Die Harzreise - 4

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weißen Federn die Winde spielten, die schlanken Glieder von einem
schwarzseidenen Mantel so fest umschlossen, daß die edlen Formen
hervortraten, und das freie, große Auge, ruhig hinabschauend in die
freie, große Welt.
Als ich noch ein Knabe war, dachte ich an nichts als an Zauber und
Wundergeschichten, und jede schöne Dame, die Straußfedern auf dem Kopfe
trug, hielt ich für eine Elfenkönigin, und bemerkte ich gar, daß die
Schleppe ihres Kleides naß war, so hielt ich sie für eine Wassernixe.
Jetzt denke ich anders, seit ich aus der Naturgeschichte weiß, daß jene
symbolischen Federn von dem dümmsten Vogel herkommen, und daß die
Schleppe eines Damenkleides auf sehr natürliche Weise naß werden kann.
Hätte ich mit jenen Knabenaugen die erwähnte junge Schöne in erwähnter
Stellung auf dem Brocken gesehen, so würde ich sicher gedacht haben:
Das ist die Fee des Berges, und sie hat eben den Zauber ausgesprochen,
wodurch dort unten alles so wunderbar erscheint. Ja, in hohem Grade
wunderbar erscheint uns alles beim ersten Hinabschauen vom Brocken, alle
Seiten unseres Geistes empfangen neue Eindrücke, und diese, meistens
verschiedenartig, sogar sich widersprechend, verbinden sich in unserer
Seele zu einem großen, noch unentworrenen, unverstandenen Gefühl.
Gelingt es uns, dieses Gefühl in seinem Begriff zu erfassen, so erkennen
wir den Charakter des Berges. Dieser Charakter ist ganz deutsch, sowohl
in Hinsicht seiner Fehler, also auch seiner Vorzüge. Der Brocken ist ein
Deutscher. Mit deutscher Gründlichkeit zeigt er uns klar und deutlich,
wie ein Riesenpanorama, die vielen hundert Städte, Städtchen und Dörfer,
die meistens nördlich liegen, und ringsum alle Berge, Wälder, Flüsse,
Flächen, unendlich weit. Aber eben dadurch erscheint alles wie eine
scharfgezeichnete, rein illuminierte Specialkarte, nirgends wird das
Auge durch eigentliche schöne Landschaften erfreut; wie es denn immer
geschieht, daß wir deutschen Kompilatoren wegen der ehrlichen
Genauigkeit, womit wir alles und alles hingeben wollen, nie daran denken
können, das einzelne auf eine schöne Weise zu geben. Der Berg hat auch
so etwas Deutschruhiges, Verständiges, Tolerantes; eben weil er die
Dinge so weit und klar überschauen kann. Und wenn solch ein Berg seine
Riesenaugen öffnet, mag er wohl noch etwas mehr sehen, als wir Zwerge,
die wir mit unsern blöden Äuglein auf ihm herum klettern. Viele wollen
zwar behaupten, der Brocken sei sehr philiströse, und Claudius sang:
»Der Blocksberg ist der lange Herr Philister!« Aber das ist Irrtum.
Durch seinen Kahlkopf, den er zuweilen mit einer weißen Nebelkappe
bedeckt, giebt er sich zwar den Anstrich von Philiströsität; aber, wie
bei manchen andern großen Deutschen, geschieht es aus purer Ironie. Es
ist sogar notorisch, daß der Brocken seine burschikosen, phantastischen
Zeiten hat, z. B. die erste Mainacht. Dann wirft er seine Nebelkappe
jubelnd in die Lüfte, und wird, eben so gut wie wir Übrigen, recht
echtdeutsch romantisch verrückt.
Ich suchte gleich die schöne Dame in ein Gespräch zu verflechten; denn
Naturschönheiten genießt man erst recht, wenn man sich auf der Stelle
darüber aussprechen kann. Sie war nicht geistreich, aber aufmerksam
sinnig. Wahrhaft vornehme Formen. Ich meine nicht die gewöhnliche,
steife, negative Vornehmheit, die genau weiß, was unterlassen werden
muß; sondern jene seltnere, freie, positive Vornehmheit, die uns genau
sagt, was wir thun dürfen, und die uns, bei aller Unbefangenheit, die
höchste gesellige Sicherheit giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen
Verwunderung, viele geographische Kenntnisse, nannte der wißbegierigen
Schönen alle Namen der Städte, die vor uns lagen, suchte und zeigte ihr
dieselben auf meiner Landkarte, die ich über den Steintisch, der in der
Mitte der Turmplatte steht, mit echter Docentenmiene ausbreitete. Manche
Stadt konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr mit den Fingern
suchte, als mit den Augen, die sich unterdessen auf dem Gesicht der
holden Dame orientierten, und dort schönere Partieen fanden, als
»Schierke« und »Elend«. Dieses Gesicht gehörte zu denen, die nie reizen,
selten entzücken, und immer gefallen. Ich liebe solche Gesichter, weil
sie mein schlimmbewegtes Herz zur Ruhe lächeln. Die Dame war noch
unverheiratet; obgleich schon in jener Vollblüte, die zum Ehestande
hinlänglich berechtigt. Aber es ist ja eine tägliche Erscheinung, just
bei den schönsten Mädchen hält es so schwer, daß sie einen Mann
bekommen. Dies war schon im Altertum der Fall, und, wie bekannt ist,
alle drei Grazien sind sitzen geblieben.
In welchem Verhältnis der kleine Herr, der die Damen begleitete, zu
denselben stehen mochte, konnte ich nicht erraten. Es war eine dünne,
merkwürdige Figur. Ein Köpfchen, sparsam bedeckt mit grauen Härchen, die
über die kurze Stirn bis an die grünlichen Libellenaugen reichten, die
runde Nase weit hervortretend, dagegen Mund und Kinn sich wieder
ängstlich nach den Ohren zurück ziehend. Dieses Gesichtchen schien aus
einem zarten, gelblichen Thone zu bestehen, woraus die Bildhauer ihre
ersten Modelle kneten; und wenn die schmalen Lippen zusammen kniffen,
zogen sich über die Wangen einige tausend halbkreisartige, feine
Fältchen. Der kleine Mann sprach kein Wort, und nur dann und wann, wenn
die ältere Dame ihm etwas Freundliches zuflüsterte, lächelte er wie ein
Mops, der den Schnupfen hat.
Jene ältere Dame war die Mutter der jüngern, und auch sie besaß die
vornehmsten Formen. Ihr Auge verriet einen krankhaft schwärmerischen
Tiefsinn, um ihren Mund lag strenge Frömmigkeit, doch schien mir's, als
ob er einst sehr schön gewesen sei, und viel gelacht und viele Küsse
empfangen und viele erwidert habe. Ihr Gesicht glich einem Kodex
palimpsestus, wo unter der neuschwarzen Mönchsschrift eines
Kirchenvatertextes die halberloschenen Verse eines altgriechischen
Liebesdichters hervorlauschen. Beide Damen waren mit ihrem Begleiter
dieses Jahr in Italien gewesen und erzählten mir allerlei Schönes von
Rom, Florenz und Venedig. Die Mutter erzählte viel von den Raphaelschen
Bildern in der Peterskirche; die Tochter sprach mehr von der Oper im
Theater Fenice. Beide waren entzückt von der Kunst der Improvisatoren.
Nürnberg war der Damen Vaterstadt; doch von dessen altertümlicher
Herrlichkeit wußten sie mir wenig zu sagen. Die holdselige Kunst des
Meistergesangs, wovon uns der gute Wagenseil die letzten Klänge
erhalten, ist erloschen, und die Bürgerinnen Nürnbergs erbauen sich an
welschem Stegreifunsinn und Kapaunengesang. O Sankt Sebaldus, was bist
du jetzt für ein armer Patron!
Derweil wir sprachen, begann es zu dämmern; die Luft wurde noch kälter,
die Sonne neigte sich tiefer, und die Turmplatte füllte sich mit
Studenten, Handwerksburschen und einigen ehrsamen Bürgersleuten, samt
deren Ehefrauen und Töchtern, die alle den Sonnenuntergang sehen
wollten. Es ist ein erhabener Anblick, der die Seele zum Gebet stimmt.
Wohl eine Viertelstunde standen alle ernsthaft schweigend, und sahen,
wie der schöne Feuerball im Westen allmählich versank; die Gesichter
wurden vom Abendrot angestrahlt, die Hände falteten sich unwillkürlich;
es war, als ständen wir, eine stille Gemeinde, im Schiffe eines
Riesendoms, und der Priester erhöbe jetzt den Leib des Herrn, und von
der Orgel herab ergösse sich Palestrina's ewiger Choral.
Während ich so in Andacht versunken stehe, höre ich, daß neben mir
jemand ausruft: »Wie ist die Natur doch im allgemeinen so schön!« Die
Worte kamen aus der gefühlvollen Brust meines Zimmergenossen, des jungen
Kaufmanns. Ich gelangte dadurch wieder zu meiner Werkeltagsstimmung, war
jetzt imstande, den Damen über den Sonnenuntergang recht viel Artiges zu
sagen, und sie ruhig, als wäre nichts passiert, nach ihrem Zimmer zu
führen. Sie erlaubten mir auch, sie noch eine Stunde zu unterhalten. Wie
die Erde selbst, drehte sich unsre Unterhaltung um die Sonne. Die Mutter
äußerte, die in Nebel versinkende Sonne habe ausgesehen wie eine
rotglühende Rose, die der galante Himmel herabgeworfen in den
weitausgebreiteten, weißen Brautschleier seiner geliebten Erde. Die
Tochter lächelte und meinte, der öftere Anblick solcher
Naturerscheinungen schwäche ihren Eindruck. Die Mutter berichtigte
diese falsche Meinung durch eine Stelle aus Goethe's Reisebriefen, und
frug mich, ob ich den Werther gelesen? Ich glaube, wir sprachen auch von
Angorakatzen, etruskischen Vasen, türkischen Shawls, Maccaroni und Lord
Byron, aus dessen Gedichten die ältere Dame einige Sonnenuntergangsstellen,
recht hübsch lispelnd und seufzend, recitierte. Der jüngern Dame, die
kein Englisch verstand und jene Gedichte kennen lernen wollte, empfahl
ich die Übersetzungen meiner schönen, geistreichen Landsmännin, der
Baronin Elise von Hohenhausen; bei welcher Gelegenheit ich nicht
ermangelte, wie ich gegen junge Damen zu thun pflege, über Byrons
Gottlosigkeit, Lieblosigkeit, Trostlosigkeit, und der Himmel weiß was
noch mehr, zu eifern.
Nach diesem Geschäfte ging ich noch auf dem Brocken spazieren; denn ganz
dunkel wird es dort nie. Der Nebel war nicht stark, und ich betrachtete
die Umrisse der beiden Hügel, die man den Hexenaltar und die
Teufelskanzel nennt. Ich schoß meine Pistolen ab, doch es gab kein Echo.
Plötzlich aber höre ich bekannte Stimmen, und fühle mich umarmt und
geküßt. Es waren meine Landsleute, die Göttingen vier Tage später
verlassen hatten, und bedeutend erstaunt waren, mich ganz allein auf dem
Blocksberge wieder zu finden. Da gab es ein Erzählen und Verwundern und
Verabreden, ein Lachen und Erinnern, und im Geiste waren wir wieder in
unserm gelehrten Sibirien, wo die Kultur so groß ist, daß die Bären in
den Wirtshäusern angebunden werden, und die Zobel dem Jäger guten Abend
wünschen.
Im großen Zimmer wurde eine Abendmahlzeit gehalten. Ein langer Tisch mit
zwei Reihen hungriger Studenten. Im Anfange gewöhnliches
Universitätsgespräch: Duelle, Duelle und wieder Duelle. Die
Gesellschaft bestand meistens aus Hallensern, und Halle wurde daher
Hauptgegenstand der Unterhaltung. Die Fensterscheiben des Hofrats Schütz
wurden exegetisch beleuchtet. Dann erzählte man, daß die letzte Kur bei
dem König von Cypern sehr glänzend gewesen sei, daß er einen natürlichen
Sohn erwählt, daß er sich eine Lichtensteinsche Prinzessin ans linke
Bein antrauen lassen, daß er die Staatsmaitresse abgedankt, und daß das
ganze gerührte Ministerium vorschriftsmäßig geweint habe. Ich brauche
wohl nicht zu erwähnen, daß sich dieses auf Halle'sche Bierwürden
bezieht. Hernach kamen die zwei Chinesen aufs Tapet, die sich vor zwei
Jahren in Berlin sehen ließen, und jetzt in Halle zu Privatdocenten der
chinesischen Ästhetik abgerichtet werden. Nun wurden Witze gerissen. Man
setzte den Fall, ein Deutscher ließe sich in China für Geld sehen; und
zu diesem Zwecke wurde ein Anschlagzettel geschmiedet, worin die
Mandarinen Tsching-Tschang-Tschung und Hi-Ha-Ho begutachteten, daß es
ein echter Deutscher sei, worin ferner seine Kunststücke aufgerechnet
wurden, die hauptsächlich in Philosophieren, Tabakrauchen und Geduld
bestanden, und worin noch schließlich bemerkt wurde, daß man um zwölf
Uhr, welches die Fütterungsstunde sei, keine Hunde mitbringen dürfe,
indem diese dem armen Deutschen die besten Brocken weg zu schnappen
pflegten.
Ein junger Burschenschafter, der kürzlich zur Purifikation in Berlin
gewesen, sprach viel von dieser Stadt, aber sehr einseitig. Er hatte
Wisotzki und das Theater besucht; beide beurteilte er falsch. »Schnell
fertig ist die Jugend mit dem Wort« u. s. w. Er sprach von
Garderobeaufwand, Schauspieler- und Schauspielerinnenskandal u. s. w.
Der junge Mann wußte nicht, daß, da in Berlin überhaupt der Schein der
Dinge am meisten gilt, was schon die allgemeine Redensart »man so duhn«
hinlänglich andeutet, dieses Scheinwesen auf den Brettern erst recht
florieren muß, und daß daher die Intendanz am meisten zu sorgen hat für
die »Farbe des Barts, womit eine Rolle gespielt wird«, für die Treue der
Kostüme, die von beeidigten Historikern vorgezeichnet und von
wissenschaftlich gebildeten Schneidern genäht werden. Und das ist
notwendig. Denn trüge mal Maria Stuart eine Schürze, die schon zum
Zeitalter der Königin Anna gehört, so würde gewiß der Bankier Christian
Gumpel sich mit Recht beklagen, daß ihm dadurch alle Illusion verloren
gehe; und hätte mal Lord Burleigh aus Versehen die Hose von Heinrich IV.
angezogen, so würde gewiß die Kriegsrätin von Steinzopf, geb. Lilientau,
diesen Anachronismus den ganzen Abend nicht aus den Augen lassen. Solche
täuschende Sorgfalt der Generalintendanz erstreckt sich aber nicht bloß
auf Schürzen und Hosen, sondern auch auf die darin verwickelten
Personen. So soll künftig der Othello von einem wirklichen Mohren
gespielt werden, den Professor Lichtenstein schon zu diesem Behufe aus
Afrika verschrieben hat; in »Menschenhaß und Reue« soll künftig die
Eulalia von einem wirklich verlaufenen Weibsbilde, der Peter von einem
wirklich dummen Jungen, und der Unbekannte von einem wirklich geheimen
Hahnrei gespielt werden, die man alle drei nicht erst aus Afrika zu
verschreiben braucht. In der »Macht der Verhältnisse« soll ein
wirklicher Schriftsteller, der schon mal ein paar Maulschellen bekommen,
die Rolle des Helden spielen; in der »Ahnfrau« soll der Künstler, der
den Jaromir giebt, schon wirklich einmal geraubt oder doch wenigstens
gestohlen haben; die Lady Macbeth soll von einer Dame gespielt werden,
die zwar, wie es Tieck verlangt, von Natur sehr liebevoll, aber doch mit
dem blutigen Anblick eines meuchelmörderischen Abstechens einigermaßen
vertraut ist; und endlich, zur Darstellung gar besonders seichter,
witzloser, pöbelhafter Gesellen soll der große Wurm engagiert werden,
der große Wurm, der seine Geistesgenossen jedesmal entzückt, wenn er
sich erhebt in seiner wahren Größe, hoch, hoch, »jeder Zoll ein Lump!«
-- Hatte nun obenerwähnter junger Mensch die Verhältnisse des Berliner
Schauspiels schlecht begriffen, so merkte er noch viel weniger, daß die
Spontini'sche Janitscharenoper, mit ihren Pauken, Elephanten, Trompeten
und Tamtams, ein heroisches Mittel ist, um unser erschlafftes Volk
kriegerisch zu stärken, ein Mittel, das schon Plato und Cicero
staatspfiffig empfohlen haben. Am allerwenigsten begriff der junge
Mensch die diplomatische Bedeutung des Ballets. Mit Mühe zeigte ich ihm,
wie in Hoguets Füßen mehr Politik sitzt als in Buchholz' Kopf, wie alle
seine Tanztouren diplomatische Verhandlungen bedeuten, wie jede seiner
Bewegungen eine politische Beziehung habe, so z. B. daß er unser
Kabinett meint, wenn er, sehnsüchtig vorgebeugt, mit den Händen
weitausgreift, daß er den Bundestag meint, wenn er sich hundertmal auf
einem Fuße herumdreht, ohne vom Fleck zu kommen, daß er die kleinen
Fürsten im Sinne hat, wenn er wie mit gebundenen Beinen herumtrippelt,
daß er das europäische Gleichgewicht bezeichnet, wenn er wie ein
Trunkener hin und her schwankt, daß er einen Kongreß andeutet, wenn er
die gebogenen Arme knäuelartig in einander verschlingt, und endlich, daß
er unsern allzugroßen Freund im Osten darstellt, wenn er in allmählicher
Entfaltung sich in die Höhe hebt, in dieser Stellung lange ruht, und
plötzlich in die erschrecklichsten Sprünge ausbricht. Dem jungen Manne
fielen die Schuppen von den Augen, und jetzt merkte er, warum Tänzer
besser honoriert werden, als große Dichter, warum das Ballet beim
diplomatischen Korps ein unerschöpflicher Gegenstand des Gesprächs ist,
und warum oft eine schöne Tänzerin noch privatim von dem Minister
unterhalten wird, der sich gewiß Tag und Nacht abmüht, sie für sein
politisches Systemchen empfänglich zu machen. Beim Apis! wie groß ist
die Zahl der exoterischen, und wie klein die Zahl der esoterischen
Theaterbesucher! Da steht das blöde Volk und gafft, und bewundert
Sprünge und Wendungen, und studiert Anatomie in den Stellungen der
Lemiere, und applaudiert die Entrechats der Röhnisch, und schwatzt von
Grazie, Harmonie und Lenden -- und Keiner merkt, daß er in getanzten
Chiffern das Schicksal des deutschen Vaterlandes vor Augen hat.
Während solcherlei Gespräche hin und her flogen, verlor man doch das
Nützliche nicht aus den Augen und den großen Schüsseln, die mit Fleisch,
Kartoffeln u. s. w. ehrlich angefüllt waren, wurde fleißig zugesprochen.
Jedoch war das Essen schlecht. Dies erwähnte ich leichthin gegen meinen
Nachbar, der aber mit einem Accente, woran ich den Schweizer erkannte,
gar unhöflich antwortete, daß wir Deutschen, wie mit der wahren
Freiheit, so auch mit der wahren Genügsamkeit unbekannt seien. Ich
zuckte die Achseln und bemerkte, daß die eigentlichen Fürstenknechte und
Leckerkramverfertiger überall Schweizer sind und vorzugsweise so genannt
werden, und daß überhaupt die jetzigen schweizerischen Freiheitshelden,
die so viel Politisch-Kühnes ins Publikum hineinschwatzen, mir immer
vorkommen wie Hasen, die auf öffentlichen Jahrmärkten Pistolen
abschießen, alle Kinder und Bauern durch ihre Kühnheit in Erstaunen
setzen, und dennoch Hasen sind.
Der Sohn der Alpen hatte es gewiß nicht böse gemeint, »es war ein dicker
Mann, folglich ein guter Mann,« sagt Cervantes. Aber mein Nachbar von
der andern Seite, ein Greifswalder, war durch jene Äußerung sehr
pikiert; er beteuerte, daß deutsche Thatkraft und Einfältigkeit noch
nicht erloschen sei, schlug sich dröhnend auf die Brust, und leerte
eine ungeheure Stange Weißbier. Der Schweizer sagte: »Nu! nu!« Doch je
beschwichtigender er dieses sagte, desto eifriger ging der Greifswalder
ins Geschirr. Dieser war ein Mann aus jenen Zeiten, als die Läuse gute
Tage hatten und die Friseure zu verhungern fürchteten. Er trug
herabhängend langes Haar, ein ritterliches Barett, einen schwarzen
altdeutschen Rock, ein schmutziges Hemd, das zugleich das Amt einer
Weste versah, und darunter ein Medaillon mit einem Haarbüschel von
Blüchers Schimmel. Er sah aus wie ein Narr in Lebensgröße. Ich mache mir
gern einige Bewegung beim Abendessen, und ließ mich daher von ihm in
einen patriotischen Streit verflechten. Er war der Meinung, Deutschland
müsse in achtunddreißig Gauen geteilt werden. Ich hingegen behauptete,
es müßten achtundvierzig sein, weil man alsdann ein systematischeres
Handbuch über Deutschland schreiben könne, und es doch notwendig sei,
das Leben mit der Wissenschaft zu verbinden. Mein Greifswalder Freund
war auch ein deutscher Barde, und, wie er mir vertraute, arbeitete er an
einem Nationalheldengedicht zur Verherrlichung Hermanns und der
Hermannsschlacht. Manchen nützlichen Wink gab ich ihm für die
Anfertigung dieses Epos. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er die
Sümpfe und Knüppelwege des Teutoburger Waldes sehr onomatopöisch durch
wässrige und holprige Verse andeuten könne, und daß es eine patriotische
Feinheit wäre, wenn er den Varus und die übrigen Römer lauter Unsinn
sprechen ließe. Ich hoffe, dieser Kunstkniff wird ihm, eben so
erfolgreich wie andern Berliner Dichtern, bis zur bedenklichsten
Illusion gelingen.
An unserem Tische wurde es immer lauter und traulicher, der Wein
verdrängte das Bier, die Punschbowlen dampften, es wurde getrunken,
smoliert und gesungen. Der alte Landesvater und herrliche Lieder von
W. Müller, Rückert, Uhland u. s. w. erschollen. Schöne Methfesselsche
Melodien. Am allerbesten erklangen unseres Arndts deutsche Worte: »Der
Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte!« Und draußen
brauste es, als ob der alte Berg mitsänge, und einige schwankende
Freunde behaupteten sogar, er schüttle freudig sein kahles Haupt, und
unser Zimmer werde dadurch hin und her bewegt. Die Flaschen wurden
leerer und die Köpfe voller. Der eine brüllte, der andere fistulierte,
ein dritter deklamierte aus der »Schuld«, ein vierter sprach Latein, ein
fünfter predigte von der Mäßigkeit, und ein sechster stellte sich auf
den Stuhl und docierte: »Meine Herren! Die Erde ist eine runde Walze,
die Menschen sind einzelne Stiftchen darauf, scheinbar arglos zerstreut;
aber die Walze dreht sich, die Stiftchen stoßen hier und da an und
tönen, die einen oft, die andern selten, das giebt eine wunderbare,
komplizierte Musik, und diese heißt Weltgeschichte. Wir sprechen also
erst von der Musik, dann von der Welt, und endlich von der Geschichte;
letztere aber teilen wir ein in Positiv und spanische Fliegen --« Und so
ging's weiter mit Sinn und Unsinn.
Ein gemütlicher Mecklenburger, der seine Nase im Punschglase hatte, und
selig lächelnd den Dampf einschnupfte, machte die Bemerkung, es sei ihm
zu Mute, als stände er wieder vor dem Theaterbüffet in Schwerin. Ein
anderer hielt sein Weinglas wie ein Perspektiv vor die Augen und schien
uns aufmerksam damit zu betrachten, während ihm der rote Wein über die
Backen ins hervortretende Maul hinablief. Der Greifswalder, plötzlich
begeistert, warf sich an meine Brust und jauchzte: »O, verständest du
mich, ich bin ein Liebender, ich bin ein Glücklicher, ich werde wieder
geliebt, und, Gott verdamm' mich! es ist ein gebildetes Mädchen, denn
sie hat volle Brüste, und trägt ein weißes Kleid, und spielt Klavier!«
-- Aber der Schweizer weinte, und küßte zärtlich meine Hand, und
wimmerte beständig: »O Bäbeli! O Bäbeli!«
In diesem verworrenen Treiben, wo die Teller tanzen und die Gläser
fliegen lernten, saßen mir gegenüber zwei Jünglinge, schön und blaß wie
Marmorbilder, der eine mehr dem Adonis, der andere mehr dem Apollo
ähnlich. Kaum bemerkbar war der leise Rosenhauch, den der Wein über ihre
Wangen hinwarf. Mit unendlicher Liebe sahen sie sich einander an, als
wenn einer lesen könnte in den Augen des andern, und in diesen Augen
strahlte es, als wären einige Lichttropfen hineingefallen aus jener
Schale voll lodernder Liebe, die ein frommer Engel dort oben von einem
Stern zum andern hinüber trägt. Sie sprachen leise mit sehnsuchtbebender
Stimme, und es waren traurige Geschichten, aus denen ein
wunderschmerzlicher Ton hervor klang. »Die Lore ist jetzt auch tot!«
sagte der eine und seufzte, und nach einer Pause erzählte er von einem
Halle'schen Mädchen, das in einen Studenten verliebt war, und, als
dieser Halle verließ, mit niemand mehr sprach, und wenig aß, und Tag und
Nacht weinte, und immer den Kanarienvogel betrachtete, den der Geliebte
ihr einst geschenkt hatte. »Der Vogel starb, und bald darauf ist auch
die Lore gestorben!« so schloß die Erzählung, und beide Jünglinge
schwiegen wieder und seufzten, als wollte ihnen das Herz zerspringen.
Endlich sprach der andere: »Meine Seele ist traurig! Komm mit hinaus in
die dunkle Nacht! Einatmen will ich den Hauch der Wolken und die
Strahlen des Mondes. Genosse meiner Wehmut! ich liebe dich, deine Worte
tönen wie Rohrgeflüster, wie gleitende Ströme, sie tönen wieder in
meiner Brust, aber meine Seele ist traurig!«
Nun erhoben sich die beiden Jünglinge, einer schlang den Arm um den
Nacken des andern, und sie verließen das tosende Zimmer. Ich folgte
ihnen nach und sah, wie sie in eine dunkle Kammer traten, wie der eine,
statt des Fensters, einen großen Kleiderschrank öffnete, wie beide vor
demselben mit sehnsüchtig ausgestreckten Armen stehen blieben und
wechselweise sprachen. »Ihr Lüfte der dämmernden Nacht!« rief der erste,
»wie erquickend kühlt ihr meine Wangen! Wie lieblich spielt ihr mit
meinen flatternden Locken! Ich steh' auf des Berges wolkigem Gipfel,
unter mir liegen die schlafenden Städte der Menschen, und blinken die
blauen Gewässer. Horch! dort unten im Thale rauschen die Tannen! Dort
über die Hügel ziehen in Nebelgestalten die Geister der Väter. O, könnt'
ich mit euch jagen auf dem Wolkenroß durch die stürmische Nacht, über
die rollende See, zu den Sternen hinauf! Aber ach! ich bin beladen mit
Leid, und meine Seele ist traurig!« -- Der andere Jüngling hatte
ebenfalls seine Arme sehnsuchtsvoll nach dem Kleiderschrank
ausgestreckt, Thränen stürzten aus seinen Augen, und zu einer
gelbledernen Hose, die er für den Mond hielt, sprach er mit wehmütiger
Stimme: »Schön bist du, Tochter des Himmels! Holdselig ist deines
Antlitzes Ruhe! Du wandelst einher in Lieblichkeit! Die Sterne folgen
deinen blauen Pfaden im Osten. Bei deinem Anblick erfreuen sich die
Wolken, und es lichten sich ihre düstern Gestalten. Wer gleicht dir am
Himmel, Erzeugte der Nacht? Beschämt in deiner Gegenwart sind die
Sterne, und wenden ab die grünfunkelnden Augen. Wohin, wenn des Morgens
dein Antlitz erbleicht, entfliehst du von deinem Pfade? Hast du gleich
mir deine Halle? Wohnst du im Schatten der Wehmut? Sind deine Schwestern
vom Himmel gefallen? Sie, die freudig mit dir die Nacht durchwallten,
sind sie nicht mehr? Ja, sie fielen herab, o schönes Licht, und du
verbirgst dich oft, sie zu betrauern. Doch einst wird kommen die Nacht,
und du, auch du bist vergangen, und hast deine blauen Pfade dort oben
verlassen. Dann erheben die Sterne ihre grünen Häupter, die einst deine
Gegenwart beschämt, sie werden sich freuen. Doch jetzt bist du gekleidet
in deine Strahlenpracht, und schaust herab aus den Thoren des Himmels.
Zerreißt die Wolken, o Winde, damit die Erzeugte der Nacht hervor zu
leuchten vermag, und die buschigen Berge erglänzen, und das Meer seine
schäumenden Wogen rolle in Licht!«
Ein wohlbekannter, nicht sehr magerer Freund, der mehr getrunken als
gegessen hatte, obgleich er auch heute Abend, wie gewöhnlich, eine
Portion Rindfleisch verschlungen, wovon sechs Gardelieutenants und ein
unschuldiges Kind satt geworden wären, dieser kam jetzt in allzugutem
Humor, d. h. ganz _en_ Schwein, vorbeigerannt, schob die beiden
elegischen Freunde etwas unsanft in den Schrank hinein, polterte nach
der Hausthüre, und wirtschaftete draußen ganz mörderlich. Der Lärm im
Saal wurde auch immer verworrener und dumpfer. Die beiden Jünglinge im
Schranke jammerten und wimmerten, sie lägen zerschmettert am Fuße des
Berges; aus dem Hals strömte ihnen der edle Rotwein, sie überschwemmten
sich wechselseitig, und der eine sprach zum andern: »Lebewohl! Ich
fühle, daß ich verblute. Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du buhlst
und sprichst: >Ich betaue dich mit Tropfen des Himmels. Doch die Zeit
meines Welkens ist nahe, nahe der Sturm, der meine Blätter zerstört!
Morgen wird der Wanderer kommen, kommen, der mich sah in meiner
Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen, und wird mich
nicht finden.<« -- Aber alles übertobte die wohlbekannte Baßstimme, die
draußen vor der Thüre unter Fluchen und Jauchzen sich gottlästerlich
beklagte, daß auf der ganzen dunkeln Weenderstraße keine einzige
Laterne brenne, und man nicht einmal sehen könne, bei wem man die
Fensterscheiben eingeschmissen habe.
Ich kann viel vertragen -- die Bescheidenheit erlaubt mir nicht, die
Bouteillenzahl zu nennen -- und ziemlich gut konditioniert gelangte ich
nach meinem Schlafzimmer. Der junge Kaufmann lag schon im Bette, mit
seiner kreideweißen Nachtmütze und safrangelben Jacke von
Gesundheitsflanell. Er schlief noch nicht, und suchte ein Gespräch mit
mir anzuknüpfen. Er war ein Frankfurt-am-Mainer, und folglich sprach er
gleich von den Juden, die alles Gefühl für das Schöne und Edle verloren
haben, und die englischen Waren fünfundzwanzig Procent unter dem
Fabrikpreise verkaufen. Es ergriff mich die Lust, ihn etwas zu
mystificieren; deshalb sagte ich ihm, ich sei ein Nachtwandler, und
müsse im voraus um Entschuldigung bitten für den Fall, daß ich ihn etwa
im Schlafe stören möchte. Der arme Mensch hat deshalb, wie er mir am
andern Tag gestand, die ganze Nacht nicht geschlafen, da er die
Besorgnis hegte, ich könnte mit meinen Pistolen, die vor meinem Bette
lagen, im Nachtwandlerzustande ein Malheur anrichten. Im Grunde war es
mir nicht viel besser als ihm gegangen, ich hatte sehr schlecht
geschlafen. Wüste, beängstigende Phantasiegebilde. Ein Klavierauszug aus
Dante's »Hölle«. Am Ende träumte mir gar, ich sähe die Aufführung einer
juristischen Oper, die Falcidia geheißen, erbrechtlicher Text von Gans
und Musik von Spontini. Ein toller Traum. Das römische Forum leuchtete
prächtig; Serv. Göschenus als Prätor auf seinem Stuhle, die Toga in
stolze Falten werfend, ergoß sich in polternden Recitativen; Marcus
Tullius Elversus, als _Prima Donna legataria_, all seine holde
Weiblichkeit offenbarend, sang die liebeschmelzende Bravourarie
_quicunque civis romanus_; ziegelrot geschminkte Referendarien brüllten
als Chor der Unmündigen; Privatdocenten, als Genien in fleischfarbigen
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  • Die Harzreise - 5
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