Aquis Submersus - 5

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Heide schreiten, und war mir nur leid, daß letztere allbereits ihr
rothes Kleid und ihren Würzeduft verbrauchet und also diese Landschaft
ihren ganzen Sommerschmuck verloren hatte; denn von grünen Bäumen war
weithin nichts zu ersehen; nur der spitze Kirchthurm des Dorfes, dem
ich zustrebte—wie ich bereits erkennen mochte, ganz von Granitquadern
auferbauet—, stieg immer höher vor mir in den dunkelblauen
Octoberhimmel. Zwischen den schwarzen Strohdächern, die an seinem Fuße
lagen, krüppelte nur niedrig Busch- und Baumwerk; denn der
Nordwestwind, so hier frisch von der See heraufkommt, will freien Weg
zu fahren haben.
Als ich das Dorf erreichet und auch alsbald mich nach der Küsterei
gefunden hatte, stürzete mir sofort mit lustigem Geschrei die ganze
Schul entgegen; der Küster aber hieß an seiner Hausthür mich
willkommen. „Merket Ihr wohl, wie gern sie von der Fibel laufen!“ sagte
er. „Der eine Bengel hatte Euch schon durchs Fenster kommen sehen.“
In dem Prediger, der gleich danach ins Haus trat, erkannte ich
denselbigen Mann, den ich schon tags zuvor gesehen hatte. Aber auf
seine finstere Erscheinung war heute gleichsam ein Licht gesetzet; das
war ein schöner blasser Knabe, den er an der Hand mit sich führete; das
Kind mochte etwan vier Jahre zählen und sahe fast winzig aus gegen des
Mannes hohe knochige Gestalt.
Da ich die Bildnisse der früheren Prediger zu sehen wünschte, so gingen
wir mitsammen in die Kirche, welche also hoch belegen ist, daß man nach
den anderen Seiten über Marschen und Heide, nach Westen aber auf den
nicht gar fernen Meeresstrand hinunterschauen kann. Es mußte eben Fluth
sein; denn die Watten waren überströmet, und das Meer stund wie ein
lichtes Silber. Da ich anmerkete, wie oberhalb desselben die Spitze des
Festlandes und von der andern Seite diejenige der Insel sich gegen
einander strecketen, wies der Küster auf die Wasserfläche, so
dazwischen liegt. „Dort“, sagte er, „hat einst meiner Eltern Haus
gestanden; aber anno 34 bei der großen Fluth trieb es gleich hundert
anderen in den grimmen Wassern; auf der einen Hälfte des Daches ward
ich an diesen Strand geworfen, auf der anderen fuhren Vater und Bruder
in die Ewigkeit hinaus.“
Ich dachte: ,So stehet die Kirche wohl am rechten Ort; auch ohne den
Pastor wird hier vernehmentlich Gottes Wort geprediget.‘
Der Knabe, welchen letzterer auf den Arm genommen hatte, hielt dessen
Nacken mit beiden Ärmchen fest umschlungen und drückte die zarte Wange
an das schwarze bärtige Gesicht des Mannes, als finde er so den Schutz
vor der ihn schreckenden Unendlichkeit, die dort vor unseren Augen
ausgebreitet lag.
Als wir in das Schiff der Kirche eingetreten waren, betrachtete ich mir
die alten Bildnisse und sahe auch einen Kopf darunter, der wohl eines
guten Pinsels werth gewesen wäre; jedennoch war es alles eben
Pfennigmalerei, und sollte demnach der Schüler van der Helsts hier in
gar sondere Gesellschaft kommen.
Da ich solches eben in meiner Eitelkeit bedachte, sprach die harte
Stimme des Pastors neben mir: „Es ist nicht meines Sinnes, daß der
Schein des Staubes dauere, wenn der Odem Gottes ihn verlassen; aber ich
habe der Gemeine Wunsch nicht widerstreben mögen; nur, Meister, machet
es kurz; ich habe besseren Gebrauch für meine Zeit.“
Nachdem ich dem finsteren Manne, an dessen Antlitz ich gleichwohl für
meine Kunst Gefallen fand, meine beste Bemühung zugesaget, fragete ich
einem geschnitzten Bilde der Maria nach, so von meinem Bruder mir war
gerühmet worden.
Ein fast verachtend Lächeln ging über des Predigers Angesicht. „Da
kommet ihr zu spät“, sagte er, „es ging in Trümmer, da ich’s aus der
Kirche schaffen ließ.“
Ich sah ihn fast erschrocken an. „Und wolltet Ihr des Heilands Mutter
nicht in Euerer Kirche dulden?“
„Die Züge von des Heilands Mutter“, entgegnete er, „sind nicht
überliefert worden.“
—„Aber wollet Ihr’s der Kunst mißgönnen, sie in frommem Sinn zu
suchen?“
Er blickte eine Welle finster auf mich herab; denn, obschon ich zu den
Kleinen nicht zu zählen, so überragte er mich doch um eines halben
Kopfes Höhe;—dann sprach er heftig: „Hat nicht der König die
holländischen Papisten dort auf die zerrissene Insel herberufen; nur um
durch das Menschenwerk der Deiche des Höchsten Strafgericht zu trotzen?
Haben nicht noch letzlich die Kirchenvorsteher drüben in der Stadt sich
zwei der Heiligen in ihr Gestühlte schnitzen lassen? Betet und wachet!
Denn auch hier geht Satan noch von Haus zu Haus! Diese Marienbilder
sind nichts als Säugammen der Sinnenlust und des Papismus; die Kunst
hat allzeit mit der Welt gebuhlt!“
Ein dunkles Feuer glühte in seinen Augen, aber seine Hand lag
liebkosend auf dem Kopf des blassen Knaben, der sich an seine Knie
schmiegte.
Ich vergaß darob, des Pastors Worte zu erwidern; mahnete aber danach,
daß wir in die Küsterei zurückgingen, wo ich alsdann meine edle Kunst
an ihrem Widersacher selber zu erproben anhub.


Also wanderte ich fast einen Morgen um den andern über die Heide nach
dem Dorfe, wo ich allzeit den Pastor schon meiner harrend antraf
Geredet wurde wenig zwischen uns; aber das Bild nahm desto rascheren
Fortgang. Gemeiniglich saß der Küster neben uns und schnitzete allerlei
Geräthe gar säuberlich aus Eichenholz, dergleichen als eine Hauskunst
hier überall betrieben wird; auch habe ich das Kästlein, woran er
derzeit arbeitete, von ihm erstanden und darin vor Jahren die ersten
Blätter dieser Niederschrift hinterleget, alswie denn auch mit Gottes
Willen diese letzten darin sollen beschlossen sein.—
In des Predigers Wohnung wurde ich nicht geladen und betrat selbige
auch nicht; der Knabe aber war allzeit mit ihm in der Küsterei; er
stand an seinen Knien, oder er spielte mit Kieselsteinchen in der Ecke
des Zimmers. Da ich selbigen einmal fragte, wie er heiße, antwortete
er: „Johannes!“—„Johannes?“ entgegnete ich, „so heiße ich ja auch!“—Er
sah mich groß an, sagte aber weiter nichts.
Weshalb rühreten diese Augen so an meine Seele?—Einmal gar überraschete
mich ein finsterer Blick des Pastors, da ich den Pinsel müßig auf der
Leinewand ruhen ließ. Es war etwas in dieses Kindes Antlitz, das nicht
aus seinem kurzen Leben kommen konnte; aber es war kein froher Zug. So,
dachte ich, sieht ein Kind, das unter einem kummerschweren Herzen
ausgewachsen. Ich hätte oft die Arme nach ihm breiten mögen; aber ich
scheuete mich vor dem harten Manne, der es gleich einem Kleinod zu
behüten schien. Wohl dachte ich oft: ,Welch eine Frau mag dieses Knaben
Mutter sein?‘—
Des Küsters alte Magd hatte ich einmal nach des Predigers Frau
befraget; aber sie hatte mir kurzen Bescheid gegeben: „Die kennt man
nicht; in die Bauernhäuser kommt sie kaum, wenn Kindelbier und Hochzeit
ist.“—Der Pastor selbst sprach nicht von ihr. Aus dem Garten der
Küsterei, welcher in eine dichte Gruppe von Fliederbüschen ausläuft,
sahe ich sie einmal langsam über die Priesterkoppel nach ihrem Hause
gehen; aber sie hatte mir den Rücken zugewendet, so daß ich nur ihre
schlanke, jugendliche Gestalt gewahren konnte, und außerdem ein paar
gekräuselte Löckchen, in der Art, wie sie sonst nur von den Vornehmeren
getragen werden und die der Wind von ihren Schläfen wehte. Das Bild
ihres finsteren Ehgesponsen trat mir vor die Seele, und mir schien, es
passe dieses Paar nicht wohl zusammen.
—An den Tagen, wo ich nicht da draußen war, hatte ich auch die Arbeit
an meinem Lazarus wieder aufgenommen, so daß nach einiger Zeit diese
Bilder mit einander nahezu vollendet waren.
So saß ich eines Abends nach vollbrachtem Tagewerke mit meinem Bruder
unten in unserem Wohngemache. Auf dem Tisch am Ofen war die Kerze fast
herabgebrannt, und die holländische Schlaguhr hatte schon auf Eilf
gewarnt; wir aber saßen am Fenster und hatten der Gegenwart vergessen;
denn wir gedachten der kurzen Zeit, die wir mitsammen in unserer Eltern
Haus verlebet hatten; auch unseres einzigen lieben Schwesterleins
gedachten wir, das im ersten Kindbette verstorben und nun seit lange
schon mit Vater und Mutter einer fröhlichen Auferstehung
entgegenharrete.—Wir hatten die Läden nicht vorgeschlagen; denn es that
uns wohl, durch das Dunkel, so draußen auf den Erdenwohnungen der Stadt
lag, in das Sternenlicht des ewigen Himmels hinauszublicken.
Am Ende verstummten wir beide in uns selber, und wie auf einem dunkeln
Strome trieben meine Gedanken zu ihr, bei der sie allzeit Rast und
Unrast fanden.—Da, gleich einem Stern aus unsichtbaren Höhen, fiel es
mir jählings in die Brust: Die Augen des schönen blassen Knaben, es
waren ja ihre Augen! Wo hatte ich meine Sinne denn gehabt!—Aber dann,
wenn sie es war, wenn ich sie selber schon gesehen?—Welch schreckbare
Gedanken stürmten auf mich ein!
Indem legte sich die eine Hand meines Bruders mir auf die Schulter, mit
der andern wies er auf den dunkeln Markt hinaus, von wannen aber itzt
ein heller Schein zu uns herüberschwankte. „Sieh nur!“ sagte er. „Wie
gut, daß wir das Pflaster mit Sand und Heide ausgestopfet haben! Die
kommen von des Glockengießers Hochzeit; aber an ihren Stockleuchten
sieht man, daß sie gleichwohl hin und wider stolpern.“
Mein Bruder hatte recht. Die tanzenden Leuchten zeugeten deutlich von
der Trefflichkeit des Hochzeitschmauses; sie kamen uns so nahe, daß die
zwei gemalten Scheiben, so letzlich von meinem Bruder als eines Glasers
Meisterstück erstanden waren, in ihren satten Farben wie in Feuer
glühten. Als aber dann die Gesellschaft an unserem Hause laut redend in
die Krämerstraße einbog, hörete ich einen unter ihnen sagen: „Ei
freilich; das hat der Teufel uns verpurret! Hatte mich leblang darauf
gespitzet, einmal eine richtige Hex so in der Flammen singen zu hören!“
Die Leuchten und die lustigen Leute gingen weiter, und draußen die
Stadt lag wieder still und dunkel.
„O weh!“ sprach mein Bruder; „den trübet, was mich tröstet.“
Da fiel es mir erst wieder bei, daß am nächsten Morgen die Stadt ein
grausam Spectacul vor sich habe. Zwar war die junge Person, so wegen
einbekannten Bündnisses mit dem Satan zu Aschen sollte verbrannt
werden, am heutigen Morgen vom Frone todt in ihrem Kerker aufgefunden
worden; aber dem todten Leibe mußte gleichwohl sein peinlich Recht
geschehen.
Das war nun vielen Leuten gleich einer kalt gestellten Suppen. Hatte
doch auch die Buchführer-Witwe Liebernickel, so unter dem Thurm der
Kirche den grünen Bücherschranken hat, mir am Mittage, da ich wegen der
Zeitung bei ihr eingetreten, aufs heftigste geklaget, daß nun das Lied,
so sie im voraus darüber habe anfertigen und drucken lassen, nur kaum
noch passen werde wie die Faust aufs Auge. Ich aber, und mit mir mein
viellieber Bruder, hatte so meine eigenen Gedanken von dem Hexenwesen
und freuete mich, daß unser Herrgott—denn der war es doch wohl
gewesen—das arme junge Mensch so gnädiglich in seinen Schoß genommen
hatte.
Mein Bruder, welcher weichen Herzens war, begann gleichwohl der
Pflichten seines Amts sich zu beklagen; denn er hatte drüben von der
Rathhaustreppe das Urthel zu verlesen, sobald der Racker den todten
Leichnam davor aufgefahren, und hernach auch der Justification selber
zu assistiren. „Es schneidet mir schon itzund in das Herz“, sagte er,
„das greuelhafte Gejohle, wenn sie mit dem Karren die Straße
herabkommen; denn die Schulen werden ihre Buben und die Zunftmeister
ihre Lehrburschen loslassen.—An deiner Statt“, fügete er bei, „der du
ein freier Vogel bist, würde ich aufs Dorf hinausmachen und an dem
Conterfey des schwarzen Pastors weiter malen!“
Nun war zwar festgesetzet worden, daß ich am nächstfolgenden Tage erst
wieder hinauskäme; aber mein Bruder redete mir zu, unwissend, wie er
die Ungeduld in meinem Herzen schürete; und so geschah es, daß alles
sich erfüllen mußte, was ich getreulich in diesen Blättern
niederschreiben werde.


Am andern Morgen, als drüben vor meinem Kammerfenster nur kaum der
Kirchthurmhahn in rothem Frühlicht blinkte, war ich schon von meinem
Lager aufgesprungen; und bald schritt ich über den Markt, allwo die
Bäcker, vieler Käufer harrend, ihre Brotschragen schon geöffnet hatten;
auch sahe ich, wie an dem Rathhause der Wachtmeister und die Fußknechte
in Bewegung waren, und hatte Einer bereits einen schwarzen Teppich über
das Geländer der großen Treppe aufgehangen; ich aber ging durch den
Schwibbogen, so unter dem Rathause ist, eilends zur Stadt hinaus.
Als ich hinter dem Schloßgarten auf dem Steige war, sahe ich drüben bei
der Lehmkuhle, wo sie den neuen Galgen hingesetzet, einen mächtigen
Holzstoß aufgeschichtet. Ein paar Leute hantirten noch daran herum, und
mochten das der Fron und seine Knechte sein, die leichten Brennstoff
zwischen die Hölzer thaten; von der Stadt her aber kamen schon die
ersten Buben über die Felder ihnen zugelaufen. Ich achtete deß nicht
weiter, sondern wanderte rüstig fürbaß, und da ich hinter den Bäumen
hervortrat, sahe ich mir zur Linken das Meer im ersten Sonnenstrahl
entbrennen, der im Osten über die Heide emporstieg. Da mußte ich meine
Hände falten:
„O Herr, mein Gott und Christ,
Sei gnädig mit uns allen,
Die wir in Sünd gefallen,
Der du die Liebe bist!“—

Als ich draußen war, wo die breite Landstraße durch die Heide führte,
begegneten mir viele Züge von Bauern; sie hatten ihre kleinen Jungen
und Dirnen an den Händen und zogen sie mit sich fort.
„Wohin strebet ihr denn so eifrig?“ fragte ich den einen Haufen; „es
ist ja doch kein Markttag heute in der Stadt.“
Nun, wie ich’s wohl zum voraus wußte, sie wollten die Hexe, das junge
Satansmensch, verbrennen sehen.
—„Aber die Hexe ist ja todt!“
„Freilich, das ist ein Verdruß“, meineten sie; „aber es ist unserer
Hebamme, der alten Mutter Siebenzig, ihre Schwestertochter; da können
wir nicht außen bleiben und müssen mit dem Reste schon fürlieb
nehmen.“—
—Und immer neue Scharen kamen daher; und itzund taucheten auch schon
Wagen aus dem Morgennebel, die statt mit Kornfrucht heut mit Menschen
voll geladen waren.—Da ging ich abseits über die Heide, obwohl noch der
Nachtthau von dem Kraute rann; denn mein Gemüth verlangte nach der
Einsamkeit; und ich sahe von fern, wie es den Anschein hatte, das ganze
Dorf des Weges nach der Stadt ziehen. Als ich auf dem Hünenhügel stund,
der hier inmitten der Heide liegt, überfiel es mich, als müsse auch ich
zur Stadt zurückkehren oder etwan nach links hinab an die See gehen,
oder nach dem kleinen Dorfe, das dort unten hart am Strande liegt; aber
vor mir in der Luft schwebete etwas wie ein Glück, wie eine rasende
Hoffnung, und es schüttelte mein Gebein, und meine Zähne schlugen an
einander. ,Wenn sie es wirklich war, so letzlich mit meinen eigenen
Augen ich erblicket, und wenn dann heute—‘ Ich fühlte mein Herz gleich
einem Hammer an den Rippen; ich ging weit um durch die Heide; ich
wollte nicht sehen, ob auf der Wagen einem auch der Prediger nach der
Stadt fahre.—Aber ich ging dennoch endlich seinem Dorfe zu.
Als ich es erreichet hatte, schritt ich eilends nach der Thür des
Küsterhauses. Sie war verschlossen. Eine Weile stund ich unschlüssig;
dann hub ich mit der Faust zu klopfen an. Drinnen blieb alles ruhig;
als ich aber stärker klopfte, kam des Küsters alte halb blinde Trienke
aus einem Nachbarhause.
„Wo ist der Küster?“ fragte ich.
—„Der Küster? Mit dem Priester in die Stadt gefahren.“
Ich starrete die Alte an; mir war, als sei ein Blitz durch mich dahin
geschlagen.
„Fehler Euch etwas, Herr Maler?“ frug sie.
Ich schüttelte den Kopf und sagte nur: „So ist wohl heute keine Schule,
Trienke?“
—„Bewahre! Die Hexe wird ja verbrannt!“
Ich ließ mir von der Alten das Haus aufschließen, holte mein
Malergeräthe und das fast vollendete Bildniß aus des Küsters
Schlafkammer und richtete, wie gewöhnlich, meine Staffelei in dem
leeren Schulzimmer. Ich pinselte etwas an der Gewandung; aber ich
suchte damit nur mich selber zu belügen; ich hatte keinen Sinn zum
Malen; war ja um dessen willen auch nicht hieher gekommen.
Die Alte kam hereingelaufen, stöhnte über die arge Zeit und redete über
Bauern- und Dorfsachen, die ich nicht verstund; mich selber drängete
es, sie wieder einmal nach des Predigers Frau zu fragen, ob selbige alt
oder jung, und auch, woher sie gekommen sei; allein ich brachte das
Wort nicht über meine Zungen. Dagegen begann die Alte ein lang
Gespinste von der Hex und ihrer Sippschaft hier im Dorfe und von der
Mutter Siebenzig, so mit Vorspuksehen behaftet sei; erzählete auch, wie
selbige zur Nacht, da die Gicht dem alten Weibe keine Ruh gelassen,
drei Leichlaken über des Pastors Hausdach habe fliegen sehen: es gehe
aber solch Gesichte allzeit richtig aus, und Hoffart komme vor dem
Falle; denn sei die Frau Pastorin bei aller ihrer Vornehmheit doch nur
eine blasse und schwächliche Kreatur.
Ich mochte solch Geschwätz nicht fürder hören; ging daher aus dem Hause
und auf dem Wege herum, da wo das Pastorat mit seiner Fronte gegen die
Dorfstraße liegt; wandte auch unter bangem Sehnen meine Augen nach den
weißen Fenstern, konnte aber hinter den blinden Scheiben nichts
gewahren als ein paar Blumenscherben, wie sie überall zu sehen
sind.—Ich hätte nun wohl umkehren mögen; aber ich ging dennoch weiter.
Als ich auf den Kirchhof kam, trug von der Stadtseite der Wind ein
wimmernd Glockenläuten an mein Ohr; ich aber wandte mich und blickte
hinab nach Westen, wo wiederum das Meer wie lichtes Silber am
Himmelssaume hinfloß, und war doch ein tobend Unheil dort gewesen,
worin in einer Nacht des Höchsten Hand viel tausend Menschenleben
hingeworfen hatte. Was krümmete denn ich mich so gleich einem
Wurme?—Wir sehen nicht, wie seine Wege führen!
Ich weiß nicht mehr, wohin mich damals meine Füße noch getragen haben;
ich weiß nur, daß ich in einem Kreis gegangen bin; denn da die Sonne
fast zur Mittagshöhe war, langete ich wieder bei der Küsterei an. Ich
ging aber nicht in das Schulzimmer an meine Staffelei, sondern durch
das Hinterpförtlein wieder zum Hause hinaus.—
Das ärmliche Gärtlein ist mir unvergessen, obschon seit jenem Tage
meine Augen es nicht mehr gesehen.—Gleich dem des Predigerhauses von
der anderen Seite, trat es als ein breiter Streifen in die
Priesterkoppel; inmitten zwischen beiden aber war eine Gruppe dichter
Weidenbüsche, welche zur Einfassung einer Wassergrube dienen mochten;
denn ich hatte einmal eine Magd mit vollem Eimer wie aus einer Tiefe
daraus hervorsteigen sehen.
Als ich ohne viel Gedanken, nur mein Gemüthe erfüllet von nicht zu
zwingender Unrast, an des Küsters abgeheimseten Bohnenbeeten hinging,
hörete ich von der Koppel draußen eine Frauenstimme von gar holdem
Klang, und wie sie liebreich einem Kinde zusprach.
Unwillens schritt ich solchem Schalle nach; so mochte einst der
griechische Heidengott mit seinem Stabe die Todten nach sich gezogen
haben. Schon war ich am jenseitigen Rande des Holundergebüsches, das
hier ohne Verzäunung in die Koppel ausläuft, da sahe ich den kleinen
Johannes mit einem Ärmchen voll Moos, wie es hier in dem kümmerlichen
Grase wächst, gegenüber hinter die Weiden gehen; er mochte sich dort
damit nach Kinderart ein Gärtchen angeleget haben. Und wieder kam die
holde Stimme an mein Ohr: „Nun heb nur an; nun hast du einen ganzen
Haufen! Ja, ja; ich such derweil noch mehr; dort am Holunder wächst
genug!“
Und dann trat sie selber hinter den Weiden hervor; ich hatte ja längst
schon nicht gezweifelt.—Mit den Augen auf dem Boden suchend, schritt
sie zu mir her, so daß ich ungestöret sie betrachten durfte; und mir
war, als gliche sie nun gar seltsam dem Kinde wieder, das sie einst
gewesen war, für das ich den „Buhz“ einst von dem Baum herabgeschossen
hatte; aber dieses Kinderantlitz von heute war bleich und weder Glück
noch Muth darin zu lesen.
So war sie mählich näher kommen, ohne meiner zu gewahren; dann kniete
sie nieder an einem Streifen Moos, der unter den Büschen hinlief; doch
ihre Hände pflückten nicht davon; sie ließ das Haupt auf ihre Brust
sinken, und es war, als wolle sie nur ungesehen vor dem Kinde in ihrem
Leide ausruhen.
Da rief ich leise: „Katharina!“
Sie blickte auf, ich aber ergriff ihre Hand und zog sie gleich einer
Willenlosen zu mir unter den Schatten der Büsche. Doch als ich sie
endlich also nun gefunden hatte und keines Wortes mächtig vor ihr
stund, da sahen ihre Augen weg von mir, und mit fast einer fremden
Stimme sagte sie: „Es ist nun einmal so, Johannes! Ich wußte wohl, du
seiest der fremde Maler; ich dachte nur nicht, daß du heute kommen
würdest.“
Ich hörete das, und dann sprach ich es aus: „Katharina,—so bist du des
Predigers Eheweib?“
Sie nickte nicht; sie sah mich starr und schmerzlich an. „Er hat das
Amt dafür bekommen“, sagte sie, „und dein Kind den ehrlichen Namen.“
—„Mein Kind, Katharina?“
„Und fühltest du das nicht? Er hat ja doch auf deinem Schoß gesessen;
einmal doch, er selbst hat es mir erzählet.“
—Möge keines Menschen Brust ein solches Weh zerfleischen!—„Und du, du
und mein Kind, ihr solltet mir verloren sein!“
Sie sah mich an, sie weinte nicht, sie war nur gänzlich todtenbleich.
„Ich will das nicht!“ schrie ich; „ich will …“ Und eine wilde
Gedankenjagd rasete mir durchs Hirn.
Aber ihre kleine Hand hatte gleich einem kühlen Blatte sich auf meine
Stirn gelegt, und ihre braunen Augensterne auf dem blassen Antlitz
sahen mich flehend an. „Du, Johannes“, sagte sie, „du wirst es nicht
sein, der mich noch elender machen will.“
—„Und kannst denn du so leben, Katharina?“
„Leben?—Es ist ja doch ein Glück dabei; er liebt das Kind;—was ist denn
mehr noch zu verlangen?“
—„Und von uns, von dem, was einst gewesen ist, weiß er davon?“
„Nein, nein!“ rief sie heftig. „Er nahm die Sünderin zum Weibe: mehr
nicht. O Gott, ist’s denn nicht genug, daß jeder neue Tag ihm
angehört!“
In diesem Augenblicke tönete ein zarter Gesang zu uns herüber.— „Das
Kind“, sagte sie. „Ich muß zu dem Kinde; es könnte ihm ein Leids
geschehen!“
Aber meine Sinne zieleten nur auf das Weib, das sie begehrten. „Bleib
doch“, sagte ich, „es spielet ja fröhlich dort mit seinem Moose.“
Sie war an den Rand des Gebüsches getreten und horchete hinaus. Die
goldene Herbstsonne schien so warm hernieder, nur leichter Hauch kam
von der See herauf. Da hörten wir von jenseits durch die Weiden das
Stimmlein unseres Kindes singen:
„Zwei Englein, die mich decken,
Zwei Englein, die mich strecken,
Und zweie, so mich weisen
In das himmlische Paradeisen.“

Katharina war zurückgetreten, und ihre Augen sahen groß und geisterhaft
mich an. „Und nun leb wohl, Johannes“, sprach sie leise; „auf
Nimmerwiedersehen hier auf Erden!“
Ich wollte sie an mich reißen; ich streckte beide Arme nach ihr aus;
doch sie wehrete mich ab und sagte sanft: „Ich bin des anderen Mannes
Weib; vergiß das nicht.“
Mich aber hatte auf diese Worte ein fast wilder Zorn ergriffen. „Und
wessen, Katharina“, sprach ich hart, „bist du gewesen, ehe bevor du
sein geworden?“
Ein weher Klaglaut brach aus ihrer Brust; sie schlug die Hände vor ihr
Angesicht und rief. „Weh mir! O wehe, mein entweihter armer Leib!“
Da wurd ich meiner schier unmächtig; ich riß sie jäh an meine Brust,
ich hielt sie wie mit Eisenklammern und hatte sie endlich, endlich
wieder! Und ihre Augen sanken in die meinen, und ihre rothen Lippen
duldeten die meinen; wir umschlangen uns inbrünstiglich; ich hätte sie
tödten mögen, wenn wir also mit einander hätten sterben können. Und als
dann meine Blicke voll Seligkeit auf ihrem Antlitz weideten, da sprach
sie, fast erstickt von meinen Küssen: „Es ist ein langes, banges Leben!
O Jesu Christ, vergib mir diese Stunde!“
—Es kam eine Antwort; aber es war die harte Stimme jenes Mannes, aus
dessen Munde ich itzt zum ersten Male ihren Namen hörte. Der Ruf kam
von drüben aus dem Predigergarten, und noch einmal und härter rief es:
„Katharina!“
Da war das Glück vorbei; mit einem Blicke der Verzweiflung sahe sie
mich an; dann stille wie ein Schatten war sie fort.
—Als ich in die Küsterei trat, war auch schon der Küster wieder da. Er
begann sofort von der Justification der armen Hexe auf mich einzureden.
„Ihr haltet wohl nicht viel davon“, sagte er; „sonst wäret Ihr heute
nicht aufs Dorf gegangen, wo der Herr Pastor gar die Bauern und ihre
Weiber in die Stadt getrieben.“
Ich hatte nicht die Zeit zur Antwort; ein gellender Schrei durchschnitt
die Luft; ich werde ihn leblang in den Ohren haben.
„Was war das, Küster?“ rief ich.
Der Mann riß ein Fenster auf und horchete hinaus, aber es geschah
nichts weiter. „So mir Gott“, sagte er, „es war ein Weib, das so
geschrien hat; und drüben von der Priesterkoppel kam’s.“
Indem war auch die alte Trienke in die Thür gekommen. „Nun, Herr?“ rief
sie mir zu. „Die Leichlaken sind auf des Pastors Dach gefallen!“
—„Was soll das heißen, Trienke?“
„Das soll heißen, daß sie des Pastors kleinen Johannes soeben aus dem
Wasser ziehen.“
Ich stürzete aus dem Zimmer und durch den Garten auf die
Priesterkoppel; aber unter den Weiden fand ich nur das dunkle Wasser
und Spuren feuchten Schlammes daneben auf dem Grase.—Ich bedachte mich
nicht, es war ganz wie von selber, daß ich durch das weiße Pförtchen in
des Pastors Garten ging. Da ich eben ins Haus wollte, trat er selber
mir entgegen.
Der große knochige Mann sah gar wüste aus; seine Augen waren geröthet,
und das schwarze Haar hing wirr ihm ins Gesicht. „Was wollt Ihr?“ sagte
er.
Ich starrete ihn an; denn mir fehlete das Wort. Ja, was wollte ich denn
eigentlich?
„Ich kenne Euch!“ fuhr er fort. „Das Weib hat endlich alles
ausgeredet.“
Das machte mir die Zunge frei. „Wo ist mein Kind!“ rief ich.
Er sagte: „Die beiden Eltern haben es ertrinken lassen.“
—„So laßt mich zu meinem todten Kinde!“
Allein, da ich an ihm vorbei in den Hausflur wollte, drängete er mich
zurück. „Das Weib“, sprach er, „liegt bei dem Leichnam und schreit zu
Gott aus ihren Sünden. Ihr sollt nicht hin, um ihrer armen Seelen
Seligkeit!“
Was dermalen selber ich gesprochen, ist mir schier vergessen; aber des
Predigers Worte gruben sich in mein Gedächtniß. „Höret mich!“ sprach
er. „So von Herzen ich Euch hasse, wofür dereinst mich Gott in seiner
Gnade wolle büßen lassen, und Ihr vermuthendlich auch mich—noch ist
Eines uns gemeinsam.—Geht itzo heim und bereitet eine Tafel oder
Leinewand! Mit solcher kommet morgen in der Frühe wieder und malet
darauf des todten Knaben Antlitz. Nicht mir oder meinem Hause; der
Kirchen hier, wo er sein kurz unschuldig Leben ausgelebet, möget Ihr
das Bildniß stiften. Mög es dort die Menschen mahnen, daß vor der
knöchern Hand des Todes alles Staub ist!“
Ich blickte auf den Mann, der kurz vordem die edle Malerkunst ein
Buhlweib mit der Welt gescholten; aber ich sagte zu, daß alles so
geschehen möge.
—Daheim indessen wartete meiner eine Kunde, so meines Lebens Schuld und
Buße gleich einem Blitze jählings aus dem Dunkel hob, so daß ich Glied
um Glied die ganze Kette vor mir leuchten sahe.
Mein Bruder, dessen schwache Constitution von dem abscheulichen
Spectacul, dem er heute assistiren müssen, hart ergriffen war, hatte
sein Bette aufgesucht. Da ich zu ihm eintrat, richtete er sich auf „Ich
muß noch eine Weile ruhen“, sagte er, indem er ein Blatt der
Wochenzeitung in meine Hand gab; „aber lies doch dieses! Da wirst du
sehen, daß Herrn Gerhardus’ Hof in fremde Hände kommen, maßen Junker
Wulf ohn Weib und Kind durch eines tollen Hundes Biß gar jämmerlichen
Todes verfahren ist.“
Ich griff nach dem Blatte, das mein Bruder mir entgegenhielt; aber es
fehlte nicht viel, daß ich getaumelt wäre. Mir war’s bei dieser
Schreckenspost, als sprängen des Paradieses Pforten vor mir auf; aber
schon sahe ich am Eingange den Engel mit dem Feuerschwerte stehen, und
aus meinem Herzen schrie es wieder: O Hüter, Hüter, war dein Ruf so
fern!—Dieser Tod hätte uns das Leben werden können; nun war’s nur ein
Entsetzen zu den andern.
Ich saß oben auf meiner Kammer. Es wurde Dämmerung, es wurde Nacht; ich
schaute in die ewigen Gestirne, und endlich suchte auch ich mein Lager.
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