Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 2

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wie gewöhnlich, in den Brunnentrog, patschte drin, wieder heraus und
hinauf in sein Zimmer, wieder hinunter in den Trog, und so einige Mal
-- endlich wurde er still. Meine Mägde, die in dem Kindsstübchen unter
ihm schliefen, sagten, sie hätten oft, insonderheit aber in selbiger
Nacht, ein Brummen gehört, das sie mit nichts als mit dem Ton einer
Habergeise zu vergleichen wüßten. Vielleicht war es sein Winseln mit
hohler, fürchterlicher, verzweifelnder Stimme.
Freitag den 6ten, den Tag nach meiner Zurückkunft, hatte ich
beschlossen, nach Rothau zu Herrn Pfarrer Schweighäuser zu reiten.
Meine Frau gieng mit. Sie war schon fort, und ich im Begriff auch
abzureisen. Aber welch ein Augenblick! Man klopft an meiner Thüre,
und Herr L... tritt herein mit vorwärts gebogenem Leibe, niederwärts
hängendem Haupt, das Gesicht über und über und das Kleid hier und da
mit Asche verschmiert, mit der rechten Hand an dem linken Arm haltend.
Er bat mich, ihm den Arm zu ziehen, er hätte ihn verrenkt, er hätte
sich vom Fenster heruntergestürzt; weil es aber Niemand gesehen, möcht’
ich’s auch Niemand sagen.
Ich that was er wollte, und schrieb eilends an Sebastian Scheidecker,
Schullehrer von Bellefosse, er solle herunter kommen, Herrn L...
hüten. Ich eilte fort. Sebastian kam und richtete seine Commission
unvergleichlich aus, stellte sich, als ob er mit uns hätte reden
wollen, sagte ihm, daß, wenn er wüßte, daß er ihm nicht überlästig
oder von etwas abhielte, wünschte er sehr, einige Stunden in seiner
Gesellschaft zu seyn. Herr L... nahm es mit besonderem Vergnügen an,
und schlug einen Spaziergang nach Fouday vor, -- gut. Er besuchte das
Grab des Kindes, das er hatte erwecken wollen, kniete zu verschiedenen
Malen nieder, küßte die Erde des Grabes, schien betend, doch mit
großer Verwirrung, riß etwas von der auf dem Grabe stehenden Krone
ab, als ein Andenken, gieng wieder zurück gen Waldersbach,[10] kehrte
wieder um, und Sebastian immer mit. Endlich mochte Herr L... die
Absicht seines Begleiters errathen; er suchte Mittel ihn zu entfernen.
Sebastian schien ihm nachzugeben, fand aber heimlich Mittel, seinen
Bruder Martin von der Gefahr zu benachrichtigen, und nun hatte Herr
L... zween Aufseher statt einen. Er zog sie wacker herum; endlich gieng
er nach Waldersbach zurück, und da sie nahe am Dorf waren, kehrte er
wie ein Blitz um, und sprang, ungeachtet seiner Wunde am Fuß, wie ein
Hirsch gen Fouday zurück. Sebastian kam zu uns, um das Vorgegangene zu
berichten, und sein Bruder setzte dem Kranken nach. Indem er ihn zu
Fouday suchte, kamen zwei Krämer und erzählten ihm, man hätte in einem
Hause einen Fremden gebunden, der sich für einen Mörder ausgäbe, und
der Justiz ausgeliefert sein wollte, der aber gewiß kein Mörder sein
könne. Martin lief in das Haus und fand es so; ein junger Mensch hatte
ihn, auf sein ungestümes Anhalten, in der Angst gebunden. Martin band
ihn los und brachte ihn glücklich nach Waldersbach. Er sah verwirrt
aus; da er aber sah, daß ich ihn wie immer freundschaftlich und
liebreich empfieng und behandelte, bekam er wieder Muth, sein Gesicht
veränderte sich vortheilhaftig, er dankte seinen beiden Begleitern
freundlich und zärtlich, und wir brachten den Abend vergnügt zu.
Ich bat ihn inständig nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette
zu bleiben, und wann er nicht schlafen könnte, sich mit Gott zu
unterhalten u. s. w. Er versprach’s, und wirklich that er’s die
folgende Nacht; unsere Mägde hörten ihn fast die ganze Nacht hindurch
beten.
Den folgenden Morgen, Samstag den 7ten, kam er mit vergnügter Miene auf
mein Zimmer. Ich hoffte, wir würden bald am Ende unserer gegenseitigen
Qual seyn; aber leider der Erfolg zeigte was anders.
Nachdem wir Verschiedenes gesprochen hatten, sagte er mir mit
ausnehmender Freundlichkeit: „Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer,
von dem ich ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben -- o, der Engel!“
-- Woher wissen Sie das? -- „Hieroglyphen -- Hieroglyphen!“ -- und dann
gen Himmel geschaut und wieder: „Ja -- gestorben -- Hieroglyphen!“ --
Er schrieb einige Briefe, gab mir sie sodann zu, mit Bitte, ich möchte
noch selbst einige Zeilen darunter setzen.
Ich hatte mit einer Predigt zu thun und steckte die Briefe indessen in
meine Tasche. In dem einen an eine adelige Dame in W. schien er sich
mit Abadonna zu vergleichen; er redete von Abschied. -- Der Brief war
mir unverständlich, auch hatte ich nur einen Augenblick Zeit ihn zu
übersehen, eh ich ihn von mir gab. In dem andern an die Mutter seiner
Geliebten, sagt er, er könne ihr dießmal nicht mehr sagen, als daß ihre
Friedericke nun ein Engel sey und sie würde Satisfaktion bekommen.
Der Tag gieng vergnügt und gut hin. Gegen Abend wurde ich nach
Bellefosse zu einem Patienten geholt. Da ich zurückkam, kam mir Herr
L... entgegen. Es war gelind Wetter und Mondschein. Ich bat ihn, nicht
weit zu gehen und seines Fußes zu schonen. Er versprach’s.
Ich war nun auf meinem Zimmer und wollte ihm Jemand nachschicken, als
ich ihn die Stieg herauf in sein Zimmer gehen hörte. Einen Augenblick
nachher platzte etwas im Hof mit so starkem Schall, daß es mir
unmöglich von dem Fall eines Menschen herkommen zu können schien. Die
Kindsmagd kam todtblaß und am ganzen Leibe zitternd zu meiner Frau:
Herr L... hätte sich zum Fenster hinausgestürzt. Meine Frau rief mir
mit verwirrter Stimme -- ich sprang heraus, und da war Herr L... schon
wieder in seinem Zimmer.
Ich hatte nur einen Augenblick Gelegenheit einer Magd zu sagen: «_Vite,
chez l’homme juré, qu’il me donne deux hommes_,» und hierauf zu Herrn
Lenz.
Ich führte ihn mit freundlichen Worten auf mein Zimmer; er zitterte vor
Frost am ganzen Leibe. Am Oberleib hatte er nichts an als das Hemd,
welches zerrissen und sammt der Unterkleidung über und über kothig war.
Wir wärmten ihm ein Hemd und Schlafrock und trockneten die seinigen.
Wir fanden, daß er in der kurzen Zeit, die er ausgegangen war, wieder
mußte versucht haben sich zu ertränken, aber Gott hatte auch da wieder
gesorgt. Seine Kleidung war durch und durch naß.
Nun, dachte ich, hast du mich genug betrogen, nun mußt du betrogen, nun
ist’s aus, nun mußt du bewacht seyn. Ich wartete mit großer Ungeduld
auf die zwei begehrten Mann. Ich schrieb indessen an meiner Predigt
fort und hatte Herrn L... am Ofen, einen Schritt weit von mir sitzen.
Keinen Augenblick traute ich von ihm, ich mußte harren. Meine Frau, die
um mich besorgt war, blieb auch. Ich hätte so gerne wieder nach den
begehrten Männern geschickt, konnte aber durchaus nicht mit meiner Frau
oder sonst Jemand davon reden; laut, hätte er’s verstanden, heimlich,
das wollten wir nicht, weil die geringste Gelegenheit zu Argwohn auf
solche Personen allzu heftig Eindruck macht. Um halb neun giengen wir
zum Essen; es wurde, wie natürlich, wenig geredet; meine Frau zitterte
vor Schrecken und Herr L... vor Frost und Verwirrung.
Nach kaum viertelstündigem Beisammensitzen fragte er mich, ob er nicht
hinauf in mein Zimmer dürfte? -- Was wollen sie machen, mein Lieber? --
etwas lesen -- gehen Sie in Gottes Namen; -- er gieng, und ich, mich
stellend, als ob ich genug gegessen, folgte ihm.
Wir saßen; ich schrieb, er durchblätterte meine französische Bibel
mit furchtbarer Schnelle, und ward endlich stille. Ich gieng einen
Augenblick in die Stubkammer, ohne im allergeringsten mich aufzuhalten,
nur etwas zu nehmen, das in dem Pult lag. Meine Frau stand inwendig
in der Kammer an der Thür und beobachtete Herrn L...; ich faßte den
Schritt wieder herauszugehen, da schrie meine Frau mit gräßlicher,
hohler, gebrochener Stimme: „Herr Jesus, er will sich erstechen!“
In meinem Leben habe ich keinen solchen Ausdruck eines tödtlichen,
verzweifelten Schreckens gesehen, als in dem Augenblick, in den
verwilderten, gräßlich verzogenen Gesichtszügen meiner Frau.
Ich war haußen. -- Was wollen Sie doch immer machen, mein Lieber? --
Er legte die Scheere hin. -- Er hatte mit scheußlich starren Blicken
umher geschaut, und da er Niemand in der Verwirrung erblickte, die
Scheere still an sich gezogen, mit fest zusammengezogener Faust sie
gegen das Herz gesetzt, alles dieß so schnell, daß nur Gott den Stoß so
lange aufhalten konnte, bis das Geschrei meiner Frau ihn erschreckte
und etwas zu sich selber brachte. Nach einigen Augenblicken nahm ich
die Scheere, gleichsam als in Gedanken und wie ohne Absicht auf ihn,
hinweg; dann, da er mich feierlich versichern wollte, daß er sich nicht
damit umzubringen gedacht hätte, wollte ich nicht thun, als wenn ich
ihm gar nicht glaubte.
Weil alle vorigen Vorstellungen wider seine Entleibungssucht nichts bei
ihm gefruchtet hatten, versuchte ich’s auf eine andere Art. Ich sagte
ihm: Sie waren bei uns durchaus ganz fremd, wir kannten sie ganz und
gar nicht; ihren Namen haben wir ein einzigmal aussprechen hören, ehe
wir Sie gekannt; wir nahmen Sie mit Liebe auf, meine Frau pflegte Ihren
kranken Fuß mit so großer Geduld, und Sie erzeigen uns so viel Böses,
stürzen uns aus einem Schrecken in den andern. -- Er war gerührt,
sprang auf, wollte meine Frau um Verzeihung bitten; sie aber fürchtete
sich nun noch so viel vor ihm, sprang zur Thüre hinaus; er wollte nach,
sie aber hielt die Thüre zu. -- Nun jammerte er, er hätte meine Frau
umgebracht, das Kind umgebracht, so sie trage; Alles, Alles bring’ er
um, wo er hin käme. -- Nein, mein Freund, meine Frau lebt noch und Gott
kann die schädlichen Folgen des Schreckens wohl hemmen, auch würde
ihr Kind nicht davon sterben, noch Schaden leiden. -- Er wurde wieder
ruhiger. Es schlug bald zehn Uhr. Indessen hatte meine Frau in die
Nachbarschaft um schleunige Hülfe geschickt. Man war in den Betten;
doch kam der Schulmeister, that, als ob er mich etwas zu fragen hätte,
erzählte mir etwas aus dem Kalender, und Herr L..., der indessen wieder
munter wurde, nahm auch Theil am Discurs, wie wenn durchaus nichts
vorgefallen wäre.
Endlich winkte man mir, daß die zwei begehrten Männer angekommen -- o
wie war ich so froh! Es war Zeit. Eben begehrte Herr L... zu Bette zu
gehen. Ich sagte ihm: „Lieber Freund, wir lieben Sie, Sie sind davon
überzeugt, und Sie lieben uns, das wissen wir eben so gewiß. Durch Ihre
Entleibung würden Sie Ihren Zustand verschlimmern, nicht verbessern;
es muß uns also an Ihrer Erhaltung gelegen seyn. Nun aber sind Sie,
wenn Sie die Melancholie überfällt, Ihrer nicht Meister; ich habe daher
zwei Männer gebeten in Ihrem Zimmer zu schlafen (wachen dachte ich),
damit Sie Gesellschaft, und wo es nöthig, Hülfe hätten.“ Er ließ sich’s
gefallen.
Man wundere sich nicht, daß ich so sagte, und mit ihm umgieng; er
zeigte immer großen Verstand und ein ausnehmend theilnehmendes Herz;
wenn die Anfälle der Schwermuth vorüber waren, schien alles so sicher
und er selbst war so liebenswürdig, daß man sich fast ein Gewissen
daraus machte, ihn zu argwohnen oder zu geniren. Man setze noch das
zärtlichste Mitleiden hinzu, das seine unermeßliche Qual, deren Zeuge
wir nun so oft gewesen, uns einflößen mußte. Denn fürchterlich und
höllisch war es, was er ausstund, und es durchbohrte und zerschnitt
mir das Herz, wenn ich an seiner Seite die Folgen der Principien,
die so manche heutige Modebücher einflößen, die Folgen seines
Ungehorsams gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart,
seiner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umgangs mit
Frauenzimmern, durchempfinden mußte. Es war mir schrecklich und ich
empfand eigene, nie empfundene Marter, wenn er, auf den Knieen liegend,
seine Hand in meiner, seinen Kopf auf meinem Knie gestützt, sein
blasses, mit kaltem Schweiß bedecktes Gesicht in meinen Schlafrock
verhüllt, am ganzen Leibe bebend und zitternd; wenn er so, nicht
beichtete, aber die Ausflüsse seines gemarterten Gewissens und
unbefriedigten Sehnsucht nicht zurückhalten konnte. -- Er war mir um so
bedauerungswürdiger, je schwerer ihm zu seiner Beruhigung beizukommen
war, da unsere gegenseitigen Principien einander gewaltig zuwider,
wenigstens von einander verschieden schienen.
Nun wieder zur Sache: Ich sagte, er ließ sich’s gefallen, zwei Männer
auf seinem Zimmer zu haben. Ich begleitete ihn hinein. Der eine
seiner Wächter durchschaute ihn mit starren, erschrockenen Augen. Um
diesen etwas zu beruhigen, sagte ich dem Herrn L... nun vor den zwei
Wächtern auf Französisch, was ich ihm schon auf meinem Zimmer gesagt
hatte, nämlich, daß ich ihn liebte, so wie er mich; daß ich seine
Erhaltung wünschte und wünschen müßte, da er selbst sähe, daß ihm die
Anfälle seiner Melancholie fast keine Macht mehr über ihn ließen; ich
hätte daher diese zwei Bürger gebeten bei ihm zu schlafen, damit er
Gesellschaft und, im Fall der Noth, Hülfe hätte. Ich beschloß dieß mit
einigen Küssen, die ich dem unglücklichen Jüngling von ganzem Herzen
auf den Mund drückte, und gieng mit zerschlagenen, zitternden Gliedern
zur Ruhe.
Da er im Bett war, sagte er unter Anderm zu seinen Wächtern: «_Ecoutez,
nous ne voulons point faire de bruit, si vous avez un couteau,
donnez-le moi tranquillement et sans rien craindre._» Nachdem er oft
deßwegen in sie gesetzt und nichts zu erhalten war, so fieng er an
sich den Kopf an die Wand zu stoßen. Während dem Schlaf hörten wir ein
öfteres Poltern, das uns bald zu-, bald abzunehmen schien, und wovon
wir endlich erwachten. Wir glaubten, es wäre auf der Bühne, konnten
aber keine Ursache davon errathen. -- Es schlug drei, und das Poltern
währte fort; wir schellten, um ein Licht zu bekommen; unsere Leute
waren alle in fürchterlichen Träumen versenkt und hatten Mühe sich
zu ermuntern. Endlich erfuhren wir, daß das Poltern von Herrn L...
käme und zum Theil von den Wächtern, die, weil sie ihn nicht aus den
Händen lassen durften, durch Stampfen auf den Boden Hülfe begehrten.
Ich eilte auf sein Zimmer. So bald er mich sah, hörte er auf sich den
Wächtern aus den Händen ringen zu wollen. Die Wächter ließen dann auch
nach ihn festzuhalten. Ich winkte ihnen ihn frei zu lassen, saß auf
sein Bette, redete mit ihm, und auf sein Begehren, für ihn zu beten,
betete ich mit ihm. Er bewegte sich ein wenig, und einsmals schmiß er
seinen Kopf mit großer Gewalt an die Wand; die Wächter sprangen zu und
hielten ihn wieder.
Ich gieng und ließ einen dritten Wächter rufen. Da Herr L... den
dritten sah, spottete er ihrer, sie würden alle drei nicht stark genug
für ihn seyn.
Ich befahl nun in’s geheime mein Wäglein einzurichten, zu decken, noch
zwei Pferde zu suchen zu dem meinigen, beschickte Seb. Scheidecker,
Schullehrer von Bellefosse, und Johann David Bohy, Schullehrer von
Solb, zween verständige, entschlossene Männer und beide von Herrn L...
geliebt. Johann Georg Claude, Kirchenpfleger von Waldersbach, kam auch;
es wurde lebendig im Haus, ob es schon noch nicht Tag war. Herr L...
merkte was, und so sehr er bald List, bald Gewalt angewendet hatte los
zu kommen, den Kopf zu zerschmettern, ein Messer zu bekommen, so ruhig
schien er auf einmal.
Nachdem ich alles bestellt hatte, gieng ich zu Herrn L..., sagte ihm,
damit er bessere Verpflegung nach seinen Umständen haben könnte, hätte
ich einige Männer gebeten, ihn nach Straßburg zu begleiten, und mein
Wäglein stünde ihm dabei zu Diensten.
Er lag ruhig, hatte nur einen einzigen Wächter bei sich sitzen. Auf
meinen Vortrag jammerte er, bat mich nur noch acht Tage mit ihm Geduld
zu haben (man mußte weinen, wenn man ihn sah). -- Doch sprach er, er
wolle es überlegen. Eine Viertelstunde darauf ließ er mir sagen: Ja,
er wolle verreisen, stund auf, kleidete sich an, war ganz vernünftig,
packte zusammen, dankte Jedem in’s Besondere auf das Zärtlichste,
auch seinen Wächtern, suchte meine Frau und Mägde auf, die sich vor
ihm versteckt und stille hielten, weil kurz vorher noch, so bald er
nur eine Weiberstimme hörte oder zu hören glaubte, er in größere Wuth
gerieth. Nun fragte er nach Allen, dankte Allen, bat Alle um Vergebung,
kurz, nahm von Jedem so rührenden Abschied, daß Aller Augen in Thränen
gebadet stunden.
Und so reiste dieser bedauerungswürdige Jüngling von uns ab, mit drei
Begleitern und zwei Fuhrleuten. Auf der Reise wandte er nirgends keine
Gewalt an, da er sich übermannt sah; aber wohl List, besonders zu
Ensisheim, wo sie über Nacht blieben. Aber die beiden Schulmeister
erwiederten seine listige Höflichkeit mit der ihrigen, und Alles gieng
vortrefflich wohl aus.
So oft wir reden, wird von uns geurtheilt, will geschweigen, wenn wir
handeln. Hier schon fällt man verschiedene Urtheile von uns; die Einen
sagten: wir hätten ihn gar nicht aufnehmen sollen, -- die Andern: wir
hätten ihn nicht so lange behalten, -- und die Dritten: wir hätten ihn
noch nicht fortschicken sollen.
So wird es, denke ich, zu Straßburg auch sein. Jeder urtheilt nach
seinem besonderen Temperament (und anders kann er nicht) und nach der
Vorstellung, die er sich von der ganzen Sache macht; die aber unmöglich
getreu und richtig sein kann, wenigstens mußten unendlich viele
Kettengleiche darin fehlen, ohne die man kein richtig Urtheil fällen
kann, die aber außer uns nur Gott bekannt seyn und werden können; weil
es unmöglich wäre sie getreu zu beschreiben, und doch oft in einem Ton,
in einem Blick, der nicht beschrieben werden kann, etwas steckt, das
mehr bedeutet, als vorhergegangene erzählbare Handlungen.
Alles, was ich auf die nun, auch die zu erwartenden, einander
zuwiderlaufenden, sich selbst bestreitenden Urtheile antworten werde,
ist: Alles, was wir hierin gethan, haben wir vor Gott gethan, und so,
wie wir jedesmal allen Umständen nach glaubten, daß es das Beste wäre.
Ich empfehle den bedauerungswürdigen Patienten der Fürbitte meiner
Gemeinen und empfehle ihn in der nämlichen Absicht Jedem, der dieß
liest.[11]“
* * * * *
In Straßburg blieb Lenz einige Wochen und gieng sodann nach
Emmendingen, wo er den Tod von Schlosser’s Gattin, Göthe’s Schwester,
erfuhr, was seine reizbare Seele von Neuem heftig ergriff. „Lenz
ist bei mir,“ schreibt =Schlosser= an =Oberlin= (2. März 1778) „und
drückt mich erstaunlich. Ich habe gefunden, daß seine Krankheit eine
wahre Hypochondrie ist. Ich habe ihm heut eine Proposition gethan,
wodurch ich ihn gewiß curiren würde. Aber er ist wie ein Kind, keines
Entschlusses fähig; ungläubig gegen Gott und Menschen. Zweimal hat er
mir große Angst eingejagt; sonst ist er zwischen der Zeit ruhig. Ich
würde Euch mit mehr Freiheit schreiben, wenn er nicht da wäre, aber er
schlägt mich mit Fäusten und verengt mein armes Herz.“ Wie dankbar Lenz
Schlosser’s freundschaftliche Bemühungen anerkannte, sagen folgende
Verse, die aus jener Zeit herrühren:
Wie freundlich trägst du mich auf deinem grünen Rücken,
Uralter Rhein,
Wie suchest du mein Aug’ empfindlich zu erquicken
Durch Ufer voller Wein,
Und hab ich doch die tausend Lustgestalten
Tief im Gedächtniß zu behalten.
Nun weder Dinte noch Papier,
Nur dieses Herz, das sich empfindet hier!
Es scheinet fast, du liebest, Allzugroßer,
Nicht mehr der Maler Prunk, der Dichter Klang,
Es scheint, du willst, wie =Schlosser=,
Nur stummen Dank.
Der Wahnsinn des Unglücklichen brach in Schlosser’s Hause mit solcher
Heftigkeit aus, daß man ihn in Ketten legen mußte.[12] Schlosser
übergab ihn einem Schuster in der Nachbarschaft zur Pflege. Er wurde
ruhiger und erlernte von ihm das Schusterhandwerk. Er schloß sich in
schwärmerischer Liebe an einen jungen Gesellen, Namens Konrad, an, der
sich aber nach drei Monaten auf die Wanderschaft begeben mußte. Diese
Trennung schmerzte Lenz auf’s Tiefste. Die rührenden Briefe, welche er
deswegen an =Sarasin= in Basel richtete, theilt Tieck mit. Ich lasse
sie hier folgen; sie sind gewiß manchem Leser noch unbekannt und werden
durch ihren wehmüthigen Ton und kindlichen Sinn sein inniges Mitgefühl
erregen. Merkwürdig contrastiren sie mit denjenigen an Salzmann: Hier
erscheint er leidend, zutrauensvoll, bittend; dort, seiner Kraft
bewußt, stürmisch und leidenschaftlich.

1.
„Lieber Herr S. Es freut mich, daß ich Ihnen wieder schreiben kann.
Ich habe eine große Bitte an Sie, die Sie mir nicht abschlagen werden:
daß Sie so gütig sind, und meinem besten Freunde und Kameraden, dem
Herrn Konrad Süß, doch einen Meister verschaffen, wenn er außer der
Zeit nach Basel kommt, weil jetzt die Handwerksburschen stark gehen,
und ich den Herrn Hofrath[13] bitten will, daß er seinem Vater zureden
soll, ihn noch länger als Johannis bei sich zu behalten, damit ich
die Schusterei bei ihm fortlernen kann, die ich angefangen habe, und
er ohnedem bei seinem Herrn Vater und mir viel versäumt. Es wird das
nicht schwer fallen, da er gewiß ein guter und fleißiger Arbeiter und
sonst wohlerzogenes Kind ist, und Sie werden mich dadurch aus vieler
Noth retten, die ich Ihnen nicht sagen kann. Ausgehen ist mir noch
nicht gesund, und was würd’ ich anfangen, wenn er auch fortgienge, da
ich gewiß wieder in meine vorige Krankheit verfallen müßte. Hier bin
ich dem Herrn Hofrath gegenüber, und ist mir so wohl, bis es besser
mit mir wird. Wenn es nur einige Wochen nach Johannis sein könnte!
Melden Sie mir doch, ob sich dort keine Meister finden, die auf die
Zeit einen Gesellen brauchen. Wenn Sie nur wollten probiren, sich von
ihm Schuhe machen zu lassen, ich bin versichert, daß er sie gut machen
wird; besonders wenn er einige Zeit in Basel gewesen, und weiß, wie Sie
sie gerne tragen. Fleißig ist er gewiß, davon bin ich Zeuge, und er
arbeitet recht nett, besonders wenn er sie angreift. Viel tausend Grüße
an Ihre Frau Gemahlin und an den Herrn Hofmeister und an die Kleinen.
Ich bin bis an’s Ende Ihr gehorsamer Freund und Diener
=Lenz=.“
„Er soll jetzt das erstemal auf die Wanderschaft, und ich bin jetzt bei
seinen Eltern ein Vierteljahr lang wie das Kind im Hause gewesen. Er
ist mein Schlafkamerad und wir sitzen den ganzen Tag zusammen. Thun Sie
es doch, bester Herr Sarassin, lieber Herr Sarassin, es wird Sie nicht
gereuen. =Emmedingen=, einige Tage vor Johanni 1778. Ich könnte mich
gewiß nicht wieder so an einen Andern gewöhnen, denn er ist mir wie ein
Bruder.“

2.
„Lieber Herr S. Ich habe ein großes Anliegen; ich weiß, daß Sie meine
Bitte erhören werden. Es betrifft meinen Bruder Konrad, der für mich
auf der Wanderschaft ist: daß Sie ihm dazu verhelfen, daß er für Sie
in der Fremde arbeiten kann. Er war schon fort, als ich Ihr werthes
Schreiben erhielt, und seine Abreise war so plötzlich und unvermuthet,
daß ich ihm kein Briefchen an Sie mitgeben konnte. Seitdem hab’ ich
immer auf Nachricht von ihm gewartet, bis er endlich schrieb, daß er in
Basel keine Arbeit bekommen, sondern in Arlesheim, einem katholischen
Orte, anderthalb Stunden von Basel. Nun hab’ ich kein Anliegen auf
der Welt, das mich mehr bekümmert, als wenn ich nur so glücklich sein
könnte zu hören, daß er bei Ihrem Schuhmacher wäre, und Ihnen arbeiten
thäte. Das würde mich in kurzer Zeit gesund machen. Erzeigen Sie mir
diese Freundschaft und Güte. Die Freude und der Trost, den ich daran
haben werde, wird unaussprechlich seyn: denn das Wasser[14] allein
hilft mir nicht, wenn meine Freunde nicht mit wollen dazu beitragen.
Ich kann Ihnen das nicht so beschreiben, warum ich so ernstlich darum
bitte: er ist auf Mannsschuhe besprochen, und ich hoffe, wenn er nur
erst Ihre Gedanken weiß, wie Sie’s gerne tragen, Sie werden gewiß
mit seiner Arbeit zufrieden sein, wenn auch das erste Paar nicht
gleich gerathen sollte. Herr Süß hat mir versprochen, so bald Sie ihn
unterbringen, soll er seinem Meister in Arlesheim aufkündigen; und ich
bin versichert, er wird es aus Liebe für mich thun, und aus Liebe für
sich selbst, welches einerlei ist: denn ich werde keine ruhige Stunde
haben, wenn er an dem katholischen Orte bleibt, und wenn er jetzt schon
weiter wandern sollte in der großen Hitze, das würde mir auch keine
Ruhe lassen.
Es freut mich recht sehr, daß Sie wieder einen Hofmeister haben und
Ihre Frau Gemahlin sich gesegneten Leibes befindet. Gott wolle ihr eine
glückliche Entbindung schenken, daß Ihre Freude vollendet werde, und
Sie auf dieser Welt nichts mehr zu wünschen haben mögen. Dann werde ich
auch gesund werden, und wenn der Konrad für Sie arbeitet.
Weiter weiß ich nichts zu schreiben, als, ich gehe alle Morgen mit
meinem lieben Herrn Süß spazieren, und bekomme auch alle Tage den Herrn
Hofrath zu sehen. Nun fehlt mir nichts, als daß es Alles so bleibt,
und Gott meine Wünsche erhört, und Sie meine Bitte erfüllen, daß der
arme Konrad wieder zu seinen Glaubensgenossen kommt. Und ich verharre
unaufhörlich und zu allen Zeiten
Ihr
bereitwilliger Diener und gehorsamer Freund,
J. M. R. =Lenz=.“
„Ich trage Ihren Brief immer bei mir, und überlese ihn oft: er hat mir
eine große Freude gemacht, und daß Sie sich auch meines Konrad’s so
annehmen.“

3.
„Ich kann in der Eile Ihnen, theurer Herr und Gönner, nichts schreiben
als hundertfältigen Dank, für die Freundschaft und Güte, die Sie für
mich und meinen lieben Konrad haben, an den ich mir die Freiheit nehme,
einige Zeilen mit beizulegen, und Ihnen zu melden, daß ich jetzt nach
Wiswyll hinaus reisen soll, wo ich brav werde Bewegung machen können,
mit der Jagd und Feldarbeit. Ich bin so voller Freude über so viele
glückliche Sachen, die alle nach meines Herzens Wunsch ausgeschlagen
sind, daß ich für Freude nichts Rechtes zu sagen weiß, als Sie zu
bitten, daß Sie doch so gütig sind und Ihr Versprechen erfüllen, dem
ehrlichen Konrad für Sie Arbeit zu geben, weil es mir nicht genug
ist, wenn er bei Ihrem Meister Schuhmacher ist, und nicht auch für
Sie arbeitet. Verzeihen Sie meine Dreistigkeit, ich bitte doch um
Nachricht von Ihnen und Ihrer Familie, auch nach Wiswyll. Zwar ist
der Herr Hofrath jetzt nach Frankfurt verreist; der Konrad wird mir
aber Ihr Briefchen schon durch seinen Vater zuschicken: ich werde wohl
einige Zeit ausbleiben. Hunderttausend Grüße Ihrer Frau Gemahlin und
sämmtlichen Angehörigen.
Ihr gehorsamer Freund und Diener
=Lenz=.“

4.
„Eben jetzt, theurer Gönner, erhalte ich noch den Brief von Konrad zu
dem Ihrigen und muß hunderttausend Dank wiederholen, daß Sie so gütig
sind, und für uns beide so viel Sorge tragen, und sich auch nach mir
erkundigen wollen. Auch Herr Süß und seine Frau haben mir aufgetragen,
Ihnen doch recht viele Danksagungen zu machen, für die Güte, die Sie
für ihren Sohn gehabt, und daß der Herr Hofrath nach Frankfurt verreist
sey, sonst würden sie es auch durch ihn haben thun lassen. Gott wolle
Ihnen alles das auf andere Art wieder vergelten, was Sie mir für Freude
gemacht haben. Ich habe jetzt auf lange Zeit genug an des Konrad’s
Brief, den ich im Walde recht werde studiren können. Sagen Sie nur
dem Konrad, er soll Wort halten und seine Eltern vor Augen haben, am
meisten aber Sie, seinen Wohlthäter, und dann auch den Herrn Hofrath
Sch., und dann auch mich, und meinen Zustand der Zeit her, daß es ihm
nicht auch so ergehe, wenn er nicht folgt. Sey’n Sie hunderttausend Mal
gegrüßt alle zusammen, nochmals von Ihrem gehorsamsten
=Lenz=.“
Lenz brachte, ehe er nach Emmendingen kam, einige Monate im obern
Elsaße zu, bei dem ehrwürdigen Patriarchen des Thals, Pfarrer =Luce=,
der durch seine lieblichen Beiträge im =alsatischen Taschenbuche=
bekannt ist. In Kolmar erfreute er sich =Pfeffel=’s Umgang, und
besuchte ihn öfters. Pfeffel schrieb, nachdem er durch Oberlin von
jenen unglücklichen Verirrungen Nachricht erhalten hatte, an diesen:
(25. Hornung 1778) „=Lenz= schrieb uns erst heute von Emmendingen aus,
er habe eine weite Reise vor und wolle uns zuvor noch besuchen. Unser
Mitleid für den armen Menschen übersteigt allen Ausdruck.“ In Freiburg
verkehrte er mit =Jakobi=, dem er Beiträge für seine Iris lieferte.[15]
Der Wahnsinn des Unglücklichen hatte nach und nach eine mildere Gestalt
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