Höxter und Corvey: Erzählung - 2

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stolperte und fiel, als sie mit ihrem Bündel über den Bord des Kahnes
stieg. Die von der Wacht lachten alle über das alte Weib.
Von dem Mönch nahm der Schiffer seinen Lohn, ohne weiter etwas zu
bemerken; aber die beiden Münsterschen Kriegsleute und der
Bürgerkorporal Polhenne hielten die Hüte in der Hand. Mit einem stummen
Gruße für alle und mit einem Kopfneigen für seine Glaubensgenossen
schritt der Bruder Henricus durch das Brucktor, den übrigen voran.
Die Kröppel-Leah trieb einer der wachthaltenden Schneider
spaßhafterweise mit dem Spießende zum eiligeren Forthumpeln an. Ihr sah
der Fährmann am nachdenklichsten jetzo nach und nahm einen und den
andern Kumpan aus dem Volk, das sich sonst noch an der Fährstelle
angesammelt hatte, zu einem Geflüster beiseite.
Der Student Meister Lambert Tewes hatte nach der kurzen und derben
Abweisung seines ehrwürdigen Verwandten den Hut wieder aufgesetzt; aber
als ein braver Bursch, der mit den Philistern umzugehen weiß, ließ er so
leicht nicht locker. Wenn er vorhin vom Etruskermeer gesungen hatte, so
begab er sich jetzt auf ein ander Gewässer, griff rückwärts nach dem
Horaz in seiner Tasche, um sich zu vergewissern, daß dieser Trostbringer
noch vorhanden sei, und summte, was voreinst dem Aelius Lamia
vorgepfiffen worden war, dem unwirschen Onkel Helmrich von Sankt Kilian
hin:
^Musis amicus, tristitiam et metus^
^Tradam protervis in mare Creticum^
^Portare ventis^ --
er sang es aber deutsch in absonderlicher Umschreibung:
»Der Wind pfeift hin zur Kreterflut,
Verdruß und Wut
Und Grämlichkeit
Fährt mit ihm weit!
Dem Musensohn kommt's närrisch vor,
Kratzt sich der Philosoph am Ohr;
es würde mir das Herz abdrücken, Ehrwürden Herr Oheim, wann ich als
Eurer Frauen Schwestersohn Euch so leichthin, ohne nochmals Eure Kniee
umfaßt zu haben, Eures Weges in Übelgewogenheit gehen ließe. Es ist wohl
wahr, sie haben mir ^Consilium abeundi^ gegeben, aber --«
»Und ich und meine Hausfrau haben desgleichen getan!« rief der Pastor
zornig. »Herr, haltet mich nicht länger auf; ich und mein Haus haben
nichts mehr mit Euch zu schaffen.«
Der Prediger ging schneller zu; aber der Neffe hielt sich hartnäckig an
seiner Seite.
»Bei den Penaten Eures Herdes, Herr Oheim --«
Er kam mit seiner Rede wiederum nicht zu Ende. Plötzlich stand der alte,
strenge Herr still und rief:
»Was wollt Ihr eigentlich noch, Monsieur, nachdem ich Euch meine Meinung
so deutlich gesagt habe? Ist das eine Zeit für Narrenteiding? Sehet Euch
um, ist das ein Schauspiel dem Auge, um dabei den Horatius abzuleiern?
Sehet mir in das Herz; -- in dem Hause Gottes haben die Fremden ihre
Rosse gestallt; in meiner Kirchen haben sie ihre Bacchanalia gehalten! O
rufet nur ^Evoë^, ^Evoë^, und lobet den Bacchus und die Venus, die --;
greifet Euch doch in das eigene Herz; ist denn das Volk der Teutschen,
das arme elende Volk -- hauslos und dachlos hier und an so mancher
anderen Statt -- in der Lust und Begierde, des römischen Poeten geile
Reime an sein schmerzend Ohr klingen zu hören?! Sehet um Euch, Mensch,
und gehet und lasset mich meines Weges gehen; was hülfe es Euch, daß Ihr
mit mir kämet? Auch bei mir würdet Ihr eine verwüstete Heimstätte und
einen kalten Herd finden.«
Der geistliche Herr hatte eine Handbewegung um sich her gemacht, und was
diese harte, magere, knochige Hand andeutete, das sah freilich trostlos
genug aus.
Sturm auf Sturm war seit dem Jahre 1618 über das Höxtersche Weichbild
hingefahren. Kein Chronist hat noch gezählt, wie oft dieser Ort, die
Fährstelle und Brücke am großen Völkerübergang zwischen Ost und Westen
dem Schwert und der Brandfackel anheimgefallen war. Aber die Ruinen, die
wüsten Stellen, die Ärmlichkeit der wenigen wieder aufgerichteten
Menschenwohnungen und diese in ihrer allerneuesten Verwüstung zeugten
davon. Gleich einem verwesenden Körper lag die Stadt Huxar in dem grauen
Abendlicht des Dezembers da, und die alten schwarzen Kirchen ragten wie
das Knochengerüst aus dem zerfallenen Fleische der Stadt. Und die Gasse
war voll des zerstampften Strohs, des Schutts, der Asche und Trümmer und
stank auch sonst dem Heer des allerchristlichsten Königs übel nach; der
Student hielt sich die Nase zu, schob den Hut von einem Ohr zum anderen
und nickte:
»Bei den Göttern, es ist ein Elend!«
Das war es; aber das Laster saß eben doch zu tief im Blut. Herr Lambert
zitierte wieder; wenngleich mit kläglichster Miene:
»Wem klagt das Volk des Reiches Fall,
Wen ruft es an mit Seufzerschwall?
Wen schickt uns Zeus als Rächer her,
Wem legt er in die Hand die Wehr?
Dein Licht verhüllt, schwing nieder dich,
Augur Apoll errette mich, --
^ad Augustum Caesarem^ ist die Ode überschrieben, Herr Oheim.«
»Den Herrn sollt Ihr anrufen; sein Name ist Zebaoth! Emanuel ist sein
heiliger Name!« sprach der Pfarrherr, die drohende Hand erhebend und
weiter schreitend. Jetzt ließ der Student und Neffe ihn ziehen und stand
still und sah ihm nach und dann noch einmal sich um in Höxter.


Viertes Kapitel.

»Die Vetternschaft und zärtliche Verwandtschaft hätten wir demnach also
vergeblich begrüßet!« sagte der in die Wildnis ausgetriebene Bürger und
ungeratene Sohn der erlauchten und erleuchteten Mutter Julia Karolina.
»Sie haben mir immer meinen Weichmut vorgeworfen; aber hier habe ich es
wahrlich nicht an Hartnäckigkeit fehlen lassen. Da hab' ich doch getan
und versucht, was meine seligen Eltern nur verlangen konnten. Ein
anderer wär' längst grob geworden und hätte der lieben Frau Tante und
dem Herrn Onkel den Stuhl vor die Tür geschoben; nur solch ein
gutherziger Gesell wie ich läßt sich dreimal aus ihr herauswerfen, ohne
auf die ihm von früher Jugend an eingebläute Pietas den Teufel
herabzubeschwören. Alle Höllengeister, erlöset mich von dem weichen
Gemüte!«
Er kratzte sich bedenklich am Krauskopf, obgleich er vor zehn Minuten
noch jeden Weltweisen, der dergleichen tun würde, arg in gebundener Rede
gelästert hatte. Dann griff er von neuem hinterwärts in den Sack, traf
aber auch diesmal auf wenig mehr drin als auf den Günstling des Mäcenas,
den Liebhaber Glycerens, den Freund des Varus, -- auf den alten sonnigen
Schäker, den Flaccus. So stand er in der beginnenden deutschen
Winternacht, als plötzlich der weiße Benediktinermönch, der Bruder
Henricus, abermals an ihm vorbeiging. Der Frater hatte noch einen Besuch
bei dem Minoritenprediger, den der Fürstbischof Bernhard von Galen der
katholischen Kirche in Höxter als Hirten vorgesetzt, abgestattet, hatte
ihn jedoch nicht zu Hause angetroffen und war, vom Küster zu Sankt Peter
beschieden, ihm nach dem Hause des Bürgermeisters Thönis Merz
nachgegangen. Er hatte seinen Minoriten richtig gefunden und sein Wort
mit ihm ausgetauscht, und nun war er auf dem Wege zum Corveytor.
»^Salve Domine!^« sagte der Student recht freundlich; und der Mönch
schreckte auf, wie es schien, aus recht unbehaglichem Gedankenspiel. Er
grüßte aber auch freundlich mit einer Verneigung und wollte damit ruhig
an dem jungen Gelehrten vorüber; aber so glatt ging dieses doch nicht.
Herr Lambert Tewes ging sofort mit ihm und führte die Unterhaltung
weiter.
»Sie gehen nach Hause, ehrwürdiger Herr Pater?«
»Ich gehe nach einer langen, mühsamen Wanderung durch die arge Welt heim
in meine Zelle.«
»Und Sie wissen also wohl gar nicht, wie gut Sie es haben, mein Pater?«
Trotz seiner Verstimmung mußte der Alte doch lächeln, und seinen Schritt
mäßigend, fragte er:
»Sie gehen bei diesem üblen Wetter noch nicht heim, gelehrter Herr
Studiosus?«
»Wie gerne!« seufzte der Student; »aber haben Sie auch einmal, Herr
Pater, einen Onkel und eine Tante gehabt? O heiliger Kilianus, in welche
Hände ist dein Haus übergegangen! Ich hatte so sicher da auf eine
Abendmahlzeit und einen Strohsack unter dem Schutze deines Marterzeugs
gezählt! Ehrwürdiger Herr, sehet hier; als sie mich von Helmstedt
wegtrieben, ließ ich ihnen meine Schulden und nahm ihnen diesen
Göttersohn in Schweinsleder aus ihrer Bibliotheka mit. Den werde ich nun
bei dieser lieblichen Witterung die Nacht über in einer dieser
Höxterischen Ruinen an einem eingefallenen Herde als Kopfkissen nehmen
müssen. Was meinen Sie aber, mein Pater, wenn Sie ihn mir abhandelten um
ein Billiges? Wenn Phöbus nicht längst diesem niederträchtigen
Erdenwinkel den Rücken gewendet hätte, würde ich das Volum Ihnen gern
zur genauen Besichtigung ^ad oculos^ rücken. Es ist eine treffliche
Edition -- ^Amstelodami, ex officina Henrici et Theodori Boom^ -- mit
einem Frontispizium vom berühmten Maler und Kupferstecher Romyn de
Hooghe; he?!«
»Ich war ein Reitersmann in meiner Jungheit und habe schon und leider
als Junker Heinrich von Herstelle meines Informators Latein an den
Büschen hängen lassen,« erwiderte der Mönch. »Ich danke Euch herzlich,
mein lieber junger Freund, und befehle Euch dem Schutze des
Allerhöchsten. Sonsten haben wir auch zu Corvey eine mächtige,
fürtreffliche Bücherei, und sie würden mich weidlich auslachen, wenn ich
von der Reise dergleichen ihnen mitbrächte und zutrüge.«
»Eulen nach Athen,« murmelte der Student. »Ich will's aus Höflichkeit
glauben; also -- vergnügliche gute Nacht, mein Pater.«
Der Mönch verneigte sich abermals und ging; der Helmstedtsche Studiosus
blieb und rief, als der Bruder Henricus ihm aus Gehörweite entfernt zu
sein schien:
»Also wiederum abgeblitzt! Da lohnte es sich in Wahrheit, seinen
Musquedonner oder seine Schnapphahnflinte zu laden! Pulver und Blei!
^Palsambleu! mille millions tonnerres!^ kein Fluch in teutscher Zunge
kann da ausreichen, um einem Menschenkind Luft zu machen. Da nimmt der
Pfaff meinen warmen Sitz am Corveyschen Stiftsküchenfeuer in seiner
Kutte mit hin; aber -- das ist die Zeit, so ist die Zeit! so sind sie
alle -- gleichviel ob katholisch oder lutherisch aufgewichst! o du
heiliger Simson von der Kollegienkirche! o ihr Fleischtöpfe der ^alma
mater Julia^! o du lange Burschenbank im Ducksteinkeller! -- Und solch
einem Böotier hab' ich meinen Lauriger für ein Nachtessen angeboten?!
Schäme dich, Lambertus, und geh in dich! Bei den Unsterblichen, es
bleibt also bei einem Nachtquartier in den Ruderibus des Herrn
Feldzeugmeisters von Wrangel. Gesegnet sei sein Angedenken! gesegnet sei
sein Durchmarsch nach dem Allgäu zum Bregenzer Sturm! Gesegnet seien
seine Kartaunen und Bombarden von Anno Sechsundvierzig! Da kriegte man
doch wahrlich Lust, selbst den Tilly und den Generalfeldmarschall von
Gleen und das Jahr Vierunddreißig mit seinem >Salzkotter Quartier!<
hochleben zu lassen. Was finge nun heute unsereiner an ohne die Ruinen
vom Höxterschen Blutbad?!«
Ei ja, aber wer hatte sonst in dieser Nacht ein ruhig, warmes Quartier,
ein sicheres und behagliches Kopfkissen und Deckbett in Huxar an der
Weser? Eigentlich niemand. Es kam keiner zu einem gesunden Schlaf, außer
den gesunden Kindern. Es war eben in der Woche nach der Sündflut, und
wie die übriggebliebene Familie Noah sehr bald in Gezänk und Hohn
gegeneinander ihrem Unbehagen in der verwüsteten Welt Raum gab, so lag
die Höxtersche Bürgerschaft jetzt schon im Hader untereinander und sich
im Haar.
Sie hatten sich -- beide, Katholiken wie Lutheraner, -- manches von der
fremdländischen Besatzung gefallen lassen müssen, von dem Herrn von
Turenne und dem Herrn von Fougerais. Nun waren die Franzosen abgezogen,
aber das Gift in den Herzen und Köpfen war geblieben. Ein jeglicher
suchte nach jemand, an dem er seine Galle, gestraft oder ungestraft --
freilich am liebsten in letzterer Weise -- los werden konnte, und beim
rechten Lichte besehen, war niemand vorhanden, der sich hätte anmaßen
dürfen, den Wächter über die kochenden Leidenschaften zu spielen und den
Deckel überzustülpen. Sie waren alle Partei! Und der, welcher die
stärkste Hand hätte haben können, nämlich Herr Christoph Bernhard, der
Bischof zu Münster, führte Krieg mit den Herren Generalstaaten, pfiff
auf das Deutsche Reich, versah sich nichts Gutes von dem Herzog Rudolfus
Augustus auf dem Amthause Wickensen und wußte zu allem übrigen, daß
seine »gute Munizipalstadt«, nämlich die Stadt Höxter, der Mehrzahl
ihrer Eingesessenen nach, gleichfalls nach Wickensen ausschaute, jedoch
aus einem ganz anderen Grunde als er, der Bischof.
»Laufe schnell mal einer nach dem Bürgermeister!« heißt es sonst wohl in
einem gutgeordneten Gemeinwesen; aber auch das war leider Gottes hier
und diesmal von wenig Nutzen. Auch der Bürgermeister von Höxter, Herr
Thönis Merz, war Partei. Man hatte von katholischer Seite, um ihn und
seine »arme gute Stadt« unter die Botmäßigkeit des Stiftes und des Herrn
Fürstbischofs zu bringen, ihm und ihr mit Schikanen und sogar auch
Handgreiflichkeiten arg zugesetzt. Seine Berichte und Klageschriften an
den Schutzherrn zu Wickensen schrien laut genug darob.
Wie lange war es her zum Exempel, daß man ihn, den hochedlen
Bürgermeister, samt seinem ehrbaren Rat auf die Sperlingsjagd geschickt
hatte? War das keine Schikane, daß man von Corvey aus der guten und
glorreichen Stadt Huxar wie der geringsten Bauernschaft der Umgegend
auferlegte, ihr Quantum Sperlingsköpfe im Stiftshofe abzuliefern,
vorzuzählen und aufzuschütten?!
^Per vulnera Christi^ hatte die Stadt zum Herzog Rudolfus Augustus um
Hülfe geschrien, und der Bruder Henricus konnte darüber aussagen, wie
die herzoglichen Gnaden über den Fall dachten.
Ja, ja, wie sich der Bischof und der Herzog über die Weser mit Briefen
und von braunschweigischer Seite vor kurzem auch mit einigen Kompagnien
Fußvolks und stattlichen Reiterzügen unter die Nase rückten und
jahrelang hin- und herzogen, das steht auf manchem Blatte zu lesen, das
gelb und muffig aus jener Zeit zu uns herabgekommen ist.
»Die gute, uralte Stadt Höxar, welche umb ihrer Gerechtsamen und ihrer
heiligen Religion halber Leib, Gut und Blut verloren, wird nunmehr als
das geringste Dorf gehalten. Ihre Schlüssel sind ihr benommen, in ihrem
guten Rechte, sich selber einen Scharfrichter zu halten, ist sie
turbiret. Selbst das Judengeleit, so die Stadt doch vor und nach Anno
1624 gehabt, ist ihr auch wieder weggenommen, daß anitzo ein Hauffen
Juden alle in bürgerlichen Häusern allda wohnen, ihren Wucher treiben
und dennoch der Stadt nichts geben!«
So schrie die lutherische Bürgerschaft.
»Wir werden Euch lehren, so anzäpfliche Worte ohngescheut
auszusprengen!« grollte der katholische Teil der Bevölkerung; und von
Corvey aus ließen sich die bischöflichen Gnaden vernehmen:
»Mit sonderbarer Milde und Clementz haben wir bis dato Euch ungeratene,
widerspänstige Leute zu Huxar traktiret. Unser landesfürstliches Recht
haben wir gewahret: wie reimet sich dann, was Ihr zur Bemantelung des
Braunschweigischen feindlichen Einfalls hervorbringet?«
»Sind nicht schon Bürgermeistern Johann Wildenhorern deswegen, daß er
vor 16 Jahren bey weyland Herrn Abts Arnolden Zeiten in damaligen seinem
Bürgermeister-Ampte für der Stadt Jura gestrebet, allererst vor drei
Jahren, wie itztermeldeten Herrn Abts Fürstliche Gnaden schon todt
gewesen, Früchte weggenommen?« klang's vom Rathause.
»Und wer war Schuld daran,« klang's zurück, »daß unserm Fürstlich
Münsterischen Hauptmann Meyer, welcher mit zwanzig Mann bei Euch lag,
das Trommelspiel, womit derselbe durch seinen Tambour die gewöhnliche
Reveli, Scharwacht und Zapfenstreich schlagen lassen, gewaltthätig
weggenommen und zu der Braunschweigischen Munition unterm Rathhaus
hingebracht wurde?«
»Seid Ihr nicht in dieser anhängigen Sache gleichsam ^Judex, pars et
advocatus^?« schrie die Stadt.
»Mit nichten! Von Gottes Gnaden sind Wir, Christoph Bernhard, Bischof zu
Münster, Administrator zu Corvey, Eueres heillosen, rebellischen
Municipii eingesetzter und gesalbter Landesherr!« schallte es zurück.
»Hm, Euer Liebden,« kam's vom jenseitigen Ufer der Weser schriftlich
herüber, »ohne Euer Liebden in Ihrer unstreitigen Gerechtsame und
Landes-Fürstlicher Hoheit zu nahe zu treten, so haben wir doch als
Erb-Schutz-Herr wegen unseres Fürstlichen Hauses Interesse dahin zu
sehen, daß die arme Stadt in solchem desperaten Zustande nicht gleichsam
vor unsern Augen zu Grunde gehen muge.« ^Signatum^: »Rudolff Augustus«
»An den Herrn Bischoffen von Münster.«
In der gehörigen Zeit nach diesem freundnachbarlichen Schreiben war --
eben der Herr von Turenne in Höxter eingerückt. Eine verständlichere
Antwort auf den herzoglichen Brief hatte Herr Christoph Bernhard von
Galen nicht zu geben gewußt, daß aber der gute Nachbar auf dem Amtshause
Wickensen sie sofort verstanden hatte, wird uns deutlich werden, wenn
der alte Reiter Heinrich von Herstelle zu Corvey Kunde davon gibt, was
er im Solling sah.
Was die Judenschaft anbetraf, über deren in Wegfall gekommenes
»Geleitsrecht« die Bürgerschaft von Höxter gleichfalls so sehr erbost
war, so hielt sie sich verständigerweise so still als möglich, ohne daß
es ihr viel half. -- --
Und nun hatte der Herr von Fougerais am Tage vor der Heimkehr des
Bruders Henricus, nach Wesel abmarschierend, die gute Stadt des
Fürstbischofs von Münster verlassen und -- nicht ohne seine Gründe,
vorher die Brücke, die auf das rechte Weserufer überführte, abgebrochen.
Christoph Bernhard mit seiner Macht stand weit in der Ferne gegen
Holland: für eine Zeit waren Höxter und Corvey sich selber
anheimgegeben, und wild und wüst wie in den Häusern und Gassen sah es in
den Gemütern aus.
Der Helmstedter konsiliierte Studente, der, seinem Worte wenigstens
nach, eben im Begriff war, ein Nachtquartier in irgendeiner Ruine
früheren Wohlstandes zu suchen, konnte da vielleicht unter Umständen den
ruhigsten und behaglichsten Platz in ganz Huxar finden. Es war jetzt
ganz Nacht und viel zu dunkel, um den Horatius hervorzuholen und, mit
dem Zeigefinger zwischen die Blätter greifend, sich ein Vaticinium aus
ihm herauszulangen, wie man früher desgleichen sich aus dem Virgilius
holte. Herr Lambert ging deshalb einfach wie jedes andere Menschenkind,
wie das Schicksal ihn führte; und bis jetzt hatte dasselbe ihn, wo nicht
immer behaglich, so doch stets recht vergnüglich durch die arge Welt
geleitet.


Fünftes Kapitel.

Wir sind allesamt in dieser argen Welt gleich Kindern, denen das
Schreiben gelehrt und vom Meister die Hand geführt wird. Nun gingen wir
nur allzu gern sofort dem Bruder Henricus nach; allein schon hat man uns
auf die Schulter geklopft und nach einer anderen Richtung hingedeutet.
Wie die beiden anderen, die mit ihr den wilden Strom überschifft hatten,
war die Kröppel-Leah nach Hause gegangen. Und wenn der Pfarrherr von St.
Kilian hinter der vor dem Neffen verriegelten Tür sein Weib am warmen
Ofen, wenn der Mönch von Corvey seine Zelle fand, so fand die Greisin
ihre Heimat in Ordnung -- wie die Zeitläufte es erlaubten. Fünfzig Mann
von einem pikardischen Musketierregimente hatten in ihrem Hause gelegen
und es sich darin während ihrer Abwesenheit behaglich gemacht! Die
Haustür war halb aus den Angeln gerissen, der größte Teil der
Fensterscheiben auch hier zertrümmert. Sämtliches Gerät war in Stücke
zerschlagen worden. Die Wände waren vom Rauch geschwärzt und sonst
besudelt und mit Namen und wüsten Zeichnungen versaut: die fremden Gäste
hatten nicht alle schreiben können, aber sie hatten sämtlich zu zeichnen
verstanden -- und wie!
Die fünfzig französischen Kriegsmänner hatten das Judenhaus für sich
allein gehabt; aber noch am Tage ihres Abzuges mit dem Herrn von
Fougerais oder vielmehr am Abende dieses Tages hatte sich jemand
eingefunden, der eine Weile starr mit gefalteten Händen und
unterdrücktem Schluchzen ob der Wüstenei dastand, bis er in ein lautes
Weinen ausbrach; und dieser Jemand war ein kleines Mädchen von vierzehn
Jahren, der Greisin letzte Enkelin, gewesen. Wo das Kind sich während
der letzten wilden Wochen verborgen gehalten hatte, war dem Stift und
der Stadt gleichgültig; wenn auch uns nicht. Jetzt war es wieder da und
weinte auf den Trümmern des Hauses seiner Großmutter gerade so laut und
bitterlich wie weiland der Prophet Jeremias auf den Trümmern der großen
Stadt Jerusalem.
Doch das Kind hatte sich gefaßt. Es war eben auch ein Sprößling jenes
tapfersten aller Völker, das sich auf jedem Brandschutt seines Glückes
schier noch hartnäckiger als das deutsche Volk mit seinen Wurzelfasern
wieder anzuheften wußte. Vor allen Dingen hatte das Kind aus dem Hause
der Glaubensgenossen, in welchem es von der Barmherzigkeit aufgenommen
worden war, ein Lämpchen geholt und mit diesem in der Hand seine schwere
Arbeit angefangen. Das kleine Judenmädchen hatte das Haus gereinigt!
Mit seinem Lämpchen in der armen, winzigen, zitternden Hand suchte es
das verwüstete Haus ab vom Keller bis zum Boden, und häufig stöhnte es
und rief den Gott seines Volkes an, wenn es wieder ein schlau und sicher
angelegtes Versteck von der in diesen Angelegenheiten noch schlaueren,
auch auf dergleichen ausstudierten Soldateska des Herrn Marschalls von
Turenne aufgefunden und ausgestöbert fand. Und das Kind war ganz allein
in seiner Not gewesen. Niemand hatte sich darum gekümmert in Höxter,
wenn der Schimmer der kleinen Lampe bald hier, bald dort an einer der
leeren, schwarzen Fensteröffnungen vorüberflimmerte. Der Volks- und
Glaubensgenosse Meister Samuel hatte die Lampe hergeliehen; sein Weib
Siphra hatte einen Handkorb mit einem schwarzen Brot, einem schlechten
Messer ohne Griff, einen irdenen Krug und einen mit Draht umflochtenen
Kochtopf dazugetan:
»Wir würden dir die Taschen mit Gold und Silber füllen und dir eine
Herde von Zicklein und Böcklein voraufgehen und dir einen Wagen voll
Mehl und Honig und Öl und Gewürz nachfahren lassen, wenn wir's könnten;
aber wir können's nicht, Simeath!« hatte man in Meister Samuels Hause
gesagt.
»Da hast du noch einen Besen; es ist wohl der schlechteste, aber wir
brauchen alle übrigen selber,« hatte die Frau Siphra hinzugefügt, und so
war das Kind mit herzlichem Dank und überströmenden Dankestränen
gegangen und hatte es dem König Louis, dem Bischof von Münster, dem
Herrn von Turenne, dem Herrn von Fougerais, dem Stift und der Stadt zum
Trotz möglich gemacht, sich einzurichten, bis die Großmutter heimkehrte.
Nach dem Hofe zu gelegen, befand sich im oberen Stockwerke des Hauses
ein enges, dunkles Gemach, in welchem ^monsieur le Sergeant^ mit seiner
Zuhälterin, einer dicken Champenoise aus Troyes, sein Quartier
aufgeschlagen gehabt hatte und das demnach nicht ganz so ruiniert worden
war als die übrigen Räume. In dieser Kammer stand noch das Bett
aufrecht, sowie auch ein Tisch, dem nicht mehr als ein Bein abgeschlagen
worden war. Zwei oder drei noch sitzgerechte Schemel waren auch dem
scherzhaften Mutwillen des abziehenden Heeres entgangen. Schlimm genug
sah es freilich auch hier auf dem Estrich, in den Winkeln und an den
Wänden aus, und das Bettzeug warf Simeath sofort mit Schaudern in den
Hof hinunter. Jedoch da war der Besen und die fleißige, harte, kleine
Hand! Um Mitternacht war das Stübchen gekehrt, der Tisch festgestellt
und vom nächsten verlassenen Kavallerieposten in der Gasse ein
zurückgelassenes Bund Stroh in die Bettstelle der Mamzelle Genevion
heraufgeschleppt: eine Viertelstunde nach Mitternacht lag Simeath in
diesem Stroh und schlief der Heimkunft der Großmutter entgegen.
Wie das Kind erwachte -- vielleicht aus einem glücklichen Traume! -- wie
es aufrecht saß und sich verstört zum Bewußtsein kommend, in der
Scheußlichkeit rings umher umsah; wie es den Tag bis zur abermaligen
Dämmerung des Abends hinbrachte, wollen wir auch nicht beschreiben. Wir
sahen die Großmutter mit ihrem Bündel, von dem Spott und den bösen
Blicken der Wachtmannschaft an der Weserfähre verfolgt, humpelnd ihren
Weg nach ihrer Behausung zu nehmen. Wir malen uns in der Phantasie aus,
wie sie vor dem Hause stand und nach den zerbrochenen Scheiben
hinaufstarrte, wie sie dann über die zertrümmerte Schwelle durch die
türlose Pforte trat, und wie ihre Enkelin aufschreiend und mit
ausgebreiteten Armen ihr entgegenlief und umherdeutete:
»Sieh! sieh! -- Alles hin! nichts heil; -- alles voll Ekel und Graus; --
alles wüste, alles von den schlechten, wilden Menschen zugrunde
gerichtet!«
Nachher hat die Greisin das Haupt gesenkt und einen Spruch in der
Sprache ihrer Väter gesagt. Nachher hat das kleine Mädchen die alte
Mutter die Treppe hinaufgeleitet und sie in das gereinigte Stübchen
geführt. Nachher ist es wieder ganz Nacht geworden; die kleine Lampe aus
dem Hause des Meisters Samuel und der guten Frau Siphra brennt auf dem
Tische, der von Simeath so künstlich zum Stehen gebracht wurde.
Großmutter und Enkelin sitzen an diesem Tisch einander gegenüber. Das
Bündel mit der Erbschaft aus Gronau im Fürstentum Hildesheim liegt unter
dem Tische.
»Mein gut Kind, wie oft hat der Feind oder das böse Volk in der Stadt
dieses Haus umgestürzt, seit ich Atem ziehe? Wer so weit herkommt aus
der Zeit wie ich; wer den tollen Christian und den Tilly, den Herrn von
Gleen, die Herzogin von Hessen, den Feldmarschall Holzappel, den Wrangel
und so viele kleinere wilde Heeresführer vorüberreiten oder über sich
wegtreten ließ, der macht sich wenig mehr aus dem Herrn von Turenne und
dem Herrn von Fougerais! Ich sehe nur wieder, was ich schon ein Dutzend
Male sah. Es ist eine Zeit, in welcher der Mensch das Schlimmste als das
Gewöhnlichste hinnimmt. Weine nicht, mein liebes Herzchen, du bist jung
und magst noch in eine reinlichere, bessere Zeit hineinleben!«
So hatte die Kröppel-Leah getröstet, und währenddessen hatte der Pastor
zu St. Kilian in der bekannten Weise seinem Neffen eine recht gute Nacht
gewünscht; währenddessen hatte der Student seinen Tröster im Jammer, den
Horatius, dem Bruder Henricus zum Kauf oder für ein Abendessen und
Nachtquartier hingehalten; währenddessen -- war von der Erbschaft der
alten Jüdin an einem Orte, den wir jetzt erst betreten, die Rede.
Am Corveytor in einer Schenke, die im Schild als Zeichen einen Mann
führte, welcher in einem Ölkessel tanzte, in der Kneipe »zum heiligen
Vitus«, wurde von dem Bündel der Kröppel-Leah gesprochen.
Der Student, Herr Lambert Tewes, war dreimal in das zerbrochene
Mauerwerk früheren städtischen Wohlbehagens hineingetappt und hatte sich
nach den Ruderibus der Herdstellen hingetastet:
»Brr,« hatte er jedesmal geächzt, und zum vierten Male wiederholte er
den Versuch, sich ein Nachtlager unter den Ruinen des Dreißigjährigen
Krieges in Höxter zu suchen, nicht.
»^Basolamano, messieurs^, meine hochgünstigen Herren!« sagte er höflich
beim Eintritt in die Kneipe zu Sankt Veit am Corveytor; ein heller Jubel
und lautstimmiges Halloh begrüßten ihn dagegen.
Bis auf den Stadtkorporal Polhenne waren sie allesamt wieder vorhanden
und noch einige ihres Gelichters dazu. Eine saubere Gesellschaft,
meistenteils auch bereits halb angetrunken und zu jeglichem Schabernack
und Unfug bereit! Da war auch der Schulkamerad Wigand Säuberlich, mit
dem die Höxterianischen Scholarchen ihren gelehrten Kohl nicht hatten
schmalzen können; und dieser, nämlich der Säuberlich, war's auch hier,
der den Studenten zuerst wieder am Knopfe faßte, ihm mit einem
schäumenden Bierkrug unter den Bart trat und schrie:
»Da haben wir ihn! Kerl, wo hast du gesteckt? Seit einer Stunde sehnen
wir uns nach dir wie eine alte Jungfer nach dem Hochzeiter. Juchhe,
jetzt ist der Ofen geheizt und der Braten fertig! Tragt auf, gute
Gesellen; Messer und Gabel heraus! Du gehst doch mit uns, Lambert?«
»Wohin, Signor Strillone?«
»Keine fremden Zungen jetzo, Alter! Wir verbitten uns das. Du gehst mit
uns, wohin wir dich führen werden.«
»Schlecht Wetter draußen --«
»Aber gut genug, um eine lustige Nacht daraus zu machen in Höxter!
Sämtliche gegenwärtige, ehrbare und fröhliche Kumpanei, Mann für Mann,
geht mit.«
»Aber zuerst will ich doch wissen, was es gibt, Gevattern.«
»Hunger und Wut, Herr Doktor!« schrie's aus dem Haufen. »Alles, was die
Franzosen uns gelassen haben.«
»Und einen elenden Durst dazu!«
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