß doch mal Rasmussen
guten Tag sagen.
Lucie:
Hast du also die Idee ganz aufgegeben mit Griechenland?
Mäurer:
Es geht nicht, glaub ich; die Sachen machen sich nicht; ich muß diesen
Winter in Berlin bleiben.
Lucie:
Wann hast du denn diesen Entschluß gefaßt?
Mäurer:
Ich hab ihn nach Durchsicht meiner Verträge leider fassen müssen,
Schusterchen.
Lucie
(beziehungsreich):
Der alten, oder neuer Verträge?
Mäurer:
Der alten natürlich! Neue schließt man auf Fischmeisters Oye doch nicht!
(Er ist zu ihr getreten und streichelt sie.)
Lucie:
Warum nicht? -- -- Du bist ja so zärtlich, Ottfried!
Mäurer:
Wie immer, Schusterchen.
Lucie
(sieht ihn groß und ruhig an):
Na, geh nur zu deinem armen, verunglückten Griechenlandfahrer hinein!
Mäurer:
Bist du verstimmt, Lucie?
Lucie:
Nein, nur etwas nachdenklich.
Sie blickt vor sich nieder und tippt mit dem Finger der rechten
Hand auf den Tisch. Mäurer küßt ihre herabhängende Linke und begibt
sich zu Schilling hinein ab. Lucie stößt einen resignierten Seufzer
aus und will sich durch die Tür rechts hinausbegeben, wird aber
durch Klopfen an dieser Tür zurückgehalten.
Lucie:
Herein! Bitte eintreten!
Die Tür wird geöffnet und Klas Olfers bedeutet einer mageren,
dürftig gekleideten, tief verschleierten Frau einzutreten. Es ist
Gabriel Schillings Frau, Eveline Schilling.
Klas Olfers:
Ich denke, et würd det Beste sin, wi fragen bei det gnädige Freilein mal
nach.
Lucie, schnell gefaßt, hält Frau Schilling unauffällig im Türrahmen
zurück.
Lucie:
Herr Olfers, das muß wohl ein Irrtum sein. Die Dame will wahrscheinlich
zu Herrn Rasmussen.
Eveline
(ohne den Schleier zu öffnen):
Ist Rasmussen nicht hier?
Lucie
(tief errötend):
Sie sehen, nein!
Eveline:
Sie sind Fräulein Lucie Heil, meine Dame.
Lucie
(wie vorher):
So heiße ich. Woher kennen Sie mich?
Eveline:
Sie haben mal bei einer Matinee in der Singakademie eine Sonate von
Schubert gespielt.
(Klas Olfers entfernt sich achselzuckend.)
Darf ich bei Ihnen etwas ablegen? Sie werden vielleicht schon erraten
haben, daß ich die unglückselige Frau von Gabriel Schilling bin. (Sie
nimmt Schleier und Hut ab, ohne Luciens Erlaubnis abzuwarten.)
Lucie
(sehr unruhig):
Dies ist hier Professor Mäurers Zimmer. Wenn es Ihnen recht wäre,
gnädige Frau, könnten wir lieber in mein Bereich hinübergehn.
Eveline:
Vor allen Dingen, wo ist mein Mann?
Frau Schilling enthüllt sich nun als eine verhärmte, gealterte Frau
mit tiefliegenden Augen, hervorstehenden Backenknochen und
hektischer Röte auf den Wangen. Sie ist über das fünfunddreißigste
Jahr hinaus, erscheint aber älter und ohne weiblichen Reiz.
Lucie:
Sie werden den Wunsch haben, sich etwas zu restaurieren, gnädige Frau?
Ich nehme an, Sie sind die Nacht durchgereist; vielleicht ruhen Sie auch
erst eine halbe Stunde? Herr Schilling schläft, und jedenfalls dürfte
ein Grund zu unmittelbarer Besorgnis nicht vorhanden sein.
Eveline
(läßt sich auf einen Stuhl nieder):
Heiraten Sie niemals, liebes Fräulein! (Sie weint still in sich hinein.)
Lucie
(in peinlicher Verlegenheit):
Sie sind übermüdet, gnädige Frau! Sie sind von der Nachtfahrt nervös
überreizt und abgespannt. Wollen Sie sich bitte in meine Hand geben.
Sie brauchen Ruhe, ich kenne das. Ich habe eine lange Pflege bei meiner
armen Mutter hinter mir. Mit Denken und Grübeln ist gegen nervöse
Depressionen nicht anzukämpfen.
Eveline
(mit dem Versuch, sich zu raffen):
Es geht schon vorüber, lassen Sie mich!
Lucie:
Ich möchte Sie aber wirklich gern dazu bewegen, mit mir auf mein Zimmer
zu gehn!
Eveline:
Wissen Sie, wie mir mein Leben vorkommt, Fräulein? -- Sie sind eine Frau,
warum soll ich nicht offen zu Ihnen sein? -- Man baut mit unendlicher
Mühe, mit blutigem Mörtel und schweren Steinen ein festes Gebäude, und
wenn es fertig ist, ist es ein Kartenhaus.
Lucie:
Sie sehen in diesem Augenblick die Welt in einem zu trüben Lichte.
Eveline:
Ja, ich sehe sie wie etwas vollkommen Fremdes, etwas vollkommen
Uninteressantes, abschreckend Gleichgültiges an. Trostlos ist sie, leer
und stockfinster. -- Sie glauben, ich übertreibe, Fräulein! Aber ich habe
wahrhaftig keine unbescheidnen Wünsche gehegt! Ein Familienleben! Ein
bescheidnes Auskommen! Selbst das wenige hat mir der Himmel in seiner
unergründlichen Güte versagt. Ja, er hat sich erschlichen, was ich mir
verdient habe. Ich war jung wie Sie und vielleicht unternehmender, als
Sie sind. Ich weiß es nicht. Ich ging nach England, ich machte
Ersparnisse. Ich war gut gekleidet. In meinen Ferien konnte ich reisen.
Meine Freundin und ich, wir besuchten Holland, die Normandie, wir
brauchten nicht knausern, wir speisten in den ersten Hotels an der Table
d'hôte! Und nun kam Schilling! Ich dachte, er ist ein redlicher Mensch!
Ich dachte, er wird seine Pflichten achten und mein bißchen Erspartes
ist bei ihm, dacht ich, in guter Hand. Ja freilich! Sehen Sie mich nur
an. (Sie zeigt die großen Flicken in ihrem Rock und das zerrissene
Futter ihres schäbigen Jacketts.) Ich habe alles hingegeben, alles
umsonst zum Opfer gebracht.
Lucie
(mit Überwindung):
Es werden bessere Zeiten kommen!
Eveline:
Immer morgen, morgen, heute nicht. Heute borg ich mir, was sag ich,
erbettle ich mir zwanzig Mark zur Reise von Doktor Rasmussen, und morgen
zahl ich vielleicht ein Billett erster Klasse rund um die Welt. Heute
leb ich mit meiner Tochter von einer altbacknen Schrippe und etwas
abgelassener Milch, und morgen werd ich bei Dressel und Uhl essen. Das
ist mir nichts Neues, ich kenne das! Von diesem »morgen« wird man nicht
satt. Das ist höchstens für arme, hungrige Säuglinge der mit Essig und
Galle getränkte Lutschpfropfen. Man denkt: dein Mann hat dich heute
verlassen und morgen kommt er wieder zu dir zurück. Jawohl. Aber wie?
Von vier Männern getragen, vielleicht auf dem Sterbebette. -- Ich muß ihn
sehn! Wo ist Gabriel?
Lucie:
Sie werden sich jedenfalls erst beruhigen! Vielleicht sehen Sie ein, daß
eine Begegnung in diesem Zustand für beide Teile nicht ratsam ist!
Eveline:
Was heißt das? Was tut ihr alle mit mir? Warum laßt ihr mich nicht zu
Gabriel? Warum sagt ihr mir nicht, was geschehen ist? Es ist mir alles
hier so unheimlich! Was sind das für Stimmen hier nebenan?
Lucie
(lügt):
Fremde! Vater und Sohn aus Stralsund!
Hanna Elias tritt aus Schillings Zimmer. Die Frauen betrachten sich
einige Sekunden lang mit grenzenlosem Staunen.
Eveline
(in einem Tone des Erstaunens, in dem keine Spur der eben noch
vorherrschenden, angstvoll weinerlichen Erregung mehr ist):
Hanna, du bist es? -- Was treibst du hier?
Hanna:
Laß uns vor allen Dingen, Eveline, da wir nun einmal
unbegreiflicherweise hier zusammengetroffen sind, wie zwei vernünftige
Menschen sein.
Eveline:
Unbegreiflicherweise zusammengetroffen?
Hanna:
Zufälligerweise jedenfalls!
Eveline:
Also ist deine Anwesenheit hier zufällig!? Oder meinst du, daß es
unbegreiflicherweise und zufällig ist, wenn sich eine Frau zu ihrem
angetrauten Manne begibt, nachdem sie erfahren hat, daß er vielleicht
lebensgefährlich krank geworden ist? Wie kommst du hierher, was willst
du hier?
Hanna:
Es handelt sich nicht um uns augenblicklich, sondern meinethalben um
deines Mannes Wohlergehen. Also bitt ich dich, frage mich jetzt nicht
weiter. Jedenfalls nicht hier, denn ich sage dir, daß es Schilling
erspart werden muß, einen Zank zwischen uns zu sehn. Ich gehe mit dir an
den Strand hinunter. Dort will ich dir Rede und Antwort stehn.
Eveline:
Bitte, bitte, Hanna, ganz ohne Umschweife: wie kommst du hierher, was
suchst du hier? Das Rätsel möcht ich gerne gelöst wissen. Wie kommt's,
daß ihr auseinander seid, und ich betrogener, armer Esel von einer Frau
glaube daran, daß es aus mit euch ist, und ihr lacht mich aus hinter
meinem Rücken! -- Hast du ihn wieder rumgekriegt? -- Hast du ihm wieder
weisgemacht, daß du keine Allerweltsdame bist? Oder muß man vielleicht
Allerweltsdame sein, um dem eigenen Gatten zu gefallen?
Hanna
(für einen Augenblick ohne Selbstbeherrschung):
Eher bist du eine Allerweltsdame! -- Und ich bitte dich, höre jetzt auf
damit! -- Wenn du ein Gefühl von weibliche Würde hast, so höre jetzt auf
mit diesen Ton und solche Beleidigungen, in diesen Augenblick.
Eveline
(zu Lucie):
Diese Dame spricht von weiblicher Würde!
Hanna:
Ich spreche von weiblicher Würde, gewiß!
Lucie:
Meine Damen, Sie sind hier in einem kleinen Gasthause, bedenken Sie das!
Wir dürfen kein solches Aufsehen machen. Es ist unmöglich, daß Sie so
fortfahren. Schon allein um des Kranken willen nicht.
Eveline
(zu Lucie):
Lassen Sie sich mal von dieser Dame erzählen, Fräulein, mit welchen
Mitteln, welchen Schlichen sie hinter Gabriel her gewesen ist, bis sie
ihn so weit bekommen hat. Wie sie mir erst hat Freundschaft geheuchelt:
»Du bist zu geduldig! Du mußt mehr beanspruchen! Du mußt ihm klar
machen, daß du ein gleichberechtigter Mensch und nicht eine Sklavin
bist. Ihr deutschen Frauen seid alle Sklavinnen.« So hieß es, so ging es
in einem fort, und ich bin auch zuerst drauf reingefallen, bis ich dann
merkte, worauf es hinauslief, und daß sie sich Gabriel kapern wollte,
weil der eigene Mann ihr überdrüssig war. Eine schöne Gesellschaft! Eine
brave Familie! Erzähle doch! Immer erzähle doch! Da hast du
Gesprächsstoff, beste Hanna! Da hast du für deine Suade genug!
Hanna:
Solche fantastische, krankhafte Märchen, ausgebrütet von einer sich
beleidigt glaubenden Frau, berühren mich nicht.
Rasmussen fährt wild aus Schillings Tür heraus, die er hinter sich
sorgfältig ins Schloß klinkt, ehe er spricht.
Rasmussen:
Donnerwetter, was ist hier los, Herrschaften?! Was macht ihr euch
eigentlich von Schillings Zustand für eine Vorstellung? Er wird unruhig,
er fragt; was soll ich ihm antworten? Verlegt euren Kampfplatz wo anders
hin!
Eveline vergißt Hanna und starrt Rasmussen an. Hanna weicht mit
Entschluß und geht zur Tür rechts hinaus.
Eveline
(will an Rasmussen vorüber zu Schilling hinein):
Wo ist mein Mann?
Rasmussen
(sie zurückhaltend):
Immer erst hübsch abwarten!
Schillings Stimme:
Rasmussen!
Rasmussen
(Eveline energisch festhaltend, die bestrebt ist, sich
loszumachen):
Ich sage dir, wenn du noch einen Funken Besinnung hast, wenn du noch
einen Funken Liebe aufbringen kannst für deinen Mann, wenn dir daran
liegt, ihn noch einige Zeit zu behalten, am Leben überhaupt zu erhalten,
mein ich, so geh jetzt nicht zu ihm hinein.
Eveline
(mit einem unwillkürlich hervorbrechenden, hilferufartigen und
eigensinnigen Schrei):
Gabriel!
Schillings Stimme
(schnell und erschrocken):
Der bin ich! (Schilling erscheint in der Tür. In dem edlen, aber
furchtbar veränderten Gesicht liegt Bestürzung und Staunen): Was ist
denn passiert??
Rasmussen:
Nichts! Es ist gar nichts weiter passiert! Es hat sich nur wieder
herausgestellt, daß eine Frau und gesunde Vernunft nicht vereinbar sind.
Eveline
(die Worte mühsam hervorwürgend):
Du hast mich belogen, Gabriel! Warum hast du mich hintergangen, gerade
in einem Augenblick, wo ich wieder in meinem Innern Hoffnung schöpfte?
Du sagtest, du habest dich freigemacht. Du sagtest, du habest mit Hanna
gebrochen, und gerade in diesem Augenblick entdecke ich, daß du ein
kalter, grausamer, hartgesottener Betrüger bist. Gabriel, warum tatest
du das? Warum zerstörst du in mir den letzten erbärmlichen Rest von
Achtung für dich? -- Nein, ich kann einen Menschen wie dich nicht mehr
achten!
Schilling
(hat abwechselnd errötend und erblassend mit einem gespannten, fast
blöde fragenden Ausdruck zugehört. Er läßt seinen Blick, wie um
Auskunft bittend, von Lucie zu Rasmussen wandern und sagt dann mit
einem erstickten kurzen Auflachen):
-- So! Diese Ansicht teile ich. -- -- -- Was führt dich eigentlich her,
Eveline?
Eveline:
Frage lieber, was Hanna hierher führt, Gabriel.
Rasmussen:
Und nun ist die Kontroverse geschlossen. -- Ich bin Arzt, Eveline, dein
Mann ist krank ...
Schilling:
Red keinen Unsinn, ich bin nicht krank! -- Du hast doch nicht am Ende
gedacht, Eveline, es ist Matthäi am letzten mit mir? -- Den Gefallen tu'
ich der Welt noch nicht! -- Wenn du's nicht glauben willst, frage mal
Rasmussen! -- Die ganze Geschichte, Eveline, läuft einfach auf einen etwas
geschmacklosen Spaß hinaus, den ich mir leider gestern gemacht habe.
Eveline
(faßt sich an den Kopf, wie besinnungslos):
Fort, fort, sonst verliere ich meinen Verband! -- (Sie will hinaus.)
Schilling:
Eveline, du wirst jetzt hierbleiben!
Eveline:
Ich kann nicht bei einem Menschen bleiben, der mein Mann, mein
angetrauter Ehemann, Vater meines Kindes und dabei willenloser Sklave
einer gemeinen Dirne ist.
Rasmussen:
Na, na, na, na! Jetzt aber Schluß, Eveline!
Schilling
(nach kurzem Schweigen, mit demselben hilflos fragenden Ausdruck
wie vorher):
Ja, woran liegt das alles? Ich weiß es nicht. Ich habe nach etwas ...
wie soll ich sagen? Ich habe nie bewußt nach dem Schlechten gestrebt!
Ich hatte wirklich nie böse Absichten!
Eveline:
Stelle dich gleichgültig, Gabriel; es wird ein Tag kommen, wo du den
Unterschied zwischen einer Frau, die du jetzt mißhandelst, und einer
Hanna Elias einsehen wirst.
Hanna Elias stürzt in vollständig zügelloser Raserei herein und auf
Eveline los, kreischend und mit geballten Fäusten.
Hanna:
Es ist mich gleichgültig, was du von mir sagst! Ich speie darauf, es ist
mich gleichgültig! Ich speie auf deine verfluchte Liebe! Du hast keine
Liebe! Du lügst, du lügst! Du hast dicken, geschwollenen Vipernhaß! Du
hast Gift, du hast Stachel, du hast keine Liebe! Wie quälst du jetzt
deinen kranken Mann! Pfui! Schamlose, Schlechte, Niederträchtige! Keinen
Funken von Herz, keinen Funken von Gott! Da, stich mich! Triff mich mit
deine Augen! Triff mich mit deine Dolch von Blick! Triff mich mit einer
richtigen Dolchspitze! Da! Was ist mir Leben! Was liegt mir daran? Nur
geh, geh und laß meinen Gabriel! Er ist nicht dein! Du hast ihn
verspielt! Mein, mein! Ich fühl's! Er ist mein, mein Gabriel!
Unter den Fenstern erschallt plötzlich das mißtönige Geräusch eines
kleinen erregten Janhagels. Kinder, Weiber und halbwüchsige
Burschen miauen, husten und schreien: »hoho«. Der Lärm wird durch
die energische Stimme von Klas Olfers beschwichtigt: »Ruhe, macht,
dat ji wegkommt! Wat wollt ihr hier!« Rasmussen hat, um sie zu
beruhigen und ihre wahnsinnige Erregung zu dämpfen, Hanna in seine
Arme geschlossen. Er drängt sie langsam hinaus. Mäurer hat den
größten Teil der letzten Szene miterlebt, hinter Schilling in der
Tür stehend. Eveline ist stumm und besinnungslos vor Entsetzen. Ihr
Blick bleibt, solange sie im Zimmer ist, mit grauenvollem Staunen
auf Schilling haften. Dieser steht bewegungslos und schluchzt nur
einige Male krampfhaft. Seine weitgeöffneten Augen stehen voll
Wasser. Das Taschentuch wie einen Knebel im Mund, geht Eveline an
Schilling vorüber, von Lucie geführt, hinaus. Stillschweigen.
Rasmussen
(nach einigem Stillschweigen zu Schilling):
Na, es kommt auch mal wieder anders, Schilling!
Mäurer
(legt mit einem leichten Schlag seine Hand auf Schillings
Schulter):
Duck dich und laß vorübergahn,
Das Wetter will sein' Willen han.
Schilling
(mit unendlichem Grauen im blutlosen Gesicht):
Wir sind keine Griechen, mein lieber Junge!
Mäurer klopft ihm weiter auf die Schulter, sehr bewegt;
unwillkürlich umarmt er ihn. Eine Weile herrscht Schweigen.
Rasmussen tritt dazu.
Schilling
(indem er beide ein wenig beiseite zieht, mit qualvollem innerem
Ausbruch):
Der Ekel erwürgt mich. Gift! Gebt mir Gift! Ein starkes Gift,
Rasmussen!


Fünfter Akt

Die Strandgegend wie im ersten Akt. Der Schuppen der
Rettungsstation, die Gallionfigur, das Fischerboot auf der Düne,
der Signalmast, die Bretter hinter dem Schuppen. Die Sonne ist
hinunter, allein es bedeckt den Himmel eine starke Abendröte, so
daß eine magische Helligkeit verbreitet ist. Lucie und Fräulein
Majakin kommen langsam vom Strande herauf.
Lucie:
Ich muß Ihnen sagen, ich habe vor alledem jetzt, nach allem, was
vorgefallen ist, einen so ausgesprochenen Widerwillen, daß ich lieber
freiwillig alles hingeben würde, als nur den kleinsten Versuch in der
Art dieser Weiber zu tun.
Fräulein Majakin:
Man kämpft doch aber für das, was man liebt -- und naturgemäß, scheint
mir, Fräulein Heil.
Lucie:
Ich würde unter gar keinen Umständen dafür kämpfen. Ich habe von Harpyen
gelesen. Sie sind wie Harpyen, diese Weibsbilder. Niemals geben sie,
wenn sie es erst in den Klauen haben, ihr Opfer frei. Nur daß sie schön
singen, kann ich nicht finden!
Fräulein Majakin:
Wie geht es Herrn Schilling?
Lucie:
Schilling schläft! Einen totenähnlichen Schlaf, seit Stunden.
Fräulein Majakin:
Es gibt bei manche Krankheiten zuletzt einen solchen furchtbaren Schlaf,
aus dem kein Erwachen ist.
Lucie:
Das hat mir auch Rasmussen angedeutet.
(Kurzes Stillschweigen.)
Fräulein Majakin:
Herr Mäurer scheint sehr an Ihnen zu hängen, Fräulein Heil.
Lucie:
Ich betrachte Mäurer als meinen Freund und werde ihn immer dafür
betrachten. Wie er sein Leben im übrigen einrichtet, kümmert mich nicht.
Er ist frei! Ich verlange durchaus nichts von ihm. Ich danke Gott, daß
ich durch mein bißchen Begabung immer sozusagen mein Brot finde.
Fräulein Majakin:
Ist es richtig, Sie waren angestellt zwei Winter lang in Dresden an die
Opernorchester?
Lucie:
Das ist allerdings wahr. Wenn ich aber jetzt etwas unternehme, so werd
ich vielleicht in irgendeiner Mittelstadt eine kleines Musikinstitut
errichten.

Fräulein Majakin:
Glauben Sie, ob Professor Mäurer jemals wird heiraten?
Lucie
(lacht):
Das weiß ich nicht! -- Wenn man betrachtet, was er mit seinen Freunden
erlebt, so ist es kein Wunder, wenn er sich ängstet.
Fräulein Majakin:
Es scheint mir auch. Er scheint mir ein Feind von die Ehe zu sein.
Lucie:
Sind Sie vielleicht eine Freundin vom Heiraten?
Fräulein Majakin:
Ich kann mich denken, daß eine Frau von ein Mann, wie Professor Mäurer
ist, durch ein ganzes Leben gefesselt wird. Das kann ich mich denken,
Fräulein Lucie.
Lucie:
Aber daß Sie ihn ebenso lange fesseln, glauben Sie das?
Fräulein Majakin:
Ich kann überhaupt nicht Herr Mäurer fesseln. Er hat eine sehr große
Liebe, eine sehr große Bewunderung für eine ganz andere Dame als mich.
-- Wissen Sie, daß wir werden abreisen?
Lucie:
Warum wollen Sie denn schon abreisen, Fräulein Majakin? Lassen Sie Hanna
Elias abreisen! Möchte sie sein, wo der Pfeffer wächst. Geben Sie ihr
Eveline Schilling mit! Wenn es Ihnen hier so gut gefällt, wie Sie sagen:
bleiben Sie doch!
Fräulein Majakin:
Ich glaube kaum, daß dies ist, was Sie sagen, Ihr Ernst, Fräulein Lucie.
Und wenn es wirklich wäre der ganze Ernst Ihres Frauenherzens, ich
bleibe nicht. Auch ich bin, glauben Sie mir, durch das, was ich habe
sehen und hören müssen, mit diese traurige Liebesschicksal von diese
arme, gebrochene Künstler und Mann ... auch ich bin ein wenig erschreckt
davon.
Lucie:
Ich bin so wütend, ich könnte diese Weibsbilder prügeln, glauben Sie
mir, ich möchte sie ganz gehörig mit beiden Fäusten schrecklich
durchprügeln.
Fräulein Majakin:
Und mich dazu?
Lucie:
Nein. Sie, Fräulein Majakin, würd ich nicht durchprügeln. Ich würde nur
wünschen, daß Sie ganz ruhig zurück zu Ihrem Herrn Vater gehn. -- Glauben
Sie nicht, daß Mäurer ein Mann wie Schilling ist! Mäurer nimmt »eins
zwei drei«, was er haben will, und dann geht er und modelliert seine
Statuen. Skrupel macht er sich weiter nicht.
Fräulein Majakin:
Dann hat er die rechte noch nicht gefunden.
Lucie
(lacht):
Vielleicht; wer weiß, Fräulein Majakin.
Fräulein Majakin:
Es liegt immer daran, wenn ein Mann so unstät ist, daß ihm die Frau, die
ihn versteht, bis in die geheimste Regung der Seele, noch nicht begegnet
ist.
Lucie:
Vielleicht wissen Sie eine Frau für ihn! Jede Frau denkt allerdings, sie
sei die rechte. Ich schwöre sogar, die arme Eveline ist überzeugt davon,
daß sie für Schilling die ausgesucht einzig richtige Gattin ist. Aber
man kann ja nicht wissen, ob Ihr Instinkt nicht wirklich das Richtige
trifft, Fräulein Majakin. (Kurzes Stillschweigen.) Finden Sie nicht, es
ist etwas so Verhaltenes, etwas, was förmlich beängstigt, in der Luft?
Fräulein Majakin:
Etwas Totes, ja. Das macht die Windstille.
Lucie:
Es drückt! Sehen Sie mal. Wie jedes Boot doppelt auf der absolut
spiegelglatten Fläche liegt. Ich möchte um Schillings willen, daß Wind
käme. Er hat sich so sehr einen Sturm gewünscht.
Fräulein Majakin:
Meistens erschrickt der Mensch vor die Natur; manchmal scheint die Natur
vor den Mensch zu erschrecken.
Lucie:
Mit Schilling, glaub ich, ist es aus.
Schon seit einiger Zeit hat man in der Ferne rufen gehört. Fischer
laufen unten am Strand hin und her. Lucie und Fräulein Majakin
schenken diesen Vorgängen keine Aufmerksamkeit. Sie sind nun immer
weiter nach vorn hin schreitend, rechts zwischen den Dünen
verschwunden. Der Tischlermeister Kühn kommt mit seinem Lehrjungen,
der eine Radwer führt. Sie beginnen Bretter aufzuladen.
Kühn:
Junge, mach fix, et gibt Wind!
Der Junge:
Wat haben denn de Fischers unten am Strande, Meester?
Kühn:
De Häring kommt.
Der Junge:
Sehen Se nicht de Lichter draußen uf See, Meester? Unsre Fischer sind
alle schon draußen.
Kühn:
Na, denn laß se man machen und lade de Bretter uf.
Der Junge:
Ob wohl der Kunstmaler aus Berlin sterben wird, Meester?
Kühn:
Halts Maul! wat jeht uns dat an!
Der Junge:
Ick dachte bloß, weil wir dem kienenen Sarg machen.
Kühn:
Für wen man so'n Sarg machen dut, det weeß Jott!
Der Junge:
Meester, Meester, dort kommt er ja.
Kühn:
Wer denn?
Der Junge:
Denn is er ja jar nich krank, Meester.
Gabriel Schilling kommt von links, aus den Dünen. Er ist
unzureichend bekleidet: Hemd, Beinkleider, Jackett, keine Weste,
kein Hemdkragen, keine Strümpfe in den Schuhen. Er geht schnell,
wie ein Nachtwandler, gerade auf die Gallionfigur zu, die im
Scheine des Blinkfeuers vom Leuchtturm in bestimmten Zwischenräumen
heller beleuchtet wird. Nahe herangekommen, steht er still und
blickt zu ihr hinauf.
Kühn:
'N Abend.
Schilling
(mit verrosteter Stimme, erschrocken):
Guten Abend. Wer sind Sie denn?
Kühn:
Sind Sie vielleicht der Herr Maler Schilling, wenn ich fragen darf?
Schilling:
Pst! Namen und Stand tut hier nichts zur Sache. -- Sagen Sie mal, wie
kommt denn das, daß diese Figur dort oben immer abwechselnd hell und
dunkel wird?
Kühn:
Na, das kommt ganz natürlich von dem Blinkfeuer.
Schilling:
Ich habe das schon eine ganze Weile von ferne beobachtet. Ich wußte gar
nicht, was es bedeutet.
Kühn:
Wieso bedeutet?
Schilling:
Ich wollte erst nicht herüberkommen. Schließlich dacht' ich mir aber,
daß es doch was bedeuten muß. -- Woher stammt denn eigentlich diese Figur?
Kühn:
Sie stammt von einer dänischen Brigg, die hier draußen gesunken ist.
Schilling:
Richtig! Natürlich! Schiff und Mannschaft natürlicherweise zugrunde
gerichtet.
Kühn:
Da haben Sie ganz recht. So ist et och.
Schilling:
Wie hieß denn die Brigg?
Kühn:
Sie hieß doch Ilsabe.
Schilling:
Den Namen kenn ich von irgendwo her.
Kühn:
Sie werden ihn auf 'm Kirchhof gelesen haben, wo die gelandeten Leichen
von der Ilsabe begraben worden sind. Da ist ja 'n Kreuz und auf dem
steht Ilsabe.
Schilling:
Eigentlich liegen wir recht gut, da oben im Sande.
Kühn:
Wie sagen Sie, wenn ich bitten darf?
Schilling:
Na, eine schönere Stelle, begraben zu werden, gibt's doch nicht. Oder
möchten Sie etwa lieber in Berlin auf so einen Massenkirchhof begraben
werden?
Kühn:
Na, so weit bin ich überhaupt noch lange nicht.
Schilling:
Keine Automobilomnibusse, keine Straßenbahnwagen, immer nur die
rennenden, springenden, kleinen Sandkörnerchen! Frischer, gesunder,
nasser Sturm! Der schöne Salut des Meers überm Grabhügel!
Kühn:
I, da hat man ja nischt mehr von!
Schilling:
Das sagen Sie so! Wer weiß denn das, Meister? Ich hab aber irgendwo mal
gelesen: »Gott löscht nicht aus im dunklen Grabesschoß, was er entzündet
hat im dunklen Mutterschoß«. -- Übrigens, gucken Sie doch mal hinter sich.
Kühn
(tut es):
Warum nicht? Wat soll denn dort sind, Herr Professor?
Schilling:
Das versteht sich von selbst. Da brauchen Sie meine Erklärung nicht. Da
hat wahrscheinlich das Wasser noch einen armen Teufel auf den Strand
gespült.
Kühn
(der nichts sieht, verdutzt):
Was denn für 'n armen Teufel?
Schilling
(immer starr blickend):
Gott, ich weiß ja nicht, wer das ist, den sie da begraben. Ist das bei
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