Höxter und Corvey: Erzählung - 3

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»Ja saufen könnt Ihr, aber es ist das letzte vom Faß, und kein
allerletztes gibt es offenkundig in Höxter! Gerade deshalb wollen wir
die Kellerschlüssel holen. Die Lutherischen fallen auf die Katholiken
und umgekehrt. Daß wir deinem Onkel auch in der Vergadderung einen
Besuch machen, wirst du sicherlich nicht übelnehmen, Lambert.«
»^Scabies capiat^ -- der Teufel hole meinen Herrn Onkel!« rief der
Student; doch jetzt nahm ihn Hans Vogedes am Arm und flüsterte ihm zu,
um, wie er meinte, sein letztes Schwanken und Überlegen triumphvoll zu
besiegen:
»Und nachher oder darzwischen fallen wir auch den Juden auf die Köpfe!
Was? He? Was sagt Ihr?«
Der Student sah den Verführer einen langen Augenblick an, und dann sagte
er:
»Ihr seid eben aus Merxhausen, Fährmann!« Als worauf beinahe schon jetzt
der allgemeine Judenprügel hier in der Kneipe zum heiligen Veit
losgegangen wäre. Um aber die Erwiderung des Studenten und die Erbosung
des Biedermannes Hans Vogedes vollkommen zu würdigen, bedarf es einer
kurzen Erläuterung des Wortes.
Als nämlich der böse Feind, der Versucher, unsern Herrn Jesus Christus
auf die Zinne des Tempels führte, sprach er zu ihm -- nach einer
Tradition, die sich an der Weser erhalten hat --: »Wenn du niederfällst
und mich anbetest, soll dir dieses alles gehören, bis -- bis auf
Merxhausen und Sievershausen dort im Solling; -- die beiden Dörfer
behalte ich mir vor.«
»Aus Sievershausen bist du nicht, Tewes,« brüllte Hans der Schiffer mit
erhobener Faust, »aber deiner Ehrbarkeit wegen haben sie dich auch in
Helmstedt nicht mit Fußtritten aus dem Tor gejagt. Du aufgeblasener
Windsack, du Holzbock, willst hier und in jetziger Stunde einem braven
Kerl aufmucken? Wahre deinen lateinischen Schädel, du Bettelstudent!«
Von oben bis unten betrachtete Meister Lambert sich den wütenden Strolch
von neuem; dann trat er gleichmütig einen Schritt weiter an den Tisch,
ergriff den ersten besten Krug, hob ihn an den Mund, ließ den Inhalt
bedächtig die Gurgel herniederlaufen, seufzte, stieß das leere Gefäß mit
einem Krach auf die Platte nieder und deklamierte mit vollem Pathos:
»Wie Lamm und Wolf befehden sich
Von Anfang an, so hass' ich dich.
Denk du an den Ibererstrick
Und an die Striemen im Genick,
Item am Bein der Schellenring,
Monsieur, war ein beschwerlich Ding!
Ist das der Weg, auf dem du mich mit dir nehmen willst, o Menas?«
»Kreuz und alle Donner!« schrie der Fährmann, mit dem Schaume vor dem
Mund auf den Studenten losstürzend; aber Wigand Säuberlich warf sich ihm
vor und fing seinen Arm auf:
»Halt, halt! Es steht im Buche!«
»Steht das so im Buche? Steht das so in seinem Buche?« schrie die übrige
Kompagneia. »Heraus damit, er soll's beweisen, der Lambert, daß das so
über den Hans gedruckt ist!«
»Es steht in meinem Buch, ihr Herren!« lachte der Helmstedter, »haltet
ihn mir nur noch einen kurzen Augenblick vom Leibe; ich trete den Beweis
der Wahrheit an, und nachher gebt jedem ein Rapier; -- auf die Faust laß
ich mich nicht ein mit ihm!«
Er hatte seinen Horatius hervorgezogen und las und jetzo mit dem
allerhöchsten Pathos:
»^Lupis et agnis quanta sortito obtigit,^
^Tecum mihi discordia est,^
^Ibericis peruste funibus latus^
^Et crura dura compede!^«
»Sackerment!« stöhnte die ganze hochlöbliche Gesellschaft und kratzte
sich hinter den Ohren. »Gib dich zufrieden, Hans Vogedes, dagegen kommst
du nicht auf! Das ist die Zunge, in der sie Urtel und Recht sprechen.
Das verfluchte welsche Galgenlateinisch könnte einem den ganzen Spaß von
vornherein verleiden. Man sieht dabei ordentlich den grünen Tisch mit
seinem Behängsel von Graubärten und geifernden Rat-, Richter- und
Advokaten-Schnauzen vor sich! Na, wer geht nun noch mit ins Pläsier?«
Sie gingen dem »Galgenlateinisch« zum Trotze alle bis auf den Studenten;
dieser aber hielt noch eine kleine Rede.
»Bin ich deshalb der erlauchten Mutter Julia, der göttlichen Karoline
durchgebrannt, um einem armen Judenweib und seinem Packen schiele Blicke
nachzuwerfen?! ^Apage, apage^ -- weiche von mir, das heißt, ihr Herren,
was kümmert's mich! Macht, was ihr wollt; aber mich laßt damit
ungeschoren. Ich werde das Haus hier hüten und die Bank für euch warm
halten.«
Es ging noch ein Murren durch den schlimmen Kreis, doch Lambert ließ
sich das wenig anfechten. Er rückte behaglich am obern Teil des Tisches
neben dem Ofen in die Reihe der noch Sitzenden, indem er das eine Bein
über die Bank schwang.
»Bruderherz, bedenke dich noch einmal,« sprach ihm Wigand Säuberlich zu.
»Bruderherz, das tu' ich auch; aber sieh mal, Herzbruder, wer sollte
denn die Historie eurer glorreichen Heldentaten auf die Nachwelt
bringen, wenn einer eurer Knüppel mir im Durcheinander das Hirn
ausschlüge?«
»Also ohne dich! Marsch, ihr Brüder! ^En avant^, wie der Herr
Kommandante, der Hund, der Fougerais, zum Abschied schrie. Es ist eben
eine Zeit, in der jeder seinen eigenen Willen haben muß. Unsere Väter
haben es uns nicht anders gelehrt!«
»Bei den unsterblichen Göttern, so ist's!« schrie der Student, als aber
die Rotte hinausgestürmt war, sprang er von der Bank auf und auf den
Tisch und jauchzte:
»Höxter und Corvey!«
So rufen sie dort auf der Kegelbahn, wenn alle Neune fallen.


Sechstes Kapitel.

»Das wird eine schöne Katzbalgerei werden! Na, Wirt, bist du für Stift
oder Stadt?«
»Alle beide sollen verrecken! Komm aber erst herunter vom Tisch, und
vertritt mir das Geschirr nicht, 's ist das letzte, was mir die Welschen
heil gelassen haben.«
»Da gilt's freilich Vorsicht für den Rest, Alter,« sprach der Student
und kam dem mürrischen Worte des Wirtes zum heiligen Vitus nach. Er
stieg herunter von der Tafel, reckte und dehnte sich behaglich, streckte
sich sodann lang auf der langen Bank aus, zog die qualmende Lampe näher
zu sich heran und schob seinen Lauriger jetzt als Ruhekissen unter den
Kopf. Dann schlug er die Hände gleichfalls unter dem Hinterkopfe
zusammen und sah so halb schläfrig und ganz gleichgültig dem leise vor
sich hinbrummenden Hospes zu, der die Gläser und Krüge abräumte und von
Zeit zu Zeit an das niedere Fenster oder vor die Tür seiner Spelunke
trat, um in die Nacht hinaus- und seinen liebenswerten Stammgästen
nachzuhorchen. Aus der Tiefe des Hauses ertönte gedämpft das Krächzen
eines Säuglings, dazwischen die singende Stimme der Wirtin zum heiligen
Veit. Auch den Wind vernahm man und von Zeit zu Zeit das Niederrauschen
eines Regenschauers. Bei allem diesem Getön entschlummerte nach den
geistigen und körperlichen Strapazen des Tages Herr Lambert Tewes sanft
und schlief eine halbe Stunde besser als vielleicht sonst irgendein
Mensch in Höxter.
Nach einer halben Stunde aber fuhr er wieder in die Höhe und starrte
verbiestert um sich und nicht ohne Grund.
Die Sturmglocken waren noch nicht ruiniert in Höxter: man läutete Sturm
auf St. Kilian und man läutete Sturm auf St. Niklas!
»Was will uns dieser Tummel doch?
Schlagt in den Erdball mir kein Loch!
Hallo, da sind sie aneinander! Juchhe, Höxter und Corvey! Höxter und
Corvey!« schrie der Student jubelnd, und wir -- halten uns beide Ohren
zu und gehen nunmehr den Weg, den vorhin der gute Mönch, Bruder Heinrich
von Herstelle, nach Hause gegangen war.
Heute führt eine schöne Kastanienallee von der Stadt nach der Abtei, und
wir wissen von mehr als einem wolkenlosen Sommertage her ihren Schatten
zu würdigen. Damals zog sich der Pfad, vom Kriege kahl gefressen, die
Weser entlang, nur daß hier und da ein dickköpfiger Weidenstrunk
gespenstisch aus dem niedern Ufergebüsch aufragte. Die Nacht und das
Winterwetter hatten den Weg für sich; der Bruder Henricus zog die Kapuze
über den Schädel und sah nicht nach rechts und links; er stolperte
selbst für seine Geduld auf dem durch Rosseshuf und Räderspur
aufgewühlten und durchfurchten Boden allzu häufig.
»Dem Herrn sei Lob!« ächzte er, als er endlich vor dem Tor von Corvey
stand und nach der Glocke des Pförtners tastete; allein seine Geduld
sollte nunmehr noch auf die höchste Probe gestellt werden. Er hätte
ebensogut vor das schlafende Schloß der Prinzeß Dornröschen kommen
können.
Er läutete, und er läutete vergeblich.
Sie schliefen alle, vom Herrn Prior, Niklas von Zitzewitz, an bis zum
Bruder Pförtner. Kein Lichtstrahl fiel aus irgendeinem Fenster; -- wenn
Vater Adelhardus, der Kellermeister, noch Licht hatte, so half das
Bruder Henricus fürs erste nichts, denn das Gemach des Pater Kellners
war gen Osten, dem Flusse zu gelegen und der müde Wanderer kam von
Westen vor dem Tor an.
»All ihr Heiligen, was hat der Böse ihnen in den Schlaftrunk gemischt?!«
stöhnte der Bruder Henricus nach zehn Minuten unablässigen Pochens,
Rufens und Schellens. Nun hing er sich noch einmal an die Glocke, und
nimmer hatte er dieselbe im Kirchenturme so brünstig zur Hora oder Mette
gezogen.
»Endlich!« rief er grimmig, als sich dann das Fenster neben der Pforte
auftat und der Pförtner die Frage tat, wer da Einlaß begehre?
Das wurde gesagt und der Bruder Henricus eingelassen. In früheren Jahren
würde er jetzo den Torhüter an der Gurgel genommen haben; als alter Mann
und demütiger, sanfter Diszipul des heiligen Benediktus aber begnügte er
sich mit der unwirschen Frage:
»Nun sagt nur, was ist denn eigentlich hier vorgegangen, daß zu dieser
frühen Abendzeit das ganze Stift daliegt wie ein Hamsternest im Januar?«
»Wohlleben und Jubilation, ehrwürdiger Herr,« erwiderte der
schlaftrunkene, kaum auf den Füßen sich haltende und zwischen jeglichen
zwei Worten gähnende Pförtner. »Offenes Haus -- seit Eurer Abfahrt --
wochenlang -- die französische Generalität bei Tag und Nacht! -- O, wir
haben uns als freundliche Wirte erwiesen, mein Frater -- wie es uns
zukam, mein Frater; -- und die französischen Herren waren auch sehr
zufrieden mit uns. Wir haben ein gutes Gedüfte von uns mit ihnen in die
Ferne entlassen.«
»So, so, hm, hm,« brummte der Bruder Heinrich von Herstelle, »und
derweilen mußte unsereiner im unwegsamen Solling umhervagieren und mit
des verdrießlichen Braunschweigers kalter Küche und lackem Kofent
vorlieb nehmen! Ei, ei, und ich bringe doch auch Botschaft vom Gange --
wichtige Nachrichten! Ist denn niemand von den Vätern noch wach, daß er
sie mir abnehme und mich der Responsabilität erledige?«
»Keiner! Wir sind alle zu Bett in der großen Müdigkeit; -- wenn -- nicht
vielleicht der ehrwürdige Vater Adelhard --«
»Aha!« brummte der Bruder Henricus. »Saget nichts weiter, mein lieber
Sohn! Ich danke Euch, daß Ihr mir das Tor geöffnet habt; nun leget Euch
wieder, und Sankt Benediktus versorge Euch mit einem heilsamen und
frommen Traum.«
»Euch desgleichen, mein Frater,« erwiderte der Bruder Pförtner und zog
sich zurück in seine Zelle; der Bruder Henricus fand seinen Weg schon
allein.
Er tappte die Gänge und Zellen entlang, und hinter mancher eichenen Tür
hervor vernahm er das sonore Schnarchen der Brüder und Väter im Herrn.
»Wie die Engel schlafen sie,« brummte der Bruder Henricus, fügte aber
sonderbarerweise an: »Na, na!«
So kam er vor der Pforte des Stiftskellners Adelhardus von Bruch an und
klopfte.
»^Domi!^« klang es im tiefen Baß -- ^domi^, das heißt »Bin zu Hause! Bin
drin!«
»Gott sei Dank,« murmelte Bruder Heinrich und trat ein mit dem durch die
Ordensregel des heiligen Benedikts vorgeschriebenen Gruße. Wer aber
nicht die Responsen darauf sang, das war der Vater Adelhardus. Der war
wirklich drinnen; er saß breit im bequemen Stuhle vor dem Eichentisch,
und wenn das, was da vor ihm stand, die letzten Überbleibsel vom
französischen Feste waren, so war's freilich hoch hergegangen zu Corvey,
aber auch noch mancherlei übrig geblieben.
Eine Schüssel mit einem zur Hälfte leider vertilgten gekochten Schinken!
Eine Schüssel mit dem Gerippe eines Truthahnes! Ein Brot wie ein halbes
Wagenrad und eine Reihe von Erdkrügen und Glasflaschen nebst einem
Humpen, der an und für sich, das heißt durch seine äußere Erscheinung,
schon das Auge erfreute, was auch der Inhalt sein mochte!
»^Non confido oculis meis^, ich traue meinen Augen nicht!« rief der
Vater Adelhardus, ein wenig lallend. »Bist du es, mein Sohn Heinrich?«
»Ich bin es, und was ich sehe, gefällt mir wohl,« erwiderte der brave,
alte Reitersmann und gute Bruder von Corvey, Heinrich von Herstelle.
»^Cor meum prae gaudio exultat^, das Herz hüpfet mir vor Freude. Soll
ich aufstehen, mein Sohn, dir entgegenzueilen? ^Desiste^, stehe ab davon
-- setze dich lieber selber, denn ich weiß, daß man dich auf einen
mühseligen Gang hinausgesendet hat ^ad paganos^, zu den Heiden -- in die
Wüsten, ^per deserta ac solitudines^. Ich habe dich sehr vermisset, mein
Sohn, in dem Drangsal der letzten Zeiten.«
Der Bruder Henricus stellte seinen Stab im Winkel ab und kam und sah hin
über den Tisch, und froh, gutmütig und heimisch-behaglich lächelnd auf
den Kellner im Weinberge des Herrn.
»Ich bin gewandert und habe gesehen. Ich bin zurückgekommen mit
Nachricht aus der Wüste und dem wilden Wald. Wollen Sie den Herrn
Priorem wecken, mein Pater, daß ich berichte, was ich sah und
erkundete?«
»^Non sum hebes nec stupidus^, da müßte ich ein Esel oder ein Schafskopf
sein. Setze dich, mein lieber Sohn, und erzähle fürs erste mir, was du
sahest -- für die andern hat's Zeit bis morgen.«
»Der Herr Prior hat mir aber bei seiner Seele anbefohlen, nach meiner
Rückkehr sogleich vor ihm zu erscheinen, sei es bei Tage, sei's bei
Nacht.«
»Halt!« rief der Vater Adelhard, beide weiche und breite Hände auf die
Lehnen seines Sessels stützend und sich also mühesam erhebend: »Er
erboset uns auch, so oft er kann; ärgern wir ihn desgleichen! Komm mit
mir, mein Sohn Heinrich; ich wecke ihn dir.«
Sie weckten ihn wirklich, den Prior von Corvey, Herrn Nikolaus von
Zitzewitz, und er nahm ihren Eifer auf, wie es sich gebührte.
Der Kellermeister ging zu ihm hinein, nachdem er dem Bruder Henricus
heimtückisch-schalkhaft den Ellenbogen in die Seite gestoßen hatte. Der
Bruder Henricus wartete vor der Tür; aber er hatte gar nicht lange zu
warten.
»Seine Hochwürden lassen dich grüßen, mein Sohn, und geben dir ihren
Segen --«
»Und?«
»Er hätte mir beinahe das erste, was ihm unter seiner Bettstatt zuhanden
kam, an den Kopf geworfen. Morgen bei guter Zeit will er mit dir reden
und dich anhören, mein Sohn. Wünschest du nun vielleicht, daß wir auch
zum Bruder von dem Felde, dem Vater Florentius, dem Herrn Subprior, uns
verfügen?«
»Ich denke, wir lassen es hiermit bewenden,« meinte der Bruder Henricus
ein wenig kläglich und verdrossen.
»Oder zum Vater Metternich, unserm guten Probst Ferdinandus?«
Der Bruder Henricus schüttelte nur den Kopf.
»Dann komme du wieder mit mir! Ich bin der einzige im Stift, der dir
noch ein Nachtessen und einen Trunk verschafft.«
Der Vater Adelhardus legte traulich seinen Arm in den seines greisen
Sohnes: »Ich sagte es dir ja; die Mühe hätten wir uns ersparen können,«
sagte er, als sie wieder in seinem Gemache vor dem Schinken und dem
Truthahn saßen, und der Bruder Henricus den vorbemeldeten Humpen nach
einem langen, langen Zuge, -- wiederum seufzend, aber diesmal ganz
behaglich -- seinem -- besten Freunde im Stift Corvey zum ersten Mal
zurückschob, nämlich zu neuer Füllung aus einem der ungeheuerlichen
grauen Steinkrüge mit dem in Blau gemalten Wappen der Abtei.


Siebentes Kapitel.

Daß in Corvey die Mauern noch heil und die Türen nicht ausgehoben oder
eingeschlagen waren, wissen wir jetzt; in der Beziehung hatte das Stift
es besser als die Stadt; sonst aber ließen die Zustände nach dem Abzug
der hohen Bundesgenossen auch bei den guten Benediktinern vieles zu
wünschen übrig.
Der Pater Adelhardus gab nunmehr dem Bruder Henricus ausführlichen
Bericht darüber.
»Ich rate dir, mein Sohn,« sprach er, »halte dich an die Knochen; ich
habe einen harten Kampf gefochten, ehe ich sie hier im Klosett in
Sicherheit hatte. ^O gula, gula hominum!^ Ach, über der Menschen
Freßgierigkeit! es war nicht einer, nicht ein einziger unter der
Brüderschaft, der mir die schmalen Bissen gönnte. Aber sie sollen es
verspüren beim nächsten Bräu; ^Cellarius sum^, ich bin der
Kellermeister! Halte du dich an mich und nimm vorlieb mit dem
Schinkenbein; an den Puterhahn hab' ich mich gehalten; doch nur weil
seine Besitzergreifung mir die größesten Ängste und Nöte verursacht hat.
Wahrlich, sie bliesen alle selber die Kämme auf und waren hinter mir
drein mit kalekutischem Gekoller, ^sed palmam reportavi^, ich habe
obgesieget!«
»So schlimm steht es hier bei Euch, Vater Adelhard?«
»Woui, ^mon fils^. Ehe sie uns nicht neues Schlachtvieh aus den obern
Dörfern zutreiben, ist freilich Hunger der beste Koch zu Corvey. An den
Geflügelhof mag ich gar nicht gedenken. Halte dich an den Schinken, Sohn
Heinrich: Buchweizen heißt es morgen, und Buchweizen wird es auch
übermorgen heißen. Buchweizen, Buchweizen, eine gesunde Zukost; aber ich
liebe dich, Henrice, und bin nicht wie die anderen: ich gönne dir den
Schinken und sehe zur Seite, während du speisest.«
Er sah wirklich weg, wenngleich tief seufzend.
Und es blieb freilich von dem Schinken wenig für den andern Tag übrig.
Seit langer Zeit hatte kein Corveyscher Mönch sich mit so gutem Rechte
zu seiner »Palme« eine Märtyrerkrone verdient, wie der Vater Adelhard
von Bruch an diesem Abend.
Jetzo aber schlug der mächtige Knochen wie Holz auf den Teller; der
Bruder Henricus war gesättigt, und der Humpen nahm seinen Weg zwischen
den beiden braven alten Gesellen wieder auf.
»Du hättest doch zu Hause sein sollen,« sprach der Cellarius. »Wie es
bei uns herging, als der Herr von Turenne sein Hauptquartier in Höxter
nahm, weißt du noch; aber wie freundlich noch zu guter Letzt der
Kommandante, den Turennius uns zurückließ, der Herr von Fougerais, war,
das ist dir nun leider entgangen. Hoch ging's her, bei Tage und bei
Nacht. Sie konnten nicht von uns lassen, und es wäre auch dumm von ihnen
gewesen, denn wir trugen ihnen auf, daß die Tische knackten -- o, du
hättest die Brüder sehen sollen. Das ging so hin -- unser
griechischgelehrter Vater Agapetus hat es uns aus dem Homero
verdeutschet -- weißt du, Sohn Heinrich, wie, wie -- im Schlosse des
Königs Odixus; und das Stift war die Königin Penelope, und die
Franzmänner waren die ^ambitores^, die ^proci^, die Freier! ^Ebibe!^
trink aus, mein Sohn; ^deposuimus eos vino^, wir haben sie häufig genug
zu Boden getrunken; aber sie standen immer am andern Morgen wieder auf.
Seine fürstlichen Gnaden von Münster, unser Herr Administrator, können
es uns nimmer vergessen, was wir alles angestellt haben, um hochdero
Verbündeten den Aufenthalt bei uns kommode zu machen; ob sie uns
freilich die Auslagen wieder ersetzen werden, das stehet wohl dahin. Man
hat so glorreiche Alliierte eben nicht um ein Stück Haferbrot und einen
Trunk aus der Schelpe, was sonst ein gar kühles und gesundes Wasser sein
soll!«
»Das meinte der Braunschweiger hohngrienig auch,« sagte der Bruder
Henricus.
»Davon nachher. Jetzt laß dir weiter erzählen. Siehe -- da liegt der
Schinken -- knochen! Wir hatten sie zu Hunderten in der Rauchkammer,
einen bei dem andern; vordem ein Anblick des Ergötzens, ^nunc lugubris
et tristis memoria^! Weg sind sie! Ja, ja, mein Sohn, ^via ad coelum
nonnisi lacrymis struitur^ -- der Weg zum Himmel gehet durch ein
Tränental. Wir hatten sie, ^Gallos^, meine ich, auf dem Tische und bei
Tische. Weg sind sie, ^galli et Galli^. Die einen in die Mägen der
andern; und wie es den Hennen zu Höxter ergangen ist, das werden die
nächsten neun Monden ausweisen. Da waren sie sich alle gleich, die aus
dem Languedoc und die aus der Bretagne, die aus der Normandie und die
aus der Pikardie, und ihr Haupthahn war nicht besser als sein Volk.
^Diabolus accipiat animam ejus^, der Böse nehme ihn beim Kragen auf
seinem Wege nach Wesel. Na, mein Sohn, du rittest mit dem Tilly in
deiner Jugend, du weißt Bescheid --«
»Sprechen Sie jetzo das ^Gratias^, mein Pater,« seufzte der Bruder
Henricus. »Grade weil ich mit dem Tilly ritt, will das mir in diesem
Momento nicht anstehen. Nachher wollen wir uns schlafen legen.«
»Das wollen wir mit nichten,« rief der Pater Adelhardus. »^Omnia
tempestive^, alles zu seiner Zeit. Habe ich mich deinethalben so heiser
gesprochen, so berichte mir nun auch, was du uns Gutes mitbringst vom
Herzog Rudolfus Augustus.«
»Das mögt Ihr nun nehmen, wie Ihr wollt,« flüsterte der Bruder Henricus.
»Er hatte den Wald, den Solling, gewaltig verrammelt. Er stand mit
Geschütz, Reitern und Fußvolk vom Idth her bis an den Fluß. Bis hieher
und nicht weiter! sprach er, nachdem er mir seine Rüstung hatte
vorweisen lassen. Es wäre selbst für den Turennius ein harter Marsch
durch den wilden Forst und die Weserberge gewesen.«
»Deshalb blieb er auch ^confortabiliter^ bei uns und zeigte den
^Huxarienses^, den Höxternschen, und uns seine und unseres Herrn
Bischofen und Administratoren Macht und Gewalt!«
»Nachher fand ich heute die Weserbruck abgebrochen.«
Der Cellarius von Corvey neigte bedächtig das Haupt:
»Es hat alles seine Gründe in dieser Welt. Diesmal sind wir in Holland
in Not, sonsten wäre es uns noch länger ganz wohl zu Corvey gewesen; --
nicht wahr, ^messieurs^? -- Uns? uns! lieber alter Sohn Heinrich, wir
leben in einer bittern, verworrenen Zeit. Haben wir die Pikenierer und
Musketierer des Braunschweigers hier gehabt, so könnten wir wohl auch
noch einmal seine Artolleria über den Fluß rücken sehen. Der Herr von
Fougerais war ein kluger Mann und marschierte mit dem Bart auf der
Schulter ab. Sohn Heinrich, weißt du, was mir ein Himmelstrost ist in
diesen schlimmen Tagen?«
»Nun, mein Pater?«
»Daß ich nur Kellermeister zu Corvey bin und nicht Herr Christoph
Bernhard von Galen, Bischof zu Münster; und daß nach unseres guten Abts
Arnolden seligem Abscheiden Er Administrator vom Stift und von
hochberühmter Abtei geworden ist, und ich nicht Abt. Jetzo können wir zu
Bette gehen, mein Sohn!«
Das konnten sie freilich; sie kamen nur fürs erste noch nicht dazu. Sie
hörten die nämlichen Glocken, von denen der Helmstedter Student, Herr
Lambert Tewes, in der Schenke zum heiligen Veit erweckt wurde aus seinem
Schlummer.
»St. Vitus, was ist dieses?« rief der Bruder Henricus, die Hand hinters
Ohr legend.
»Hörst du etwas, Henrice?«
»Es klingt wie Sturm.«
»So summt es mir schon tagelang im Kopfe; -- ich meine, es liegt in der
Corveyschen Luft. ^Collusio Diaboli^, Täuscherei und Blendwerk des
Teufels! Wir wollen schlafen gehen.«
»Nein, nein, das ist keine Gaukelei der Luftgeister. Sie läuten Sturm zu
Höxter!« rief der Bruder Henricus. Er war zu dem hohen Fenster mit den
kleinen runden Glasscheiben getreten und hatte einen Flügel geöffnet.
»Hören Sie, mein Vater?«
»Sohn Heinrich, du hast wieder einmal recht. Hilf mir auf; o, über die
Heringskrämer, sie werden wohl auch einen Brand zu löschen haben! Sehen
wir, ob der Himmel im Westen rot wird.«
Auf den Bruder Henricus gestützt, wackelte der brave Vater Adelhardus
durch den langen Korridor in den westlichen Flügel des Gebäudes, und
beide Alte sahen neugierig nach der Stadt hin. Das Himmelsgewölbe war
und blieb aber dort dunkel; und es war gleich schwarze Nacht im Morgen
und im Abend.
»Dann ist es etwas anderes; und nun werden der Herr Prior, samt Subprior
und Probst doch wohl aus den warmen Nestern herfürmüssen,« brummte der
Cellarius, zwischen Schadenfreude und eigener Unbehaglichkeit
schwankend.
»Ich habe es mir wohl gedacht; es sah böse aus in Höxter, als ich heute
abend von der Fähre kam. Die Gassen gefielen mir nicht, und was darin
geredet und geflüstert wurde, gefiel mir noch weniger.«
»Rebellion? Tumult in der Stadt? ^Seditio ante portas?^«
»Unsern teuren Brüdern zu St. Niklas war's auch nicht wohl zumute.«
»Also das alte Spiel! Trumpf Luther, -- Trumpf Papst! der Herr schütze
uns, Schellenkönig -- Eckerdaus! Stich Münster -- Stich Braunschweig! --
zieht Ihr die Lärmglocke von Corvey, Frater Henricus; treibt mir die
Klostermannschaft in die Hosen; ich will die Väter und Brüder
hervorpochen. O Herr von Zitzewitz, ach Herr von Metternich, der Herr
gibt es den Seinen im Traum. Ho, ho, heraus! heraus! ^all' arme! all'
arme!^ Huxar im Aufstande!!!« --
Nun war es doch spaßig, in diesem Moment in diesem Korridor der großen
Abtei Corvey zu stehen und darauf zu achten, wie auf den Waffenruf das
sonore Schnarchgetön hinter den Zellentüren plötzlich stille stand --
als ob ein Mühlwerk angehalten wurde. Dann aber polterte und grummelte
es hinter diesen Türen, dann öffneten sich die ersten derselben -- dann
wimmelte es hervor und zwar aus allen.
»St. Veit und Benediktus, was gibt es denn nun schon wieder?«
Der Vater Adelhardus ließ sich auf keine Antwort ein; er weckte den
Herrn Prior zum andern Mal. Der Bruder Heinrich von Herstelle aber, ein
Mann, dem es ganz gleichgültig war, ob in seiner Abtei die fünf ersten
Bücher der Annalen des Tacitus wiedergefunden worden waren, verstand es
dagegen noch ganz trefflich, eine Lärmglocke zu ziehen und eine
Wachtmannschaft in den Harnisch und an die Spieße zu bringen.
Corvey lief durcheinander:
»St. Veit, die Braunschweiger sind über den Fluß! St. Benedikt, der
Fougerais ist umgekehrt. Sie sind im Handgemenge in Höxter! Aus den
Betten für das Stift! Auf für Christoph Bernhard, -- auf für Corvey!«
Die ältesten Greise wankten hervor. Der Propst Ferdinand von Metternich
kam; es kam der Subprior Florentius von dem Felde, und zuletzt kam auch
der Herr Prior Nikolaus von Zitzewitz.
»Das war mir eine schwere Mühe,« erzählte nachher der Vater Adelhardus.
»^Elinguis stabat^, gleich einem Ölgötz, gleich einem Stocke stand er
und rieb sich die Augen. ^Vae turbatori^; wer auch die Schuld davon
tragen mag, -- mir vergißt er die Molestierung in seinem Leben nicht.«
Dem sei nun, wie ihm wolle, -- so kam Corvey auf die Beine! ... Höxter
und Corvey!


Achtes Kapitel.

Was uns anbetrifft, so kamen wir von den Beinen noch gar nicht herunter.
Verfügen wir uns zurück nach Höxter, und zwar mit kühler Stirn und
gelassenem Gemüt: es ist uns beides vonnöten, und des letzteren rühmen
wir uns vor allem. Der große Autor der Dasselschen Chronik Meister Hans
Letzner, natürlich schnöde zubenamset der Fabelhans, konnte nicht
kritisch-ruhiger in den Wirrwarr seiner Tage oder insbesondere in das
Getümmel des St. Vitus-Festes hineingucken, als wir in diese Höxtersche
Lärmnacht nach dem Abmarsch des Marschalls von Turenne und des Herrn von
Fougerais.
In der Stadt war längst alles auf den Beinen! Der Grimm mußte heraus,
und jetzt hatte eben die Gärung den Zapfen aus dem Spundloch getrieben:
sinnverwirrend ergoß sich die trübe Flut, und da wir von Corvey kommen
und also wissen, wie es dort aussieht, so wissen wir auch, daß fürs
erste niemand vorhanden war, der den Ölzweig über diese schlimmen Wasser
hintragen oder noch besser das Öl selber in sie hineingießen konnte.
Auch die Frauen befanden sich in den Gassen, und das war das
Allerschlimmste. Sie, die Weiber, hatten auch von der französischen
Einquartierung zu leiden, und zwar in mehr als einer Weise, und
wahrhaftig mehr als die Männer. In welchen Winkeln hatten sie sich mit
ihren heulenden hungernden Kindern verkriechen müssen! Glücklich noch,
wenn sie nicht daraus hervorgezogen wurden, um die tägliche und
nächtliche Lustbarkeit durch ihre Gegenwart zu verschönen. Nun kamen sie
von ihren leeren Speiseschränken, versudelten Betten, verschweinigelten
Fußböden und suchten ihrerseits die geeigneten Persönlichkeiten und
Zustände, an denen sie ihren Grimm und Groll auslassen konnten.
Katholikinnen wie Lutheranerinnen waren sich darin einig, daß mehreres
gesagt und getan werden müsse, ehe es wieder Ruhe und Anstand in Höxter
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