Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim - 1

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DER DICHTER LENZ UND FRIEDERICKE VON SESENHEIM.
Aus Briefen und gleichzeitigen Quellen;
nebst Gedichten und Anderm von Lenz und Göthe.
Herausgegeben von
AUGUST STÖBER.



Basel,
Druck und Verlag der =Schweighauser=’schen Buchhandlung.
1842.


Vorwort.

Das Sesenheimer Idyll, =Göthe’s= und =Friedericke’s= Liebe, hat von
jeher die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich gezogen und bei
mancher empfindsamen Seele das tiefste Mitgefühl erregt. Die Schuld
oder Schuldlosigkeit, welche Göthe in dieser Geschichte hat, gab
namentlich in neuerer Zeit zu leidenschaftlichen Streitigkeiten
Anlaß, und je nachdem man sich auf die eine oder auf die andere Seite
schlug, fühlte man sich für oder wider den ganzen Menschen gestimmt.
Neben der Göthe-Literatur ist eine Friedericken-Literatur, sowohl in
einzelnen Werkchen, als in Zeitungsartikeln, und dieß besonders in
der Allgemeinen Leitung, entstanden. Auch den Namen des unglücklichen
Dichters =Lenz= hat man dabei genannt; aber von Friedericke’s
Vertheidigern ist mit Entschiedenheit jedes entehrende Verhältniß
zwischen Beiden abgewiesen worden. In allen Literaturgeschichten, wo
von Lenz die Rede ist, wird von dessen Wahnsinne gesprochen, allein
der wahren Quelle desselben nicht erwähnt. Nachfolgende Mittheilungen
geben darüber Aufschluß. Daß Lenz, nach Göthe’s Abreise aus dem Elsaße,
nach Sesenheim kam, berührt Göthe selbst; er sah Friedericke auf der
Rückreise aus der Schweiz wieder und sagt von diesem Wiedersehen:
„Ich finde Friedericke Brion wenig verändert, noch so gut, liebevoll,
zutraulich wie sonst, gefaßt und selbstständig. Der größte Theil der
Unterhaltung war über Lenzen. Dieser hatte sich nach meiner Abreise im
Hause introducirt, von mir was nur möglich war, zu erfahren gesucht,
bis sie endlich, da er sich die größte Mühe gab, meine Briefe zu
sehen und zu erhaschen, mißtrauisch geworden. Er hatte sich indessen
nach seiner gewöhnlichen Weise verliebt in sie gestellt, weil er
glaubte, das sei der einzige Weg hinter die Geheimnisse der Mädchen
zu kommen, und da sie nunmehr gewarnt, scheu seine Besuche ablehnt,
und sich mehr zurückzieht, so treibt er es bis zu den lächerlichsten
Demonstrationen des Selbstmords, da man ihn dann halbtoll erklären und
nach der Stadt schaffen kann. Sie klärt mich über die Absicht auf, die
er gehabt hat mir zu schaden, und mich in der öffentlichen Meinung
und sonst zu Grunde zu richten, weshalb er denn auch damals die Farce
gegen Wieland drucken lassen.“ -- Daß Lenz von Friedericke’s Liebe
überzeugt war, davon geben die Briefe an Salzmann genugsame Beweise;
daß er wegen ihrer wahnsinnig geworden, darüber berichtet Oberlin’s
Aufsatz. Ob Friedericke ihm ebenfalls geneigt war, oder ob er sich
selbst getäuscht und ihre Gegenliebe nur eine eingebildete war, das
möge der Leser entscheiden. Wie hoch Lenz Göthe als Mensch und Dichter
stellte, sagen seine Schriften. In Straßburg besaß ich ein Exemplar von
Shakspeare’s Othello, welches Göthe Lenz zum Geschenke gemacht hatte;
unter die hierauf bezüglichen Worte Göthe’s, die also lauten: „Seinem
und Shakspeare’s würdigem Freunde Lenz, Göthe“, hatte Lenz geschrieben:
„Ewig, ewig bleibt mein Herze dein, mein lieber Göthe!“ und bei Göthe’s
Abschied sang er:
Ihr stummen Bäume, meine Zeugen,
Ach! käm er ohngefähr
Hier, wo wir saßen, wieder her,
Könnt ihr von meinen Thränen schweigen?
Dieß Alles ward vor Lenz’s Erscheinen in Sesenheim geschrieben; nach
demselben nahm die Sache eine andere Wendung. Lenz beneidete nicht
nur Göthe’s Liebe, sondern auch seinen Ruhm, worüber sich Göthe, außer
der angeführten Stelle, sonst noch mehrere Male in seiner Dichtung und
Wahrheit ausspricht.
Die Briefe von Lenz an Salzmann habe ich schon 1831 im Morgenblatte
(Nr. 250 bis 295), jedoch nur stellenweise abdrucken lassen; hier
erscheinen sie vollständig, nebst einigen dort nicht vorkommenden, und
diplomatisch genau wiedergegeben, wie sie sich in Salzmann’s Nachlasse,
auf der Straßburger Stadtbibliothek, befinden. In derselben Schachtel,
in welcher sie liegen, sind auch Göthe’s Briefe an Salzmann aufbewahrt,
welche Moritz Engelhardt im Morgenblatt veröffentlicht hat.
Diese Briefe, nebst Oberlin’s Aufsatz über des armen Lenz Aufenthalt
im Steinthale, füllen die Lücke aus, welche sich in L. Tieck’s[1]
biographischen Notizen über Lenz vorfindet und geben über manche
Leistungen des Dichters Aufschluß. Die Mittheilungen über die
Straßburger gelehrte Gesellschaft, unter Salzmanns Vorsitze, habe
ich dem Protokoll der Gesellschaft selbst entnommen, von welchem mir
eine getreue Abschrift vorliegt. Als Zugabe folgen einige Gedichte
von Lenz, welche Tieck übergangen hat; so wie =Göthe’s= ursprüngliche
Uebersetzung von =Ossians= Gesang von =Selma=, im Werther, und Gedichte
an =Friedericke=.
=Mülhausen=, im Oberelsaß, Ende Jänner 1842.
Der Herausgeber.


Inhalt.

Seite.
=Vorwort= III-VII.
I. =Lenz= im Elsaß 1
II. =Briefe= von Lenz an den Aktuar =Salzmann= 48
III. =Gedichte= von Lenz 85
IV. =Göthe’s= ursprüngliche Uebersetzung der Ossianischen
Gesänge von Selma 95
V. =Gedichte= von Göthe an Friedericke 109
_Fac simile_ von Göthe.


Das =Titelbild= stellt das Sesenheimer Pfarrhaus vor, wie es zu Göthe’s
Zeit und noch bis vor wenigen Jahren stand; es ist von der Hofseite
genommen; das untere Zimmer links am Garten, war die Wohnstube; das
letzte obere, rechts, das Fremdenzimmer, von Göthe bewohnt. Das Bild
ist nach einem Oelgemälde gemacht, das ein Freund des Herausgebers
verfertigt; nach demselben ist auch der Holzschnitt in Lewald’s
=Europa= genommen.
D. H.


I. Lenz im Elsaß.

„Er stößt mich eben so sehr ab, als er mich anzieht;
so zart, rührend, kräftig, ja groß er zu Zeiten sein
kann, so klein, widerwärtig und roh erscheint er dann
wieder, und zwar aus Willkür, um mit dem Enthusiasmus
ein verhöhnendes Spiel, und mit dem Spiele selbst ein
anderes, ganz außer der Poesie liegendes zu treiben,
welches dieses und jede Poesie vernichtet.“
=L. Tieck=, Einleitung zu Lenz’s Schriften.
=Jakob Michael Reinhold Lenz= wurde zu Seßwigen in Liefland den 12.
Jänner 1750 geboren. Er studirte 1768 in Königsberg, und begab sich
von da aus nach Berlin, wo er mit Ramler und Nicolai verkehrte. Im
Jahr 1771 begleitete er einen jungen Edelmann, Herrn von Kleist,
nach der damals weit berühmten, alten Universität Straßburg. Hier
verband er sich auf’s Innigste mit seinem =guten Sokrates=, dem
freundlichen, gemüthreichen =Aktuarius Salzmann=[2], von welchem
Göthe und Jung-Stilling in ihren Selbstbiographien mit so vieler
Ehrfurcht sprechen. Salzmann hatte einen Kreis talentvoller Jünglinge
um sich her versammelt, deren literarische Arbeiten er leitete. Die
heiterste Lebensphilosophie, verbunden mit reichen, vielseitigen
Kenntnissen, einem richtigen Blick und feinem Geschmacke gewannen ihm
bald alle Herzen. Besonders Lenz, dessen Geist sich in diesem Zirkel
schwärmerisch allen Eindrücken des Schönen aufschloß, gewann ihn für
das Leben lieb. Auch Herder, Stilling und Lerse lernte er hier kennen,
und was für sein Dichten von bedeutenderm Einflusse war, Göthe. Es
gieng ihm eine neue, schönere Welt auf. Shakspeare namentlich übte auf
die jungen Gemüther einen mächtigen Zauber aus. Göthe äußert sich in
dieser Hinsicht also: „Will jemand unmittelbar erfahren, was damals
in dieser lebendigen Gesellschaft gedacht, gesprochen und verhandelt
worden, der lese den Aufsatz =Herder=’s über Shakspeare, in dem Heft
von deutscher Art und Kunst; ferner Lenzens Bemerkungen über das
Theater, denen eine Uebersetzung von _Lowe’s labours lost_ hinzugefügt
war. Herder dringt in das Tiefere von Shakspeare’s Wesen und stellt
es herrlich dar; =Lenz= beträgt sich mehr bilderstürmerisch gegen die
Herkömmlichkeit des Theaters, und will denn eben all und überall nach
Shakspeare’scher Weise gehandelt haben. Da ich diesen so talentvollen
als seltsamen Menschen hier zu erwähnen veranlaßt werde, so ist wohl
der Ort, versuchsweise, einiges über ihn zu sagen. Ich lernte ihn erst
gegen das Ende meines Straßburger Aufenthaltes kennen. Wir sahen
uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten
doch Gelegenheit uns zu treffen, und theilten uns einander gern mit,
weil wir, als gleichzeitige Jünglinge, ähnliche Gesinnungen hegten.
Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen
zierlicher Form etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue
Augen, blonde Haare, kurz ein Persönchen, wie mir unter nordischen
Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleichsam
vorsichtigen Schritt, eine angenehme nicht ganz fließende Sprache,
und ein Betragen, das zwischen Zurückhaltung und Schüchternheit sich
bewegend, einem jungen Manne gar wohl anstand. Kleinere Gedichte,
besonders seine eigenen, las er sehr gut vor, und schrieb eine
fließende Hand. Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische
Wort _whimsical_, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar manche
Seltsamkeiten in Einem Begriff zusammenfaßt. Niemand war vielleicht
eben deßwegen fähiger als er, die Abschweifungen und Auswüchse des
Shakspear’schen Genies zu empfinden und nachzubilden. Die obengedachte
Uebersetzung giebt ein Zeugniß hievon. Er behandelt seinen Autor mit
großer Freiheit, ist nichts weniger als knapp und treu, aber er weiß
sich die Rüstung oder vielmehr die Possenjacke seines Vorgängers so gut
anzupassen, sich seinen Gebärden so humoristisch gleichzustellen, daß
er demjenigen, den solche Dinge anmutheten, gewiß Beifall abgewann.“
Im Sommer 1772 verließ Lenz Straßburg und zog mit Herrn von Kleist
nach Fort-Louis, einer jetzt zerstörten Inselfestung auf dem Rheine.
In der Nähe liegt =Sesenheim=; Lenz machte die Bekanntschaft des
Pfarrers =Brion=[3], und wurde von der patriarchalischen Familie auf’s
Freundschaftlichste aufgenommen. =Friedericke’s= liebliche Gestalt
trat ihm entgegen und fesselte ihn mit unauflöslichen Banden. Er trank
einen vollen Kelch der süßesten Wonne, die sich leider in der Folge in
den bittersten Schmerz verwandelte und seine Seele mit jenem tiefen
Gram erfüllte, der sie verzehrte. Der Gedanke an Sie absorbirte ihn
ganz; in ihm giengen alle andern Gedanken unter und nur das Studium
seiner beiden Lieblingsdichter Plautus und Shakspeare, die er mit
schwärmerischer Verehrung las, studirte und bearbeitete, brachte ihn
wieder, auf Augenblicke wenigstens, zu sich selbst zurück. Sein Sinnen
und Dichten, in Licht und Schatten, sind aus seinem Gemüthszustande in
jener Zeit erklärlich. Gegen das Spätjahr 1772 begab sich Lenz nach
Landau, und kehrte hierauf, wie es schien, mit erneuetem Lebensmuthe
nach Straßburg zurück, wo er, einige Zwischenreisen ausgenommen, bis in
den März 1776 blieb.
Salzmann hatte den 2. November 1775 eine neue Gesellschaft „zur
Ausbildung der deutschen Sprache“ gegründet. Das Protokoll der
Sitzungen beginnt also: „Den 2. November des Jahres 1775 ist unter
göttlichem Beistande zu der Eröffnung einer Gesellschaft deutscher
Sprache in dem Hause des Herrn Aktuarius Salzmann, gegenüber dem
Rathhause, Nachmittags um 3 Uhr, geschritten worden.“ Lenz hielt, als
Sekretär, eine Anrede an die Mitglieder „über die Vortheile einer
Verbindung dieser Art zu einer hoffentlich zu erwartenden allgemeinen
deutschen Sprache“, und hat darin zu zeigen gesucht, wie sehr eine
Provinz von ihren Rechten vergebe, wenn sie die Ausbildung des
sogenannten Hochdeutschen, einer einzigen Provinz oder einem einzigen
Kreise Deutschlands überließe. Tieck hat diese Anrede aufbewahrt
(Lenz, Schriften Th. II. S. 326 u. ff.). Lenz war das thätigste
Mitglied dieses Vereins, mit dem er auch =Michaelis= von Göttingen und
=Schlosser= von Emmendingen, in Verbindung brachte. Er gab folgende
Beiträge, von welchen sich die mit * bezeichneten in Tieck’s Ausgabe
seiner Schriften vorfinden:
1.* Anrede an die Gesellschaft (S. oben).
2.* Vorzüge der deutschen vor der französischen Sprache.
3.* Ueber die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, Breisgau
und den benachbarten Gegenden.
4. Nachahmung von _Plautus Captirei_.
5.* Die beiden Alten, ein Familiengemälde (dramatisch), nach einer
Zeitungsanekdote.
6. Ballade aus Dodley’s Sammlung altenglischer Gedichte.
7.* Neujahrsgedicht.
8.* Etwas über die Veränderung des Theaters beim Shakspeare.
9. Etwas über den Charakter des Sokrates, aus dem Xenophon.
10. Briefe über die Moralität des jungen Werthers.
11. Koriolan von Shakspeare.
Die merkwürdigsten unter den übrigen Mitgliedern waren, außer Salzmann,
der das Präsidium führte, Magister =Leypold=[4] (1730 zu Straßburg
geboren, gestorben als Professor am Gymnasium daselbst 1792), ein
Schützling Schöpflin’s, auf dessen Veranlassung er gelehrte Reisen
nach Italien, der Schweiz und nach Holland machte; ein gründlicher
Philologe und geschmackvoller Dichter; als Republikaner eifrig und
seine Schüler für wahre Vaterlandsliebe begeisternd; übrigens ein
Original, von dem noch jetzt die drolligsten Anekdoten kreisen. Er
trug in der Gesellschaft eine Charakteristik von Sebastian Brant’s
Narrenschiff vor. -- Dr. =J. Lorenz Blessig=, Professor der Theologie
(gestorben 1816), als anregender Lehrer der akademischen Jugend und
geistlicher Redner ausgezeichnet. -- Der gelehrte, geistreiche Dr.
=Isaac Haffner= (gest. 1831), zuletzt Dekan der theologischen Fakultät
zu Straßburg, dessen Predigten, hinsichtlich der Form, als klassische
Muster anerkannt sind. -- =Johannes von Türkheim=, dessen Geschichte
von Hessen, in drei Theilen, berühmt geworden. -- =Otto=, ein Gehülfe
des Philologen Brunk, ein Mann von großem politischem Einflusse;
zuletzt französischer Gesandter in London. -- =Schönfeld=, ein
Komponist und launiger Knittelversemacher. -- =Leopold Wagner= (geb.
zu Straßburg 1747, gest. 1779), ein Kraftgenie, mit der Lenzischen
Muse verwandt. Göthe hat ihn im Faust verewigt, es ist der Famulus
Wagner. Er hat mehrere Dramen geschrieben, voller Excentrität und
gräulicher Scenen: „die Kindesmörderin“ (1776), deren Stoff er Göthe
weggenommen hat; „die Reue nach der That“ (1775); Gervinus hält
ihn auch für den Verfasser des kleinen Nachspiels „die frohe Frau“
(1775).[5] -- Graf =Ramond=, aus Kolmar, gestorben als Staatsrath und
Präfekt der obern Pyrenäen. Als Schriftsteller zeichnete er sich durch
sein (im Geiste von Shakspeare und von Göthe’s Götz von Berlichingen
geschriebenen) _guerre d’Alsace_, einem historischen Drama (_Bâle_
1780), und durch _les dernières aventures du jeune d’Olban, fragment
des amours alsaciennes_ (_Yverdun_ 1777) aus. Ramond kann als Vorläufer
der romantischen Schule Frankreichs gelten. Er schloß sich namentlich
an Lenz an, dem die letztere Schrift zugeeignet ist, und mit dem er
in seiner leidenschaftlichen Liebe zu Shakspeare sympathisirte. --
Als Mitglieder der Gesellschaft kommen noch vor: =Breu=, =Lobstein=,
=Meyer=, =Müller=, =Fries=, =Röderer= und =Corvinus=.[6]
Im Frühjahr 1776 verließ Lenz Straßburg und hielt sich in Weimar auf,
wo er mit Göthe umgieng und mit Herder und Wieland näher bekannt wurde.
Wie von einem unvermeidlichen Schicksale getrieben, kam er aber gegen
das Ende des folgenden Jahres wieder in das Elsaß. Nun brach sein oft
in dumpfes Hinbrüten, in bange Schwermuth versunkenes Gemüth in vollen
Wahnsinn aus, der zuweilen zur unbändigsten Raserei wurde. Er irrte im
tiefen Winter, in Schnee und Wind, durch die Vogesen und kam im Jänner
1778, in seinem Aeußern aufs Höchste vernachläßigt und die traurigsten
Spuren der Verirrung tragend, nach Waldbach, in’s Steinthal, wo
der würdige Pfarrer =Oberlin= ihn mit hingebender Liebe aufnahm.
Nachfolgender Aufsatz, der sich in Oberlin’s Papieren vorfand, mag dem
Leser die herzzerreißenden Scenen, die während Lenz’s Aufenthalt im
Steinthale vorfielen, schildern.[7]
„Den 20. Januar 1778 kam er hieher. Ich kannte ihn nicht. Im ersten
Blick sah ich ihn, den Haaren und hängenden Locken nach für einen
Schreinergesellen an; seine freimüthige Manier aber zeigte bald, daß
mich die Haare betrogen hatten. -- „Seien Sie willkommen, ob Sie mir
schon unbekannt.“ -- „ich bin ein Freund K...’s[8] und bringe ein
Compliment von ihm.“ -- „Der Name, wenn’s beliebt?“ -- „=Lenz.=“
-- „Ha, ha, ist er nicht gedruckt?“ (Ich erinnerte mich einige
Dramen gelesen zu haben, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben
wurden.) Er antwortete: „Ja; aber belieben sie mich nicht darnach zu
beurtheilen.“
Wir waren vergnügt unter einander; er zeichnete uns verschiedene
Kleidungen der Russen und Liefländer vor; wir sprachen von ihrer
Lebensart, u. s. w. Wir logirten ihn in das Besuchzimmer im Schulhause.
Die darauf folgende Nacht hörte ich eine Weile im Schlaf laut reden,
ohne daß ich mich ermuntern konnte. Endlich fuhr ich plötzlich
zusammen, horchte, sprang auf, horchte wieder. Da hörte ich mit
Schulmeisterstimme laut sagen: _Allez donc au lit -- qu’est-ce que
c’est que ça -- hé dans l’eau par un temps si froid! -- Allez, allez au
lit._
Eine Menge Gedanken durchdrangen sich in meinem Kopf. Vielleicht,
dachte ich, ist er ein Nachtwandler und hatte das Unglück in die
Brunnbütte zu stürzen; man muß ihm also Feuer, Thee machen, um ihn zu
erwärmen und zu trocknen. Ich warf meine Kleider um mich und hinunter
an das Schulhaus. Schulmeister und seine Frau, noch vor Schrecken blaß,
sagten mir: Herr Lenz hätte die ganze Nacht nicht geschlafen, wäre hin
und her gegangen, auf’s Feld hinter dem Hause, wieder herein, endlich
hinunter an den Brunnentrog, streckte die Hände ins Wasser, stieg auf
den Trog, stürzte sich hinein und plattscherte drin wie eine Ente;
sie, Schulmeister und seine Frau, hatten gefürchtet, er wolle sich
ertränken, riefen ihm zu -- er wieder aus dem Wasser, sagte, er wäre
gewohnt sich im kalten Wasser zu baden, und gieng wieder auf sein
Zimmer. -- Gottlob, sagte ich, daß es weiter nichts ist; Herr K...
liebt das kalte Bad auch, und Herr L... ist ein Freund von Herrn K...
Das war für uns Alle der erste Schreck; ich eilte zurück um meine Frau
auch zu beruhigen.
Von dem an verrichtete er, auf meine Bitten, sein Baden mit mehrerer
Stille.
Den 21sten ritt er mit mir nach Belmont, wo wir die allgemeine
Großmutter, die 176 Abstämmlinge erlebt, begruben. Daheim communicirte
er mir mit einer edeln Freimüthigkeit, was ihm an meinem Vortrag
u. s. w. mißfallen; wir waren vergnügt bei einander, es war mir wohl
bei ihm; er zeigte sich in allem als ein liebenswürdiger Jüngling.
Herr K... hatte mir sagen lassen: er würde, seiner Braut das Steinthal
zu zeigen, zu uns kommen und einen Theologen mitbringen, der gerne hier
predigen möchte.
Ich bin nun bald eilf Jahre hier; anfangs waren meine Predigten
vortrefflich, nach dem Geschmacke der Steinthaler. Seitdem ich aber
dieser guten Leute Fehler kenne und ihre äußerste Unwissenheit in
Allem, und besonders in der Sprache selbst, in der man ihnen predigt,
und ich mich daher so tief mir immer möglich herunterlassen und dem
mir nun bekannten Bedürfniß meiner Zuhörer gemäß zu predigen mich
bemühe, seitdem hat man beständig daran auszusetzen. Bald heißt es: ich
wäre zu scharf; bald: so könne es Jeder; bald: meine Mägde hätten mir
meine Predigt gemacht u. s. w. Ueberdieß macht mir das Predigen oft
mehr Mühe als alle andern Theile meines Amtes zusammengenommen. Ich bin
daher herzlich froh, wann bisweilen jemand anders für mich predigen
will.
Herr L..., nachdem er die Schulen der _Conductrices_ und Anderes
in Augenschein genommen, und er mir seine Gedanken freimüthig über
Alles mitgetheilt, äußerte mir seinen Wunsch für mich zu predigen.
Ich fragte ihn, ob er der Theolog wäre, von dem mir Herr K... hätte
sagen lassen? „Ja,“ sagte er, und ich ließ mir’s, um obiger Ursachen
willen, gefallen; es geschah den darauf folgenden Sonntag, den
25sten. Ich gieng vor den Altar, sprach die Absolution, und Herr L...
hielt auf der Kanzel eine schöne Predigt, nur mit etwas zu vieler
Erschrockenheit. Herr K... war mit seiner Braut auch in der Kirche.
Sobald er konnte, bat er mich, mit ihm besonders zu gehen, und fragte
mich mit bedeutender Miene, wie sich Herr L... seitdem betragen und
was wir mit einander gesprochen hätten. Ich sagte ihm, was ich noch
davon wußte; Herr K... sagte: es wäre gut. Bald darauf war er auch mit
Herrn L... allein. Es kam mir dieß alles etwas bedenklich vor, wollte
da nicht fragen, wo ich sah, daß man geheimnißvoll wäre, nahm mir aber
vor, meinen Unterricht weiter zu suchen.
Herr K... lud mich freundschaftlich ein, mit ihm zu seiner Hochzeit in
die Schweiz zu gehen. So gern ich längst die Schweiz gesehen, einen
Lavater, einen Pfenninger und andere Männer gekannt und gesprochen
hätte, so sehr meinem Leibe und Gemüthe (ich hatte einige harte Monate
gehabt), eine Aufmunterung und Stärkung durch eine Reise wünschbar war,
so unübersteigliche Hindernisse fand ich auf allzuvielen Seiten. Herr
K... räumte einen großen Theil durch Mittheilung seines Reiseplanes aus
dem Wege: ich überlegte den Rest und fand Möglichkeit.
Am Montag, den 26sten, nachdem ich meine letzten damaligen Patienten
begraben hatte, gieng ich den nächsten Weg über Rhein. Herr L...
sollte die Kanzel und mein Herr Amtsbruder die eigentlichen _Actus
pastorales_, die den damaligen Umständen nach sparsam oder gar nicht
vorkommen sollten, versehen.
Ich kam nicht weiter als bis nach Köndringen und Emmendingen, wo ich
Herrn Sander, und am zweiten Ort, Herrn Schlosser zum ersten Mal sah
und besprach; sodann über Breisach nach Kolmar, wo ich Herrn Pfeffel
und Lerse kennen lernte; und zurück ins Steinthal.
Ich hatte nun hinlänglichen Unterricht in Ansehung Herrn L... bekommen,
und übrigens so viel Satisfaction von meiner Reise, daß, so rar bei
einem Steinthaler Pfarrer das Geld ist, ich sie nicht um hundert Thaler
gebe.
Ueber meine unvermuthete Rückkunft war Herr L... betroffen und etwas
bestürzt, meine Frau aber entzückt, und bald darauf, nach einiger
Unterredung, auch Herr L...
Ich hörte, daß in meiner Abwesenheit Vieles, auf Herrn L...’s Umstände
Passendes und für ihn Nützliches, gesprochen worden, ohngeachtet meine
Frau die Umstände selbst, die ich erst auf meiner Reise erfuhr, nicht
wußte.
Ich erfuhr ferner, daß Herr L..., nach vorhergegangenen eintägigen
Fasten, Bestreichung des Gesichtes mit Asche, Begehrung eines alten
Sackes, den 3. Hornung ein zu Fouday so eben verstorbenes Kind, das
Friedericke hieß, aufwecken wollte, welches ihm aber fehlgeschlagen.
Er hatte eine Wunde am Fuß hieher gebracht, die ihn hinken machte und
ihn nöthigte hier zu bleiben. Meine Frau verband sie ihm täglich,
und man konnte baldige Heilung hoffen. Durch das unruhige Hin- und
Herlaufen aber, da er das Kind erwecken wollte, verschlimmerte sich
die Wunde so sehr, daß man die Entzündung mit erweichenden Aufschlägen
wahren mußte. Auf unsre und Herrn K...’s häufige Vorstellungen hatte
er sein Baden eingestellt, um die Heilung der Wunde zu befördern. In
der Nacht aber, zwischen dem 4. und 5. Hornung, sprang er wieder in den
Brunnentrog, mit heftiger Bewegung, um, wie er nachher gestand, die
Wunde auf’s Neue zu verschlimmern.
Seit Herrn K...’s Besuch logirte Herr L... nicht mehr im Schulhaus,
sondern bei uns in dem Zimmer über der Kindsstube. Den Tag hindurch
war er auf meiner Stube, wo er sich mit Zeichnen und Malen der
Schweizergegenden, mit Durchblättern und Lesen der Bibel, mit
Predigtschreiben, und Unterredung mit meiner Frau beschäftigte.
Den 5. Hornung kam ich von meiner Reise zurück; er war, wie ich oben
gesagt, anfangt darüber bestürzt, und bedauerte sehr, daß ich nicht in
der Schweiz gewesen. Ich erzählte ihm, daß Herr Hofrath Pfeffel die
Landgeistlichen so glücklich schätzt, und ihren Stand beneidenswerth
hält, weil er so unmittelbar zur Beglückung des Nächsten aufweckt. Es
machte Eindruck auf ihn. Ich bediente mich dieses Augenblicks, ihn zu
ermahnen, sich dem Wunsche seines Vaters zu unterwerfen, sich mit ihm
auszusöhnen u. s. w.
Da ich bei manchen Gelegenheiten wahrgenommen, daß sein Herz von
fürchterlicher Unruhe gemartert wurde, sagte ich ihm, er würde sodann
wieder zur Ruhe kommen, und schwerlich eher, denn Gott wüßte seinem
Worte: „Ehre Vater und Mutter,“ Nachdruck zu geben u. s. w.
Alles, was ich sagte, waren nur meistens Antworten auf abgebrochene,
oft schwer zu verstehende Worte, die er in großer Beklemmung seines
Herzens ausstieß. Ich merkte, daß er bei Erinnerung gethaner, mir
unbekannter, Sünde schauderte, an der Möglichkeit der Vergebung
verzweifelte; ich antwortete ihm darauf; er hob seinen niederhängenden
Kopf auf, blickte gen Himmel, rang die Hände, und sagte: „Ach! ach!
göttlicher Trost -- ach -- göttlich, o -- ich bete -- ich bete an!“ Er
sagte mir sodann ohne Verwirrung, daß er nun Gottes Regierung erkenne
und preise, die mich so bald, ihn zu trösten, wieder heimgeführt.
Ich gieng im Zimmer hin und her, packte aus, legte in Ordnung, stellte
mich zu ihm hin. Er sagte mit freundlicher Miene: „Bester Herr Pfarrer,
können Sie mir doch nicht sagen, was das Frauenzimmer macht, dessen
Schicksal mir so zentnerschwer auf dem Herzen liegt?“ Ich sagte ihm,
ich wisse von der ganzen Sache nichts, ich wolle ihm in allem, was
ihn wahrhaft beruhigen könne, aus allen Kräften dienen, er müßte
mir aber Ort und Personen nennen. Er antwortete nicht, stand in der
erbärmlichsten Stellung, redete gebrochene Worte: „Ach! ist sie todt?
Lebt sie noch? -- Der Engel, sie liebte mich -- ich liebte sie, sie
war’s würdig -- o, der Engel! -- Verfluchte Eifersucht! ich habe sie
aufgeopfert -- sie liebte noch einen Andern -- aber sie liebte mich
-- ja herzlich -- aufgeopfert -- die Ehe hatte ich ihr versprochen,
hernach verlassen -- o, verfluchte Eifersucht -- -- O, gute Mutter!
auch die liebte mich -- ich bin euer Mörder!“
Ich antwortete wie ich konnte, sagte ihm unter Anderm, vielleicht
lebten diese Personen alle noch, und vielleicht vergnügt; es mag sein
wie es wolle, so könnte und würde Gott, wenn er sich zu ihm bekehrt
haben würde, diesen Personen auf sein Gebet und Thränen, so viel Gutes
erweisen, daß der Nutzen, den sie sodann von ihm hätten, den Schaden,
so er ihnen zugefügt, leicht und vielleicht weit überwiegen würde. --
Er wurde jedoch nach und nach ruhiger und gieng an sein Malen.
Herr C... hatte mir zu Emmendingen einige in Papier gepackte Gerten
nebst einem Brief für ihn mitgegeben. Eines Males kam er zu mir; auf
der linken Schulter hatte er ein Stück Pelz, so ich, wenn ich mich
der Kälte lange aussetzen muß, auf den Leib zu legen gewohnt bin. In
der Hand hielt er die noch eingepackten Gerten; er gab sie mir, mit
Begehren, ich solle ihn damit herumschlagen. Ich nahm die Gerten aus
seiner Hand, drückte ihm einige Küsse auf den Mund und sagte: dieß
wären die Streiche, die ich ihm zu geben hätte, er möchte ruhig sein,
seine Sachen mit Gott allein ausmachen; alle möglichen Schläge würden
keine einzige seiner Sünden tilgen, dafür hätte Jesus gesorgt, zu dem
möchte er sich wenden. Er gieng.
Beim Nachtessen war er etwas tiefsinnig. Doch sprachen wir von
allerlei. Wir giengen endlich vergnügt von einander und zu Bette. --
Um Mitternacht erwachte ich plötzlich; er rannte durch den Hof, rief
mit harter, etwas hohler Stimme einige Sylben, die ich nicht verstand;
seitdem ich aber weiß, daß seine Geliebte =Friedericke=[9] hieß, kommt
es mir vor, als ob es dieser Name gewesen wäre, -- mit äußerster
Schnelle, Verwirrung und Verzweiflung ausgesprochen. Er stürzte sich,
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