Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 4

Total number of words is 4415
Total number of unique words is 1404
43.1 of words are in the 2000 most common words
55.3 of words are in the 5000 most common words
62.1 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
-- Spaß bei Seite, die Glückseligkeit ist ein sonderbares Ding, ich
glaube immer noch, daß wir schon hier in der Welt so glücklich seyen,
als wir es nach der Einrichtung unseres Geistes und Körpers werden
können. Die Tugend ist das einzige Mittel diese Glückseligkeit in
ihrer höchsten Höhe zu erhalten und die Religion versichert uns,
sie werde auch nach dem Tode währen und dient also dieser Tugend
mehr zur Aufmunterung, als zur Richtschnur. Da kommt nun aber die
verzweifelte Krankheit, von der Sie schreiben und wirft mir mein ganzes
Kartenhaus über den Haufen. Allein sie muß doch auch wozu heilsam
seyn, vielleicht, wie Sie sagen, ist sie das Fegfeuer unserer Tugend,
wenigstens macht sie uns die Gesundheit desto angenehmer und trägt,
durch den Contrast, also zu dem Ganzen unserer Glückseligkeit auch mit
das Ihre bei. Wiewohl, ich habe gut philosophiren, da ich sie, dem
Himmel sey Dank, schon seit so langer Zeit, blos vom Hörensagen kenne.
Ich bin jetzt auch von lauter Kranken eingeschlossen und denke dabei
beständig an Sie. Wiewohl ich aus dem Schluß Ihres letzten Briefes zu
meiner Beruhigung schließe, daß Sie jetzt wieder völlig hergestellt
seyen. Sie werden von Herrn Ott hören, wie ich mich amusire. Wenig
genug und doch sehr viel. Wenn man Käse und Brod hat, schmeckt uns die
Mahlzeit eben so gut, als wenn das Regiment _de Picardie_ traktirt,
vorausgesetzt, daß wir in einem Fall, wie im andern, recht derben
Hunger haben. Um also glücklich zu seyn, sehe ich wohl, werde ich
künftig nur immer an meinem Magen arbeiten, nicht an der Mahlzeit,
die ich ihm vorsetze. Die Umstände, in denen wir uns befinden, müssen
sich schon nach uns richten, wenn wir selbst nur fähig sind, glücklich
zu seyn. -- Bin ich doch ganz Philosoph geworden, werden Sie nur über
mein Geschwätz nicht von Neuem krank! Den Herrn Senior habe ich nur in
seiner Kirche besucht und noch nicht recht das Herz, ihn näher kennen
zu lernen. Den Rektor der hiesigen Schule hab’ ich in seinem Hause
besucht und möchte wohl schwerlich wieder hingehen. Ich fragt’ ihn nach
den hiesigen Gelehrten: er lachte. Das war vortrefflich geantwortet,
nur hätte der gute Mann die betrübte Ahndung, die dieses Lachen bei mir
erregte, nicht bestätigen sollen. Er beklagt sich über den Schulstaub
und die häuslichen Sorgen -- da, da, mein theuerster Freund, fühlte ich
eine Beklemmung über die Brust, wie sie Daniel nicht stärker hat fühlen
können, als er in den Löwengraben hinabsank. In seiner Jugend, sagt’
er, hätte er noch _fait_ vom Studieren gemacht, jetzt -- o mein Freund,
ich kann Ihnen das Gemälde nicht auszeichnen, es empört meine zartesten
Empfindungen. Den heiligen Laurentius auf dem Rost hätt’ ich nicht mit
dem Mitleiden angesehen, als diesen Märtyrer des Schulstandes, eines
Standes, der an einem Ort wie Landau, mir in der That ein Fegfeuer
scheint, aus dem man alle guten Seelen wegbeten sollte. Er hatte seine
Bibliothek nicht aufgestellt, es waren bestäubte, verweste Bände,
die er vermuthlich nur in seiner Jugend gebraucht -- ausgenommen
die allgemeine Welthistorie figurirte, in Franzband eingebunden,
besonders. -- Vielleicht daß ich da mich einmal bei ihm zu Gast bitte.
Er scheint übrigens der beste Mann von der Welt -- o Gott, eh’ so viel
Gras über meine Seele wachsen soll, so wollt’ ich lieber, daß nie
eine Pflugschaar drüber gefahren wäre. Jetzt bin ich ganz traurig,
ganz niedergeschlagen, blos durch die Erinnerung an diesen Besuch.
Nein, ich darf nicht wieder hingehen. Wie glücklich sind Sie, mein
Sokrates, wenigstens glänzt eine angenehme Morgenröthe des Geschmacks
in Straßburg um Sie herum, da ich hier in der ödesten Mitternacht
tappend einen Fußsteig suchen muß. Keine Bücher! ha Natur, wenn du mir
auch dein großes Buch vor der Nase zuschlägst (in der That regnet es
hier seit einigen Tagen anhaltend), was werd’ ich anfangen? Dann noch
über die Glückseligkeit philosophiren, wenn ich von ihr nichts als das
Nachsehen habe? Doch vielleicht kriegt mich ein guter Engel beim Schopf
und führt mich nach Straßburg. -- -- Meine Lektüre schränkt sich jetzt
auf drei Bücher ein: Eine große Nürnbergerbibel mit der Auslegung,
die ich überschlage, ein dicker Plautus, mit Anmerkungen, die mir die
Galle etwas aus dem Magen führen und mein getreuster Homer. Ich habe
schon wieder ein Stück aus dem Plautus übersetzt und werd’ es ehestens
nach Straßburg schicken. Es ist nach meinem Urtheil das beste, das er
gemacht hat (doch ich kenne noch nicht alle). Noch an eins möcht’ ich
mich machen: es ist eine Art von Dank, den ich dem Alten sage, für das
herzliche Vergnügen, das er mir macht. Ist es nicht reizend, nach so
vielen Jahrhunderten, noch ein Wohlthäter des menschlichen Geschlechts
zu seyn?
Heut’ möcht’ ich Ihnen einen Bogen voll schreiben, aber ich besinne
mich, daß das, was mir ein Präservativ für eine Krankheit ist, Ihnen
leicht ein Recidiv geben kann. Ich bin ganz der Ihrige
=Lenz.=

9.
Aus Landau.
Würdiger Mann!
Ich sehe in Ihrem Raritätenkasten -- alles, was uns die Herrn
Modephilosophen und Moralisten, mit einer marktschreierischen
Wortkrämerei, in großen Folianten hererzählen, in zwei Worten
zusammengefaßt und so glücklich zusammengefaßt, daß sich dazu weder
zusetzen noch davon abnehmen läßt. Das ist vortrefflich -- also das
Ziel ist gesteckt, nun Ihre Hand her, mein Sokrates, wir wollen
darauf zugehen, wie auf ein stilles und friedelächelndes Zoar und die
hinterlassenen Vorurtheile immer in Feuer und Schwefel aufgehen lassen,
ohne uns darnach umzusehen. Mögen furchtsame Weiber sich darnach
umsehen und drüber zu Salzsäulen werden.
Um noch eine Stelle Ihres ohnendletzten Briefes zu berühren, wo Sie
mir zu bedenken aufgaben, ob Gott wohl uns das Gute könne schwerer
machen, als das Böse, oder (um mit Ihren Worten mich auszudrücken) ob
er wohl die _vim inertiae_ in uns stärker könne gemacht haben, als die
_vim activam_. so antworte ich, daß ich keine _vim inertiae_ glaube.
Bedenken Sie doch, mit welchem Fug, wir wohl für die Unthätigkeit
eine =Kraft= annehmen können? Vereinigung einer Kraft ist sie,
Vernachläßigung der _vis activa_, welche in Wirksamkeit und Thätigkeit
zu setzen, allemal in unserm Belieben steht oder nicht. Es ist aber
die Natur einer jeden Kraft, daß sie nur durch Uebung erhalten und
vermehrt, durch Vernachläßigung aber, so zu sagen eingeschläfert und
verringert wird. Und daß die Uebung dieser Kraft schwerer, als ihre
Vernachläßigung sey, liegt in der Natur der Sache und konnte von Gott
nicht verändert werden. _Positio_ ist allemal schwerer als _negatio_,
wirken schwerer als ruhen, thun schwerer als nicht thun.
Was die Einwirkung Gottes in die Menschen betrifft, so kann ich mir nur
vier Arten davon denken. Er unterstützt und erhält die in uns gelegten
Kräfte und Fähigkeiten -- diese ist =natürlich=, das heißt, unsere
Vernunft kann sie auch ohne Offenbarung erkennen; und =unmittelbar=
-- hernach, er leitet die äußern Umstände und Begebenheiten in der
Welt so, daß eine oder die andere Fähigkeit in uns entwickelt oder
vergrößert werde, je nachdem es sein Rathschluß für gut befindet,
diese ist gleichfalls =natürlich= aber =mittelbar=. Zum dritten wirkt
er durch die in uns geoffenbarten Wahrheiten -- diese ist also, ihrem
ersten Ursprung nach, =übernatürlich=, aber zugleich =mittelbar= und
den Gesetzen der Natur gemäß. Zum vierten wirkt er übernatürlich und
unmittelbar, wie in den Propheten und Aposteln; diese Einwirkung
ist über die Gesetze der Natur erhaben, läßt sich also nicht mehr
erklären (wiewohl wir auch nicht das Recht haben, sie noch jetzt aus
der gegenwärtigen Welt auszuschließen, im Fall die Gottheit gewisse
außerordentliche Endzwecke dadurch befördern wollte, welchen Fall aber,
meiner Meinung nach, unsere Vernunft nie determiniren kann, sondern
vielmehr jedes Phänomen für verdächtig halten muß, welches nicht die
dazu erforderlichen Kennzeichen bei sich hat).
Jetzt möge meine philosophische Muse ruhen, sich still zu Ihren Füßen
setzen und von Ihnen lernen. Spekulation ist Spekulation, bläset
auf und bleibt leer, schmeichelt und macht doch nicht glücklich.
Zusammen mögen sich die Fittige des Geistes halten, und im Thal ruhen,
ehe sie, wenn sie der Sonne zu nahe kommen, in zerlassenem Wachs
heruntertröpfeln und den armen Geist, welcher auf dem Lande so sicher
und lustig hätte einher gehen können, aus der Luft in das Meer herab
wirft.
-- -- Hier ist mein Trauerspiel mit dem Wunsch: möchte dieser
Raritätenkasten des Ihrigen werth seyn. Das Beste ist, daß wir beim
Tausch nicht verlieren, denn unter sympathisirenden Seelen ist
_communio bonorum_.
Es ist wahr, meine Seele hat bei aller anscheinenden Lustigkeit, jetzt
mehr als jemals, eine tragische Stimmung. Die Lage meiner äußern
Umstände trägt wohl das Meiste dazu bey, aber -- sie soll sie, sie mag
sie nun höher oder tiefer stimmen, doch nie verstimmen. Eine sanfte
Melancholei verträgt sich sehr wohl mit unserer Glückseligkeit und
ich hoffe -- nein ich bin gewiß, daß sie sich noch einst in reine und
dauerhafte Freude auflösen wird, wie ein dunkler Sommermorgen, in einen
wolkenlosen Mittag. Auch fehlen mir jetzt öftere Sonnenblicke nicht,
nur kann freilich ein Herz, dem die süßen Ergötzungen der Freundschaft
und -- der Liebe -- sogar einer vernünftigen Gesellschaft genommen
sind, bisweilen einen Seufzer nicht unterdrücken. An den Brüsten der
Natur hange ich jetzt mit verdoppelter Inbrunst, sie mag ihre Stirne
mit Sonnenstrahlen oder kalten Nebeln umbinden, ihr mütterliches
Antlitz lächelt mir immer und oft werd’ ich versucht, mit dem alten
Junius Brutus, mich auf den Boden niederzuwerfen und ihr mit einem
stummen Kuß für ihre Freundlichkeit zu danken.
In der That, ich finde in der Flur, um Landau, täglich neue Schönheiten
und der kälteste Nordwind kann mich nicht von ihr zurückschrecken.
Hätt’ ich doch eines göttlichen Malers Pinsel, ich wollte Ihnen
gleich einige Seiten von diesem vortrefflichen Amphitheater der Natur
hinmalen, so lebhaft hat’s sich in meiner Fantasei abgedrückt. Berge,
die den Himmel tragen, Thäler voll Dörfnern zu ihren Füßen, die dort zu
schlafen scheinen, wie Jakob am Fuß seiner Himmelsleiter. --
Doch ich würde nur schwärmen, wenn ich fortführe und dafür muß ich
meinen Geist in Acht nehmen. Ich hatte vor einigen Tagen einen Brief an
Sie fertig, aber ich verbrannte ihn, denn ich hatte darin geschwärmt.
Ich habe schon viel Papier hier verbrannt -- ein guter Genius hat über
dies Trauerspiel gewacht, sonst -- und vielleicht hätten Sie nichts
dabei verloren. So viel muß ich Ihnen sagen, daß ich es bei diesem
ersten Versuch nicht werde bewenden lassen, denn ich fühle mich dazu
-- Ich muß abbrechen und Ihnen gute Nacht sagen. Möchten Sie doch aus
Ihren Träumen lachend erwachen, wie ich heute Morgen aus den meinigen.
=Lenz.=

10.
Herr Simon kommt zurück eh’ ich ihn haben will: ich kann Ihnen also das
Versprochene nicht zuschicken. Es war mein Trauerspiel, welches ich
jetzt eben für Sie abschreibe. Ich werde schon eine andre Gelegenheit
finden es Ihnen zukommen zu lassen. Nicht einmal einen langen Brief
erlaubt mir seine beschleunigte Abreise. Gut, daß ich dann und wann,
bei Lesung des Leibnitz ein hingeworfenes Blatt für Sie beschrieben
habe. Vergeben Sie mir, daß ich es nicht abschreibe und meine Gedanken
in Ordnung bringe. Ihnen, als einem unverwöhnten Auge, darf ich sie
auch im Schlafrock zeigen; wenn sie wahr sind, werden sie Ihnen auch
alsdann besser gefallen, als falsche in einem Gallakleide. -- Wie ich
Ihnen gesagt habe, meine philosophischen Betrachtungen dürfen nicht
über zwo, drei Minuten währen, sonst thut mir der Kopf weh. Aber wenn
ich einen Gegenstand fünf, zehnmal so flüchtig angesehen habe, und
finde, daß er noch immer da bleibt und mir immer besser gefällt, so
halt’ ich ihn für wahr und meine Empfindung führt mich darin richtiger
als meine Schlüsse. Nro. II. ist eine Apologie meines allerersten
Briefes über die Erlösung. Nachdem ich aber Ihre Antwort wieder
durchgelesen, finde ich, daß wir fast einerlei gedacht und dasselbe
mit andere Worten ausgedrückt haben. Sie haben mich unrecht verstanden,
wenn Sie glaubten, ich ließe Gott die übeln Folgen der Sünde auf den
Mittler lenken, blos um seine strafende Gerechtigkeit zu befriedigen.
Leibnitz glaubt dieses; er sagt, es ist eine Convenienz, die ihn zwingt
Gutes zu belohnen und Böses zu bestrafen. Ich denke aber, es geschieht
blos um unsertwillen, weil, auf das moralische Uebel kein physisches
Uebel, als eine Strafe folgt; wir lieber Böses als Gutes thun würden,
da das Böse leichter zu thun ist. Und warum Gott das Gute für unsere
Natur schwerer gemacht hat, davon ist die Ursache klar, damit wir nicht
müßig gehen; unsere Seele ist nicht zum Stillsitzen, sondern zum Gehen,
Arbeiten, Handeln geschaffen.
Doch _seriosa in crastinum_. -- Ich werde hoffentlich noch mit Ihnen
diesen Winter zusammenkommen; wiewohl das Regiment jetzt die letzte
Ordre erhalten hat, hier zu bleiben. Wenn ich Sie sehe -- Jetzt
fühle ich, daß die ideale Gegenwart eines Freundes die persönliche
nicht ersetzen kann, so werde ich Ihnen viel zu sagen haben. Meine
Seele hat sich hier zu einem Entschlusse ausgewickelt, dem alle Ihre
Vorstellungen -- dem die Vorstellungen der ganzen Welt vielleicht,
keine andere Falte werden geben können. Wenn ich anders ihn einem
Menschen auf der Welt mittheile, ehe er ausgeführt ist. -- Mein
guter Sokrates, entziehen Sie mir um dessentwillen Ihre Freundschaft
nicht; bedenken Sie, daß die Welt ein Ganzes ist, in welches allerlei
Individua passen; die der Schöpfer jedes mit verschiedenen Kräften
und Neigungen ausgerüstet hat, die ihre Bestimmung in sich selbst
erforschen und hernach dieselbe erfüllen müssen; sie seye welche sie
wolle. Das Ganze giebt doch hernach die schönste Harmonie die zu denken
ist und macht daß der Werkmeister mit gnädigen Augen darauf hinabsieht
und =gut findet= was er geschaffen hat.
Nicht wahr, ich rede mystisch, Ihnen fehlten die Prämissen, um meine
Folgesätze zu verstehen. Sie werden sie verstehen, nur Geduld. -- In
der Erwartung will ich Ihnen nur mit der größten logischen Deutlichkeit
sagen, daß ich von ganzem Herzen bin und bleibe
Ihr drollichter =Alcibiades=.
Sagen Sie doch dem Ott, daß er den =Lenz= nicht über dem =Herbst=
vergesse.

11.
Ich will Sie auch drücken, mein Sokrates, aber erst, wenn ich Sie
=ganz= kennen gelernt und von ferne bewundert habe. -- Recht so -- wir
stehen ganz beisammen; allen Ihren übrigen Meinungen unterschreibe ich.
Wir müssen das Ordentliche von dem Außerordentlichen, das Natürliche
vom Uebernatürlichen unterscheiden, nur müssen wir das Uebernatürliche
nicht für unnatürlich halten, oder aus einer Welt verbannen, in
der Gott nach einem höhern Plane arbeitet, als unser kurzsichtiger
schielender Verstand übersehen kann. Ich bin sehr für das Ordentliche,
für das Natürliche -- nur eine aufmerksame Lesung der Briefe Pauli (der
wirklich ein großer -- ein übernatürlicher Mann war) zwingt mich eine
übernatürliche Einwirkung nicht allein für möglich, sondern auch in
gewissen Fällen (wie das z. E. da die Religion erst im Keimen war) für
nothwendig zu halten. -- --
Um auf dem hohen Berge nicht stehen zu bleiben, sondern auch im
Thale herumzuhüpfen -- muß ich Ihnen sagen, daß Friedericke aus
Straßburg an mich geschrieben und mir gesagt hat, sie habe dort
eine besondere Freude gehabt, die ich vielleicht boshaft genug seyn
würde, zu errathen. Und das war die, Sie am Fenster gesehen zu haben.
Sie schreibt ferner, sie wäre durch Ihren bloßen Anblick so dreist
geworden, nach dem andern Theile des _Tom Jones_ zu schicken und bittet
mich sie desfalls zu entschuldigen. -- Ist das nicht ein gutes Mädchen?
--
Und doch muß ich meinen Entschluß vor Ihnen verbergen. --
Was ist das für ein Zusammenhang? -- Ein trauriger --
Ich bin dazu bestimmt, mir selbst das Leben traurig zu machen -- --
aber ich weiß, daß, so sehr ich mir jetzt die Finger am Dorne zerritze,
daß ich doch einmal eine Rose brechen werde --
Zu allem diesem werde ich Ihnen die Schlüssel in Straßburg geben --
Der älteste Hr. von Kleist hat mir geschrieben, daß Briefe von meinem
Vater da wären; er schickt sie mir aber nicht; ich soll sie selbst
abholen.
Nun aber stößt sich meine Hinreise noch an vielen Dingen.
Ich muß schließen, ich sehe, ich kann dieß Blättchen nicht mehr
zusiegeln, aber wenn es auch nicht unser Freund Ott wäre, durch
dessen Hände es gienge, so sind unsere Briefe von der Art, als die
spartanischen Ephori an ihre Feldherrn schickten, die an einen
gemeinschaftlichen Stab müßten gewickelt werden, wenn man sie lesen
wollte.
Ich bin bis ins Grab
Ihr
=Lenz=.

12.
=Landau=, im Oktober 1772.
Mein -- --
Doch ich will, von jetzt an, immer ohne Titel an Sie schreiben.
Wenn Geister zu einander treten und sich miteinander besprechen, so
können sie, mein’ ich den Scharrfuß wohl weglassen. Ich schreibe an
Sie, um Ihnen eine Veränderung zu melden, die mit mir vorgegangen.
Ich bin ein Christ geworden -- glauben Sie mir wohl, daß ich es
vorher nicht gewesen? Ich habe an allem gezweifelt und bin jetzt,
ich schreib’ es mit von dankbarer Empfindung durchdrungenem Herzen,
zu einer Ueberzeugung gekommen, wie sie mir nöthig war, zu einer
philosophischen, nicht blos moralischen. Der theologische Glaube ist
das _complementum_ unserer Vernunft, das dasjenige ersetzt, was dieser
zur gottfälligen Richtung unsers Willens fehlt. Ich halte ihn also blos
für eine Wirkung der Gnade, zu der wir nichts beitragen, als daß unser
Herz in der rechten Verfassung sey, sie anzunehmen; diese Verfassung
aber besteht in einer vollkommen ernstlichen Liebe zur Tugend, zum
Wahren, Guten und Schönen. Dieser Glaube ist eine notwendige Gabe
Gottes, weil bei den meisten Menschen die Vernunft noch erst im Anfange
ihrer Entwicklung ist, bei vielen aber niemals entwickelt wird. Je mehr
sich aber unsere Vernunft entwickelt (das geht bis ins Unendliche),
desto mehr nimmt dieser =moralische= Glaube, der in der That mehr in
den Empfindungen als in der Erkenntniß gegründet ist, ab und verwandelt
sich in das Schauen, in eine Ueberzeugung der Vernunft. Ueberhaupt
bedürfen wir nicht mehr und nicht weniger moralisch zu glauben, als zur
Seligkeit nothwendig ist, das Uebrige haben wir immer noch die Freiheit
_in suspenso_ zu lassen. Aber auch dieses müssen wir viel mehr suchen
in Erkenntniß und Anschauen zu verwandeln, weil, nach der Ordnung
Gottes, unser Wille sich nach unserer Erkenntniß richtet.
Dieses sind die Prämissen, die ich Ihnen voranschicke, um Ihnen eine
vollständige Idee von meiner Überzeugung von unsrer Religion zu
geben. Ich habe bisher die Erlösung unsere Heilands für nichts, als
ein in die Augen fallendes Beispiel der Folgen der Sünde gehalten,
das uns an der Person des vollkommensten Menschen, zur heilsamen
Warnung aufgestellt worden. Denn, hab’ ich gedacht, die Idee eines
Verdienstes, und wär’ es auch des vollkommensten, widerspricht der
allervollkommensten Barmherzigkeit Gottes, als welche nicht braucht
erst durch ein Verdienst sich die Vergebung unserer Sünden gleichsam
abfodern und abzwingen zu lassen. Aber ich habe gefunden, daß ich
sehr irrte. Gott ist die Liebe -- allein die übeln Folgen der Sünde
aufzuheben (denn das heißt Sünde vergeben) ohne die Sünde durch eben
diese übeln Folgen zu strafen, hieße die Natur dessen, was gut und
böse ist, verändern und uns eben so viel Aufmunterung zum Bösen, als
zum Guten, geben. Aber -- diese übeln Folgen der Sünden einer ganzen
Welt, auf einen dritten Gegenstand lenken, das konnte Gott, das wird
der Vernunft nicht schwer zu begreifen, das war das einzige Mittel,
Sünde zu vergeben, ohne sie zu strafen. Und eben dieß läßt seine
Barmherzigkeit in dem nemlichen Glanze. Freilich könnt’ es scheinen,
daß sie, gegen diesen dritten Gegenstand, welchen wir so lange unsern
Heiland nennen wollen, nicht ausgeübt worden, allein eben dieses
ist der Gegenstand unsers Glaubens, hier kann die Vernunft nicht
weiter. Die Offenbarung sagt uns, dieser Heiland sey ein ganz reiner
vollkommener Mensch, vielleicht das Ideal der menschlichen Natur
gewesen, dem sich die Gottheit selbst, auf eine, uns unbegreifliche,
Weise offenbart und mitgetheilet (das Wort vereinigt find’ ich nicht
in der Bibel und ist schon ein Schritt zu weit von unsern Theologen),
den die Gottheit selbst, zu diesem großen Geschäft unterstützt; den die
Gottheit selbst, nach Vollendung desselben belohnt und ihm einen Namen
gegeben, der über alle Namen ist. Dieser Heiland aber, hat uns, außer
seiner Lehre und Beispiel, auch sein Verdienst gelassen, dessen er uns
durch die Sakramente theilhaftig macht. Indem er sich besonders durch
das Sakrament des Abendmals auf eine, zwar unbegreifliche, aber doch
der Vernunft nicht widersprechende, Art, mit uns geistig verbindet,
so daß wir jetzt gleichsam Alle an seiner vollkommnen menschlichen
Natur Antheil nehmen. Die Pflichten des Christenthums aber, laufen
alle dahin zusammen, diese Wahrheiten, die Christus uns verkündigt, zu
glauben, gegen ihn voll Liebe und Dankbarkeit sein Leben immer besser
zu studiren, damit wir ihn immermehr lieben und nachahmen, von ihm aber
(welches die Hauptsache ist) zu Gott, als dem höchsten Gut, hinauf zu
steigen, ihn immer besser erkennen zu lernen, ja, alle Erkenntnisse,
die wir hier erwerben, zu ihm, als dem letzten Ziel zu lenken, um
ihn als die Quelle alles Wahren, Guten und Schönen mit allen Kräften
unserer Seele zu lieben und (das ist die natürliche Folge davon) seinen
Willen auszuüben, d. h. ihn von ferne, im Schatten, nachzuahmen, wie er
ganz Liebe und Wohlthätigkeit gegen das menschliche Geschlecht, so kein
größeres Glück kennen, als Andere glücklich zu machen.
Sehen Sie hier den Extrakt meiner Religion, das Fazit einer
aufmerksamen Lesung der Evangelisten, deren göttliche oder menschliche
Begeisterung ich unausgemacht lasse, und sie bloß als aufrichtige
Erzähler ansehe. Denn dieses ist gut zu wissen, aber nicht verderblich
nicht zu wissen.
Ich habe es für nöthig gehalten, Ihnen den Zustand meiner Seele zu
schildern, damit wir uns ganz kennen lernen. Ich bin also jetzt ein
guter evangelischer Christ, obgleich ich kein orthodoxer bin. Kann
ich in meiner Ueberzeugung weiter kommen, so will ich dem Gott dafür
danken, der es weiß, daß dieses das Lieblingsstudium meiner Seele ist
und ewig bleiben wird.
Doch hoffe ich, niemals Prediger zu werden. Die Ursachen -- da müßt’
ich Ihnen Bogen voll schreiben. Ich fühle mich nicht dazu. Dieß ist
aber kein dunkles, sinnliches -- sondern das Gefühl meines ganzen
Wesens, das mir so gut als Ueberzeugung gilt. -- Aber ich fühle mich
als Ihren Freund
=Lenz=.

13.
=Landau=, den -- Oktober 1772.
Es scheint, daß Sie dazu gemacht sind, mir meine kleinen Systeme
alle zu zerstören und zu schleifen. Kaum habe ich eine recht artige
bunte Seifenblase vor dem Munde, so fahren Sie unbarmherzig drüber
her und lachen mich aus, wenn ich stehe und den Kopf kratze. Ich muß
Ihnen aber auch sagen, daß ich meine Kartenhäuser gern niederreißen
lasse, weil in einer Stunde wieder ein neues da ist. An mir ist von
Kindesbeinen an ein Philosoph verdorben, ich hasche immer nach der
ersten besten Wahrscheinlichkeit, die mir in die Augen flimmert, und
die liebe, bescheiden nackte Wahrheit kommt dann ganz leise von hinten
und hält mir die Augen zu. Eine lange Kette von Ideen, wo eine die
andere gibt, bis man, wenn man eine Weile gereist hat, die letzte
find’t und sich seines Zieles freuen kann, ist für meine Seele eine
wahre Sklavenkette -- wie glücklich bin ich, wieder an Ihrer Hand zu
gehen, wenn ich lange genug auf blumigen Wiesen herumgesprungen. --
Welch’ ein Wust von Allegorien! kann ich doch nicht davor, daß
meine Seele jetzt so gestimmt ist. Mein Hauptsystem bleibt dennoch
unverrückt, und das ist freilich einfach genug, aber darum für meine
Seele zuträglicher, weil sie Pein empfindet, wenn sie sich =lange=
bei Wahrheiten aufhalten soll. Und das ist dieß: es geht mir gut in
der Welt und wird mir in Ewigkeit gut gehen, so lang ich selbst gut
bin, denn ich habe dort oben einen sehr guten Vater, der alles was
er gemacht hat, sehr gut gemacht hat -- und wenn sich dieß letztere
mir nicht allezeit so darstellt, so liegt die Schuld an meinem dummen
Verstande. Eine gewisse Offenbarung bestätigt dieß mein Gefühl -- _tant
mieux_! sie sagt mir, das anscheinend und wirklich Böse, in der Welt,
fange jetzt schon an und solle dereinst ganz aufgehoben werden, und
das hab’ ich dem Sohne Gottes zu danken, ob nun seiner Lehre allein,
oder auch wirklich seinem Verdienste (wenn anders, um von Gott nicht
menschlich zu reden, bei Gott ein Verdienst statt finden kann, denn bei
ihm ist Alles Gnade), _tant mieux_! sage ich, das ist eine schöne frohe
Botschaft (Evangelium); ich glaube sie herzlich gern und freue mich
darüber und dieß, denk’ ich, ist der Glaube, der mich selig machen soll
und schon hier glückselig oder selig macht, denn diese beiden Wörter,
denk’ ich, sind auch eins. So werden wir, denk’ ich, in dem Extrakt
unserer Religion ziemlich nahe bei einander stehen. Freilich haben Sie
in vielen Punkten, die ich mir unterstrichen habe, mich so unter sich
gekriegt, daß ich mich kaum noch rühren kann, in andern bin ich noch
_in suspenso_, als daß Gott gar nichts in uns wirken kann u. a. m.,
wovon ich mündlich mehr mit Ihnen zu reden hoffe.
Das Eine bitte ich mir aus, nicht so verächtlich von dieser Welt zu
sprechen. Sie ist gut, mein Gönner, mit allen ihren eingeschlossenen
Uebeln, das Reich Gottes, wovon Christus immer red’t, ist nicht allein
in jenem Leben zu hoffen, denn er selbst hat uns im Vaterunser beten
gelehrt „dein Wille geschehe im Himmel, wie auf Erden.“ Wenn’s Glück
gut ist, bin ich noch immer ein heimlicher Anhänger vom tausendjährigen
Reiche, wenigstens glaub’ ich gewiß, daß der Zustand unserer Welt nicht
immer derselbe bleiben wird. Und christlich-physisches Uebel muß immer
mehr drin abnehmen, wenn das Moralische darin abnimmt, und das wollt’
ich beinahe beweisen, wenn anders eine Seele, die immer _entrechats_
macht, wie eine Närrin, in ihrem Leben jemals etwas wird beweisen
können.
-- -- Eine Lieblingsidee haben Sie, mein Theurer, und das freut mich,
weil ich auch =eine= habe. So bin ich Ihnen doch in einem Stück
ähnlich, denn, wenn es auf eine Aussicht in eine aneinanderhangende
Reihe von Wahrheiten ankömmt, da kann ich mich mit Ihnen nicht messen.
Wissen Sie worin unsere Lieblingsideen bestehn? Die Ihrige ist -- die
=Liebe= -- und die Meinige, die =Schönheit=. Vielleicht stehn diese,
beide, nahe bei einander, oder fließen gar zusammen -- -- wenn nur
meine Brille schärfer wäre! So viel ist gewiß, daß die letztere die
einzige Idee ist, auf die ich alle andern zu reduziren suche. Aber es
muß die ächte Schönheit seyn, die auf Wahrheit und Güte gegründet ist,
und in der höchsten und faßlichsten Uebereinstimmung -- der Henker
mag sie definiren; ich fühle sie und jag’ ihr nach; freilich tritt
sie mir noch oft hinter eine Wolke, aber ich werde sie einmal finden
-- diese allein kann mein Herz mit Liebe gegen Gott (die Schönheit
_in abstracto_) und gegen alles was geschaffen (die Schönheit _in
concreto_) füllen. Freilich so nach Graden, so wie die Schönheit selber
Grade hat. Da haben Sie meine Brille -- Ihre ist vortrefflich, aber
ich kann noch nicht dadurch sehen, darum sind wir Individua. Genug,
wir passen in das Ganze das Gott geschaffen hat und das ihm gefällt,
so verschieden wie es ist, denn in der Natur sind keine vollkommene
Aehnlichkeiten, sagen die Philosophen. Genug, ich fühle eine Affinität
You have read 1 text from German literature.
Next - Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 5
  • Parts
  • Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 1
    Total number of words is 4105
    Total number of unique words is 1625
    38.5 of words are in the 2000 most common words
    51.3 of words are in the 5000 most common words
    57.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 2
    Total number of words is 4492
    Total number of unique words is 1417
    44.5 of words are in the 2000 most common words
    58.0 of words are in the 5000 most common words
    63.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 3
    Total number of words is 4259
    Total number of unique words is 1449
    39.7 of words are in the 2000 most common words
    53.7 of words are in the 5000 most common words
    59.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 4
    Total number of words is 4415
    Total number of unique words is 1404
    43.1 of words are in the 2000 most common words
    55.3 of words are in the 5000 most common words
    62.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 5
    Total number of words is 4319
    Total number of unique words is 1463
    38.7 of words are in the 2000 most common words
    52.2 of words are in the 5000 most common words
    58.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 6
    Total number of words is 1403
    Total number of unique words is 723
    42.6 of words are in the 2000 most common words
    53.9 of words are in the 5000 most common words
    58.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.