Aquis Submersus - 1

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Aquis submersus
Novelle (1876)
von Theodor Storm


In unserem zu dem früher herzoglichen Schlosse gehörigen, seit
Menschengedenken aber ganz vernachlässigten „Schloßgarten“ waren schon
in meiner Knabenzeit die einst im altfranzösischen Stile angelegten
Hagebuchenhecken zu dünnen, gespenstischen Alleen ausgewachsen; da sie
indessen immerhin noch einige Blätter tragen, so wissen wir Hiesigen,
durch Laub der Bäume nicht verwöhnt, sie gleichwohl auch in dieser Form
zu schätzen; und zumal von uns nachdenklichen Leuten wird immer der
eine oder andre dort zu treffen sein. Wir pflegen dann unter dem
dürftigen Schatten nach dem sogenannten „Berg“ zu wandern, einer
kleinen Anhöhe in der nordwestlichen Ecke des Gartens oberhalb dem
ausgetrockneten Bette eines Fischteiches, von wo aus der weitesten
Aussicht nichts im Wege steht.
Die meisten mögen wohl nach Westen blicken, um sich an dem lichten Grün
der Marschen und darüberhin an der Silberflut des Meeres zu ergötzen,
auf welcher das Schattenspiel der langgestreckten Insel schwimmt; meine
Augen wenden unwillkürlich sich nach Norden, wo, kaum eine Meile fern,
der graue spitze Kirchturm aus dem höher belegenen, aber öden
Küstenlande aufsteigt; denn dort liegt eine von den Stätten meiner
Jugend.
Der Pastorssohn aus jenem Dorfe besuchte mit mir die „Gelehrtenschule“
meiner Vaterstadt, und unzählige Male sind wir am Sonnabendnachmittage
zusammen dahinaus gewandert, um dann am Sonntagabend oder montags früh
zu unserem Nepos oder später zu unserem Cicero nach der Stadt
zurückzukehren. Es war damals auf der Mitte des Weges noch ein gut
Stück ungebrochener Heide übrig, wie sie sich einst nach der einen
Seite bis fast zur Stadt, nach der anderen ebenso gegen das Dorf
erstreckt hatte. Hier summten auf den Blüten des duftenden Heidekrauts
die Immen und weißgrauen Hummeln und rannte unter den dürren Stengeln
desselben der schöne goldgrüne Laufkäfer; hier in den Duftwolken der
Eriken und des harzigen Gagelstrauches schwebten Schmetterlinge, die
nirgends sonst zu finden waren. Mein ungeduldig dem Elternhause
zustrebender Freund hatte oft seine liebe Not, seinen träumerischen
Genossen durch all die Herrlichkeiten mit sich fortzubringen; hatten
wir jedoch das angebaute Feld erreicht, dann ging es auch um desto
munterer vorwärts, und bald, wenn wir nur erst den langen Sandweg
hinaufwateten, erblickten wir auch schon über dem dunkeln Grün einer
Fliederhecke den Giebel des Pastorhauses, aus dem das Studierzimmer des
Pastors mit seinen kleinen blinden Fensterscheiben auf die bekannten
Gäste hinabgrüßte.
Bei den Pastorsleuten, deren einziges Kind mein Freund war, hatten wir
allezeit, wie wir hier zu sagen pflegen, fünf Quartier auf der Elle,
ganz abgesehen von der wunderbaren Naturalverpflegung. Nur die
Silberpappel, der einzig hohe und also auch einzig verlockende Baum des
Dorfes, welche ihre Zweige ein gut Stück oberhalb des bemoosten
Strohdaches rauschen ließ, war gleich dem Apfelbaum des Paradieses uns
verboten und wurde daher nur heimlich von uns erklettert; sonst war,
soviel ich mich entsinne, alles erlaubt und wurde ja nach unserer
Altersstufe bestens von uns ausgenutzt.
Der Hauptschauplatz unserer Taten war die große „Priesterkoppel“, zu
der ein Pförtchen aus dem Garten führte. Hier wußten wir mit dem den
Buben angebotenen Instinkte die Nester der Lerchen und der Grauammern
aufzuspüren, denen wir dann die wiederholtesten Besuche abstatteten, um
nachzusehen, wie weit in den letzten zwei Stunden die Eier oder die
Jungen nun gediehen seien; hier auf einer tiefen und, wie ich jetzt
meine, nicht weniger als jene Pappel gefährlichen Wassergrube, deren
Rand mit alten Weidenstümpfen dicht umstanden war, fingen wir die
flinken schwarzen Käfer, die wir „Wasserfranzosen“ nannten, oder ließen
wir ein andermal unsere auf einer eigens angelegten Werft erbaute
Kriegsflotte aus Walnußschalen und Schachteldeckeln schwimmen. Im
Spätsommer geschah es dann auch wohl, daß wir aus unserer Koppel einen
Raubzug nach des Küsters Garten machten, welcher gegenüber dem des
Pastorates an der anderen Seite der Wassergrube lag; denn wir hatten
dort von zwei verkrüppelten Apfelbäumen unseren Zehnten einzuheimsen,
wofür uns freilich gelegentlich eine freundschaftliche Drohung von dem
gutmütigen alten Manne zuteil wurde.—So viele Jugendfreuden wuchsen auf
dieser Priesterkoppel, in deren dürrem Sandboden andere Blumen nicht
gedeihen wollten; nur den scharfen Duft der goldknopfigen Rainfarren,
die hier haufenweis auf allen Wällen standen, spüre ich noch heute in
der Erinnerung, wenn jene Zeiten mir lebendig werden.
Doch alles dieses beschäftigte uns nur vorübergehend; meine dauernde
Teilnahme dagegen erregte ein anderes, dem wir selbst in der Stadt
nichts an die Seite zu setzen hatten.—Ich meine damit nicht etwa die
Röhrenbauten der Lehmwespen, die überall aus den Mauerfugen des Stalles
hervorragten, obschon es anmutig genug war, in beschaulicher
Mittagsstunde das Aus- und Einfliegen der emsigen Tierchen zu
beobachten; ich meine den viel größeren Bau der alten und ungewöhnlich
stattlichen Dorfkirche. Bis an das Schindeldach des hohen Turmes war
sie von Grund auf aus Granitquadern aufgebaut und beherrschte, auf dem
höchsten Punkt des Dorfes sich erhebend, die weite Schau über Heide,
Strand und Marschen.—Die meiste Anziehungskraft für mich hatte indes
das Innere der Kirche; schon der ungeheure Schlüssel, der von dem
Apostel Petrus selbst zu stammen schien, erregte meine Phantasie. Und
in der Tat erschloß er auch, wenn wir ihn glücklich dem alten Küster
abgewonnen hatten, die Pforte zu manchen wunderbaren Dingen, aus denen
eine längst vergangene Zeit hier wie mit finstern, dort mit kindlich
frommen Augen, aber immer in geheimnisvollem Schweigen zu uns Lebenden
aufblickte. Da hing mitten in die Kirche hinab ein schrecklich
übermenschlicher Crucifixus, dessen hagere Glieder und verzerrtes
Antlitz mit Blute überrieselt waren; dem zur Seite an einem
Mauerpfeiler haftete gleich einem Nest die braungeschnitzte Kanzel, an
der aus Frucht- und Blattgewinden allerlei Tier- und Teufelsfratzen
sich hervorzudrängen schienen. Besondere Anziehung aber übte der große
geschnitzte Altarschrank im Chor der Kirche, auf dem in bemalten
Figuren die Leidensgeschichte Christi dargestellt war; so seltsam wilde
Gesichter, wie das des Kaiphas oder die der Kriegsknechte, welche in
ihren goldenen Harnischen um des Gekreuzigten Mantel würfelten, bekam
man draußen im Alltagsleben nicht zu sehen; tröstlich damit
kontrastierte nur das holde Antlitz der am Kreuze hingesunkenen Maria;
ja, sie hätte leicht mein Knabenherz mit einer phantastischen Neigung
bestricken können, wenn nicht ein anderes mit noch stärkerem Reize des
Geheimnisvollen mich immer wieder von ihr abgezogen hätte.
Unter all diesen seltsamen oder wohl gar unheimlichen Dingen hing im
Schiff der Kirche das unschuldige Bildnis eines toten Kindes, eines
schönen, etwa fünfjährigen Knaben, der, auf einem mit Spitzen besetzten
Kissen ruhend, eine weiße Wasserlilie in seiner kleinen bleichen Hand
hielt. Aus dem zarten Antlitz sprach neben dem Grauen des Todes, wie
hülfeflehend, noch eine letzte holde Spur des Lebens; ein
unwiderstehliches Mitleid befiel mich, wenn ich vor diesem Bilde stand.
Aber es hing nicht allein hier; dicht daneben schaute aus dunklem
Holzrahmen ein finsterer, schwarzbärtiger Mann in Priesterkragen und
Sammar. Mein Freund sagte mir, es sei der Vater jenes schönen Knaben;
dieser selbst, so gehe noch heute die Sage, solle einst in der
Wassergrube unserer Priesterkoppel seinen Tod gefunden haben. Auf dem
Rahmen lasen wir die Jahreszahl 1666; das war lange her. Immer wieder
zog es mich zu diesen beiden Bildern; ein phantastisches Verlangen
ergriff mich, von dem Leben und Sterben des Kindes eine nähere, wenn
auch noch so karge Kunde zu erhalten; selbst aus dem düsteren Antlitz
des Vaters, das trotz des Priesterkragens mich fast an die
Kriegsknechte des Altarschranks gemahnen wollte, suchte ich sie
herauszulesen.
—Nach solchen Studien in dem Dämmerlicht der alten Kirche erschien dann
das Haus der guten Pastorsleute nur um so gastlicher. Freilich war es
gleichfalls hoch zu Jahren, und der Vater meines Freundes hoffte, so
lange ich denken konnte, auf einen Neubau; da aber die Küsterei an
derselben Altersschwäche litt, so wurde weder hier noch dort
gebaut.—Und doch, wie freundlich waren trotzdem die Räume des alten
Hauses; im Winter die kleine Stube rechts, im Sommer die größere links
vom Hausflur, wo die aus den Reformationsalmanachen herausgeschnittenen
Bilder in Mahagonirähmchen an der weißgetünchten Wand hingen, wo man
aus dem westlichen Fenster nur eine ferne Windmühle, außerdem aber den
ganzen weiten Himmel vor sich hatte, der sich abends in rosenrotem
Schein verklärte und dann das ganze Zimmer überglänzte! Die lieben
Pastorsleute, die Lehnstühle mit den roten Plüschkissen, das alte tiefe
Sofa, auf dem Tisch beim Abendbrot der traulich sausende Teekessel—es
war alles helle, freundliche Gegenwart. Nur eines Abends—wir waren
derzeit schon Sekundaner—kam mir der Gedanke, welch eine Vergangenheit
an diesen Räumen hafte, ob nicht gar jener tote Knabe einst mit
frischen Wangen hier leibhaftig umhergesprungen sei, dessen Bildnis
jetzt wie mit einer wehmütig holden Sage den düsteren Kirchenraum
erfüllte.
Veranlassung zu solcher Nachdenklichkeit mochte geben, daß ich am
Nachmittage, wo wir auf meinen Antrieb wieder einmal die Kirche besucht
hatten, unten in einer dunkeln Ecke des Bildes vier mit roter Farbe
geschriebene Buchstaben entdeckt hatte, die mir bis jetzt entgangen
waren.
„Sie lauten C. P. A. S.“, sagte ich zu dem Vater meines Freundes; „aber
wir können sie nicht enträtseln.“
„Nun“, erwiderte dieser, „die Inschrift ist mir wohl bekannt; und nimmt
man das Gerücht zu Hülfe, so möchten die beiden letzten Buchstaben wohl
mit Aquis submersus, also mit ,Ertrunken‘ oder wörtlich ,Im Wasser
versunken‘ zu deuten sein; nur mit dem vorangehenden C. P. wäre man
dann noch immer in Verlegenheit! Der junge Adjunktus unseres Küsters,
der einmal die Quarta passiert ist, meint zwar, es könne Casu
periculoso—,Durch gefährlichen Zufall‘—heißen; aber die alten Herren
jener Zeit dachten logischer; wenn der Knabe dabei ertrank, so war der
Zufall nicht nur bloß gefährlich.“
Ich hatte begierig zugehört. „Casu“ sagte ich; „es könnte auch wohl
,Culpa‘ heißen?“
„Culpa?“ wiederholte der Pastor. „Durch Schuld?—aber durch wessen
Schuld?“
Da trat das finstere Bild des alten Predigers mir vor die Seele, und
ohne viel Besinnen rief ich: „Warum nicht: Culpa patris?“
Der gute Pastor war fast erschrocken. „Ei, ei, mein junger Freund“,
sagte er und erhob warnend den Finger gegen mich. „Durch Schuld des
Vaters?—So wollen wir trotz seines düsteren Ansehens meinen seligen
Amtsbruder doch nicht beschuldigen. Auch würde er dergleichen wohl
schwerlich von sich haben schreiben lassen.“
Dies letztere wollte auch meinem jugendlichen Verstande einleuchten;
und so blieb denn der eigentliche Sinn der Inschrift nach wie vor ein
Geheimnis der Vergangenheit.
Daß übrigens jene beiden Bilder sich auch in der Malerei wesentlich vor
einigen alten Predigerbildnissen auszeichneten, welche gleich daneben
hingen, war mir selbst schon klargeworden; daß aber Sachverständige in
dem Maler einen tüchtigen Schüler altholländischer Meister erkennen
wollten, erfuhr ich freilich jetzt erst durch den Vater meines
Freundes. Wie jedoch ein solcher in dieses arme Dorf verschlagen worden
oder woher er gekommen und wie er geheißen habe, darüber wußte auch er
mir nichts zu sagen. Die Bilder selbst enthielten weder einen Namen
noch ein Malerzeichen.

Die Jahre gingen hin. Während wir die Universität besuchten, starb der
gute Pastor, und die Mutter meines Schulgenossen folgte später ihrem
Sohne auf dessen inzwischen anderswo erreichte Pfarrstelle; ich hatte
keine Veranlassung mehr, nach jenem Dorfe zu wandern.—Da, als ich
selbst schon in meiner Vaterstadt wohnhaft war, geschah es, daß ich für
den Sohn eines Verwandten ein Schülerquartier bei guten Bürgersleuten
zu besorgen hatte. Der eigenen Jugendzeit gedenkend, schlenderte ich im
Nachmittagssonnenscheine durch die Straßen, als mir an der Ecke des
Marktes über der Tür eines alten hochgegiebelten Hauses eine
plattdeutsche Inschrift in die Augen fiel, die verhochdeutscht etwa
lauten würde:
Gleich so wie Rauch und Staub verschwindt,
Also sind auch die Menschenkind.

Die Worte mochten für jugendliche Augen wohl nicht sichtbar sein; denn
ich hatte sie nie bemerkt, sooft ich auch in meiner Schulzeit mir einen
Heißewecken bei dem dort wohnenden Bäcker geholt hatte. Fast
unwillkürlich trat ich in das Haus; und in der Tat, es fand sich hier
ein Unterkommen für den jungen Vetter. Die Stube ihrer alten
„Möddersch“ (Mutterschwester)—so sagte mir der freundliche Meister—,
von der sie Haus und Betrieb geerbt hätten, habe seit Jahren leer
gestanden; schon lange hätten sie sich einen jungen Gast dafür
gewünscht.
Ich wurde eine Treppe hinaufgeführt, und wir betraten dann ein ziemlich
niedriges, altertümlich ausgestattetes Zimmer, dessen beide Fenster mit
ihren kleinen Scheiben auf den geräumigen Marktplatz hinausgingen.
Früher, erzählte der Meister, seien zwei uralte Linden vor der Tür
gewesen; aber er habe sie schlagen lassen, da sie allzusehr ins Haus
gedunkelt und auch hier die schöne Aussicht ganz verdeckt hätten.
Über die Bedingungen wurden wir bald in allen Teilen einig; während wir
dann aber noch über die jetzt zu treffende Einrichtung des Zimmers
sprachen, war mein Blick auf ein im Schatten eines Schrankes hängendes
Ölgemälde gefallen, das plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit
hinwegnahm. Es war noch wohlerhalten und stellte einen älteren, ernst
und milde blickenden Mann dar, in einer dunklen Tracht, wie in der
Mitte des siebzehnten Jahrhunderts sie diejenigen aus den vornehmeren
Ständen zu tragen pflegten, welche sich mehr mit Staatssachen oder
gelehrten Dingen als mit dem Kriegshandwerke beschäftigten.
Der Kopf des alten Herrn, so schön und anziehend und so trefflich
gemalt er immer sein mochte, hatte indessen nicht diese Erregung in mir
hervorgebracht; aber der Maler hatte ihm einen blassen Knaben in den
Arm gelegt, der in seiner kleinen, schlaff herabhängenden Hand eine
weiße Wasserlilie hielt; und diesen Knaben kannte ich ja längst. Auch
hier war es wohl der Tod, der ihm die Augen zugedrückt hatte.
„Woher ist dieses Bild?“ frug ich endlich, da mir plötzlich bewußt
wurde, daß der vor mir stehende Meister mit seiner Auseinandersetzung
innegehalten hatte.
Er sah mich verwundert an. „Das alte Bild? Das ist von unserer
Möddersch“, erwiderte er; „es stammt von ihrem Urgroßonkel, der ein
Maler gewesen und vor mehr als hundert Jahren hier gewohnt hat. Es sind
noch andre Siebensachen von ihm da.“
Bei diesen Worten zeigte er nach einer kleinen Lade von Eichenholz, auf
welcher allerlei geometrische Figuren recht zierlich eingeschnitten
waren.
Als ich sie von dem Schranke, auf dem sie stand, herunternahm, fiel der
Deckel zurück, und es zeigten sich mir als Inhalt einige stark
vergilbte Papierblätter mit sehr alten Schriftzügen.
„Darf ich die Blätter lesen?“ frug ich.
„Wenn’s Ihnen Pläsier macht“, erwiderte der Meister, „so mögen Sie die
ganze Sache mit nach Hause nehmen; es sind so alte Schriften; Wert
steckt nicht darin.“
Ich aber erbat mir und erhielt auch die Erlaubnis, diese wertlosen
Schriften hier an Ort und Stelle lesen zu dürfen; und während ich mich
dem alten Bilde gegenüber in einen mächtigen Ohrenlehnstuhl setzte,
verließ der Meister das Zimmer, zwar immer noch erstaunt, doch
gleichwohl die freundliche Verheißung zurücklassend, daß seine Frau
mich bald mit einer guten Tasse Kaffee regulieren werde.
Ich aber las und hatte im Lesen bald alles um mich her vergessen.


So war ich denn wieder daheim in unserm Holstenlande; am Sonntage
Cantate war es Anno 1661!—Mein Malgeräth und sonstiges Gepäcke hatte
ich in der Stadt zurückgelassen und wanderte nun fröhlich fürbaß, die
Straße durch den maiengrünen Buchenwald, der von der See ins Land
hinaufsteigt. Vor mir her flogen ab und zu ein paar Waldvöglein und
letzeten ihren Durst an dem Wasser, so in den tiefen Radgeleisen stund;
denn ein linder Regen war gefallen über Nacht und noch gar früh am
Vormittage, so daß die Sonne den Waldesschatten noch nicht überstiegen
hatte.
Der helle Drosselschlag, der von den Lichtungen zu mir scholl, fand
seinen Widerhall in meinem Herzen. Durch die Bestellungen, so mein
theurer Meister van der Helst im letzten Jahre meines Amsterdamer
Aufenthalts mir zugewendet, war ich aller Sorge quitt geworden; einen
guten Zehrpfennig und einen Wechsel auf Hamburg trug ich noch itzt in
meiner Taschen; dazu war ich stattlich angethan: mein Haar fiel auf
mein Mäntelchen mit feinem Grauwerk, und der Lütticher Degen fehlte
nicht an meiner Hüfte.
Meine Gedanken aber eilten mir voraus; immer sah ich Herrn Gerhardus,
meinen edlen großgünstigen Protector, wie er von der Schwelle seines
Zimmers mir die Hände würd’ entgegenstrecken, mit seinem milden Gruße:
„So segne Gott deinen Eingang, mein Johannes!“
Er hatte einst mit meinem lieben, ach, gar zu früh in die ewige
Herrlichkeit genommenen Vater zu Jena die Rechte studiret und war auch
nachmals den Künsten und Wissenschaften mit Fleiße obgelegen, so daß er
dem Hochseligen Herzog Friederich bei seinem edlen, wiewohl wegen der
Kriegsläufte vergeblichen Bestreben um Errichtung einer
Landesuniversität ein einsichtiger und eifriger Berather gewesen.
Obschon ein adeliger Mann, war er meinem lieben Vater doch stets in
Treuen zugethan blieben, hatte auch nach dessen seligem Hintritt sich
meiner verwaiseten Jugend mehr, als zu verhoffen, angenommen und nicht
allein meine sparsamen Mittel aufgebessert, sondern auch durch seine
fürnehme Bekanntschaft unter dem Holländischen Adel es dahin gebracht,
daß mein theuerer Meister van der Helst mich zu seinem Schüler
angenommen.
Meinte ich doch zu wissen, daß der verehrte Mann unversehrt auf seinem
Herrenhofe sitze, wofür dem Allmächtigen nicht genug zu danken; denn,
derweilen ich in der Fremde mich der Kunst beflissen, war daheim die
Kriegsgreuel über das Land gekommen; so zwar, daß die Truppen, die
gegen den kriegswüthigen Schweden dem Könige zum Beistand hergezogen,
fast ärger als die Feinde selbst gehauset, ja selbst der Diener Gottes
mehrere in jämmerlichen Tod gebracht. Durch den plötzlichen Hintritt
des Schwedischen Carolus war nun zwar Friede; aber die grausamen
Stapfen des Krieges lagen überall; manch Bauern- oder Käthnerhaus, wo
man mich als Knaben mit einem Trunke süßer Milch bewirthet, hatte ich
auf meiner Morgenwanderung niedergesenget am Wege liegen sehen und
manches Feld in ödem Unkraut, darauf sonst um diese Zeit der Roggen
seine grünen Spitzen trieb.
Aber solches beschwerete mich heut nicht allzu sehr; ich hatte nur
Verlangen, wie ich dem edlen Herrn durch meine Kunst beweisen möchte,
daß er Gab und Gunst an keinen Unwürdigen verschwendet habe; dachte
auch nicht an Strolche und verlaufen Gesindel, das vom Kriege her noch
in den Wäldern Umtrieb halten sollte. Wohl aber tückete mich ein
anderes, und das war der Gedanke an den Junker Wulf. Er war mir nimmer
hold gewesen, hatte wohl gar, was sein edler Vater an mir gethan, als
einen Diebstahl an ihm selber angesehen; und manches Mal, wenn ich, wie
öfters nach meines lieben Vaters Tode, im Sommer die Vacanz auf dem
Gute zubrachte, hatte er mir die schönen Tage vergället und versalzen.
Ob er anitzt in seines Vaters Hause sei, war mir nicht kund geworden,
hatte nur vernommen, daß er noch vor dem Friedensschlusse bei Spiel und
Becher mit den Schwedischen Offiziers Verkehr gehalten, was mit rechter
Holstentreue nicht zu reimen ist.
Indem ich dieß bei mir erwog, war ich aus dem Buchenwalde in den
Richtsteig durch das Tannenhölzchen geschritten, das schon dem Hofe
nahe liegt. Wie liebliche Erinnerung umhauchte mich der Würzeduft des
Harzes; aber bald trat ich aus dem Schatten in den vollen Sonnenschein
hinaus; da lagen zu beiden Seiten die mit Haselbüschen eingehegten
Wiesen, und nicht lange, so wanderte ich zwischen den zwo Reihen
gewaltiger Eichbäume, die zum Herrensitz hinaufführen.
Ich weiß nicht, was für ein bang Gefühl mich plötzlich überkam, ohn
alle Ursach, wie ich derzeit dachte; denn es war eitel Sonnenschein
umher, und vom Himmel herab klang ein gar herzlich und ermunternd
Lerchensingen. Und siehe, dort auf der Koppel, wo der Hofmann seinen
Immenhof hat, stand ja auch noch der alte Holzbirnenbaum und flüsterte
mit seinen jungen Blättern in der blauen Luft.
„Grüß dich Gott!“ sagte ich leis, gedachte dabei aber weniger des
Baumes, als vielmehr des holden Gottesgeschöpfes, in dem, wie es sich
nachmals fügen mußte, all Glück und Leid und auch all nagende Buße
meines Lebens beschlossen sein sollte, für jetzt und alle Zeit. Das war
des edlen Herrn Gerhardus Töchterlein, des Junkers Wulfen einzig
Geschwister.
Item, es war bald nach meines lieben Vaters Tode, als ich zum ersten
Mal die ganze Vacanz hier verbrachte; sie war derzeit ein neunjährig
Dirnlein, die ihre braunen Zöpfe lustig fliegen ließ; ich zählte um ein
paar Jahre weiter. So trat ich eines Morgens aus dem Thorhaus; der alte
Hofmann Dieterich, der ober der Einfahrt wohnt und neben dem als einem
getreuen Mann mir mein Schlafkämmerlein eingeräumt war, hatte mir einen
Eschenbogen zugerichtet, mir auch die Bolzen von tüchtigem Blei dazu
gegossen, und ich wollte nun auf die Raubvögel, deren genug bei dem
Herrenhaus umherschrien; da kam sie vom Hofe auf mich zugesprungen.
„Weißt du, Johannes“, sagte sie; „ich zeig dir ein Vogelnest; dort in
dem hohlen Birnbaum; aber das sind Rotschwänzchen, die darfst du ja
nicht schießen!“
Damit war sie schon wieder vorausgesprungen; doch eh sie noch dem Baum
auf zwanzig Schritte nah gekommen, sah ich sie jählings stille stehn.
„Der Buhz, der Buhz!“ schrie sie und schüttelte wie entsetzt ihre
beiden Händlein in der Luft.
Es war aber ein großer Waldkauz, der ober dem Loche des hohlen Baumes
saß und hinabschauete, ob er ein ausfliegend Vögelein erhaschen möge.
„Der Buhz, der Buhz!“ schrie die Kleine wieder. „Schieß, Johannes,
schieß!“—Der Kauz aber, den die Freßgier taub gemacht, saß noch immer
und stierete in die Höhlung. Da spannte ich meinen Eschenbogen und
schoß, daß das Raubthier zappelnd auf dem Boden lag; aus dem Baume aber
schwang sich ein zwitschernd Vöglein in die Luft.
Seit der Zeit waren Katharina und ich zwei gute Gesellen mit einander;
in Wald und Garten, wo das Mägdlein war, da war auch ich. Darob aber
mußte mir gar bald ein Feind erstehen; das war der Kurt von der Risch,
dessen Vater eine Stunde davon auf seinem reichen Hofe saß. In
Begleitung seines gelahrten Hofmeisters, mit dem Herr Gerhardus gern
der Unterhaltung pflag, kam er oftmals auf Besuch; und da er jünger war
als Junker Wulf, so war er wohl auf mich und Katharinen angewiesen;
insonders aber schien das braune Herrentöchterlein ihm zu gefallen.
Doch war das schier umsonst; sie lachte nur über seine krumme
Vogelnase, die ihm, wie bei fast allen des Geschlechtes, unter
buschigem Haupthaar zwischen zwei merklich runden Augen saß. Ja, wenn
sie seiner nur von fern gewahrte, so reckte sie wohl ihr Köpfchen vor
und rief. „Johannes, der Buhz, der Buhz!“ Dann versteckten wir uns
hinter den Scheunen oder rannten wohl auch spornstreichs in den Wald
hinein, der sich in einem Bogen um die Felder und danach wieder dicht
an die Mauern des Gartens hinanzieht.
Darob, als der von der Risch deß inne wurde, kam es oftmals zwischen
uns zum Haarraufen, wobei jedoch, da er mehr hitzig denn stark war, der
Vortheil meist in meinen Händen blieb.
Als ich, um von Herrn Gerhardus Urlaub zu nehmen, vor meiner Ausfahrt
in die Fremde zum letzten Mal, jedoch nur kurze Tage, hier verweilte,
war Katharina schon fast wie eine Jungfrau; ihr braunes Haar lag itzt
in einem goldnen Netz gefangen; in ihren Augen, wenn sie die Wimpern
hob, war oft ein spielend Leuchten, das mich schier beklommen machte.
Auch war ein alt gebrechlich Fräulein ihr zur Obhut beigegeben, so man
im Hause nur „Bas’ Ursel“ nannte; sie ließ das Kind nicht aus den Augen
und ging überall mit einer langen Tricotage neben ihr.
Als ich so eines Octobernachmittags im Schatten der Gartenhecken mit
beiden auf und ab wandelte, kam ein lang aufgeschossener Gesell, mit
spitzenbesetztem Lederwams und Federhut ganz alamode gekleidet, den
Gang zu uns herauf; und siehe da, es war der Junker Kurt, mein alter
Widersacher. Ich merkte allsogleich, daß er noch immer bei seiner
schönen Nachbarin zu Hofe ging; auch daß insonders dem alten Fräulein
solches zu gefallen schien. Das war ein „Herr Baron“ auf alle Frag’ und
Antwort; dabei lachte sie höchst obligeant mit einer widrig feinen
Stimme und hob die Nase unmäßig in die Luft; mich aber, wenn ich ja ein
Wort dazwischen gab, nannte sie stetig „Er“ oder kurzweg auch
„Johannes“, worauf der Junker dann seine runden Augen einkniff und im
Gegentheile that, als sähe er auf mich herab, obschon ich ihn um halben
Kopfes Länge überragte.
Ich blickte auf Katharinen; die aber kümmerte sich nicht um mich,
sondern ging sittig neben dem Junker, ihm manierlich Red und Antwort
gebend; den kleinen rothen Mund aber verzog mitunter ein spöttisch
stolzes Lächeln, so daß ich dachte: ,Getröste dich, Johannes; der
Herrensohn schnellt itzo deine Waage in die Luft‘ Trotzig blieb ich
zurück und ließ die andern dreie vor mir gehen. Als aber diese in das
Haus getreten waren und ich davor noch an Herrn Gerhardus’ Blumenbeeten
stand, darüber brütend, wie ich, gleich wie vormals, mit dem von der
Risch ein tüchtig Haarraufen beginnen möchte, kam plötzlich Katharina
wieder zurückgelaufen, riß neben mir eine Aster von den Beeten und
flüsterte mir zu: „Johannes, weißt du was? Der Buhz sieht einem jungen
Adler gleich; Bas’ Ursel hat’s gesagt!“ Und fort war sie wieder, eh ich
mich’s versah. Mir aber war auf einmal all Trotz und Zorn wie
weggeblasen. Was kümmerte mich itzund der Herr Baron! Ich lachte hell
und fröhlich in den güldnen Tag hinaus; denn bei den übermüthigen
Worten war wieder jenes süße Augenspiel gewesen. Aber diesmal hatte es
mir gerad ins Herz geleuchtet.
Bald danach ließ mich Herr Gerhardus auf sein Zimmer rufen; er zeigte
mir auf einer Karte noch einmal, wie ich die weite Reise nach Amsterdam
zu machen habe, übergab mir Briefe an seine Freunde dort und sprach
dann lange mit mir, als meines lieben seligen Vaters Freund. Denn noch
selbigen Abends hatte ich zur Stadt zu gehen, von wo ein Bürger mich
auf seinem Wagen mit nach Hamburg nehmen wollte.
Als nun der Tag hinabging, nahm ich Abschied. Unten im Zimmer saß
Katharina an einem Stickrahmen; ich mußte der Griechischen Helena
gedenken, wie ich sie jüngst in einem Kupferwerk gesehen; so schön
erschien mir der junge Nacken, den das Mädchen eben über ihre Arbeit
neigte. Aber sie war nicht allein; ihr gegenüber saß Bas’ Ursel und las
laut aus einem französischen Geschichtenbuche. Da ich näher trat, hob
sie die Nase nach mir zu. „Nun, Johannes“, sagte sie, „Er will mir wohl
Ade sagen? So kann Er auch dem Fräulein gleich Seine Reverenze
machen!“—Da war schon Katharina von ihrer Arbeit aufgestanden; aber
indem sie mir die Hand reichte, traten die Junker Wulf und Kurt mit
großem Geräusch ins Zimmer; und sie sagte nur: „Leb wohl, Johannes!“
Und so ging ich fort.
Im Thorhaus drückte ich dem alten Dieterich die Hand, der Stab und
Ranzen schon für mich bereit hielt; dann wanderte ich zwischen den
Eichbäumen auf die Waldstraße zu. Aber mir war dabei, als könne ich
nicht recht fort, als hätt ich einen Abschied noch zu Gute, und stand
oft still und schaute hinter mich. Ich war auch nicht den Richtweg
durch die Tannen, sondern, wie von selber, den viel weiteren auf der
großen Fahrstraße hingewandert. Aber schon kam vor mir das Abendroth
überm Wald herauf, und ich mußte eilen, wenn mich die Nacht nicht
überfallen sollte. „Ade, Katharina, ade!“ sagte ich leise und setzte
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