Die Harzreise - 2

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sie am wenigsten paßten. Er fragte mich, was es in Göttingen Neues gäbe,
und ich erzählte ihm: daß vor meiner Abreise von dort ein Dekret des
akademischen Senats erschienen, worin bei drei Thaler Strafe verboten
wird, den Hunden die Schwänze abzuschneiden, indem die tollen Hunde in
den Hundstagen die Schwänze zwischen den Beinen tragen, und man sie
dadurch von den nichttollen unterscheidet, was doch nicht geschehen
könnte, wenn sie gar keine Schwänze haben. -- Nach Tische machte ich
mich auf den Weg, die Gruben, die Silberhütten und die Münze zu
besuchen.
In den Silberhütten habe ich, wie oft im Leben, den Silberblick
verfehlt. In der Münze traf ich es schon besser, und konnte zusehen, wie
das Geld gemacht wird. Freilich, weiter hab' ich es auch nie bringen
können. Ich hatte bei solcher Gelegenheit immer das Zusehen, und ich
glaube, wenn mal die Thaler vom Himmel herunter regneten, so bekäme ich
davon nur Löcher in den Kopf, während die Kinder Israel die silberne
Manna mit lustigem Mute einsammeln würden. Mit einem Gefühle, worin gar
komisch Ehrfurcht und Rührung gemischt waren, betrachtete ich die
neugebornen, blanken Thaler, nahm einen, der eben vom Prägstocke kam, in
die Hand, und sprach zu ihm: Junger Thaler! welche Schicksale erwarten
dich! wie viel Gutes und wie viel Böses wirst du stiften! wie wirst du
das Laster beschützen und die Tugend flicken! wie wirst du geliebt und
dann wieder verwünscht werden! wie wirst du schwelgen, kuppeln, lügen
und morden helfen! wie wirst du rastlos umherirren, durch reine und
schmutzige Hände, jahrhundertelang, bis du endlich schuldbeladen und
sündenmüd versammelt wirst zu den deinigen im Schoße Abrahams, der dich
einschmelzt und läutert und umbildet zu einem neuen besseren Sein,
vielleicht gar zu einem unschuldigen Theelöffelchen, womit einst mein
eigenes Ururenkelchen sein liebes Breisüppchen zurechtmatscht.
Das Befahren der zwei vorzüglichsten Klausthaler Gruben der »Dorothea«
und »Karolina«, fand ich sehr interessant, und ich muß ausführlich davon
erzählen.
Eine halbe Stunde vor der Stadt gelangt man zu zwei großen,
schwärzlichen Gebäuden. Dort wird man gleich von den Bergleuten in
Empfang genommen. Diese tragen dunkle, gewöhnlich stahlblaue, weite, bis
über den Bauch herabhängende Jacken, Hosen von ähnlicher Farbe, ein
hinten aufgebundenes Schurzfell und kleine grüne Filzhüte, ganz randlos
wie ein abgekappter Kegel. In eine solche Tracht, bloß ohne Hinterleder,
wird der Besuchende ebenfalls eingekleidet, und ein Bergmann, ein
Steiger, nachdem er sein Grubenlicht angezündet, führt ihn nach einer
dunkeln Öffnung, die wie ein Kaminfegeloch aussieht, steigt bis an die
Brust hinab, giebt Regeln, wie man sich an den Leitern festzuhalten
habe, und bittet, angstlos zu folgen. Die Sache selbst ist nichts
weniger als gefährlich; aber man glaubt es nicht im Anfang, wenn man gar
nichts vom Bergwerkswesen versteht. Es giebt schon eine eigene
Empfindung, daß man sich ausziehen und die dunkle Delinquententracht
anziehen muß. Und nun soll man auf allen Vieren hinab klettern, und das
dunkle Loch ist so dunkel, und Gott weiß, wie lang die Leiter sein mag.
Aber bald merkt man doch, daß es nicht eine einzige, in die schwarze
Ewigkeit hinablaufende Leiter ist, sondern daß es mehrere von fünfzehn
bis zwanzig Sprossen sind, deren jede auf ein kleines Brett führt,
worauf man stehen kann, und worin wieder ein neues Loch nach einer neuen
Leiter hinableitet. Ich war zuerst in die Karolina gestiegen. Das ist
die schmutzigste und unerfreulichste Karolina, die ich je kennen gelernt
habe. Die Leitersprossen sind kotig naß. Und von einer Leiter zur andern
geht's hinab, und der Steiger voran, und dieser beteuert immer, es sei
gar nicht gefährlich, nur müsse man sich mit den Händen fest an den
Sprossen halten, und nicht nach den Füßen sehen, und nicht schwindlicht
werden, und nur bei Leibe nicht auf das Seitenbrett treten, wo jetzt das
schnurrende Tonnenseil heraufgeht, und wo vor vierzehn Tagen ein
unvorsichtiger Mensch hinuntergestürzt und leider den Hals gebrochen. Da
unten ist ein verworrenes Rauschen und Summen, man stößt beständig an
Balken und Seile, die in Bewegung sind, um die Tonnen mit geklopften
Erzen oder das hervorgesinterte Wasser herauf zu winden. Zuweilen
gelangt man auch in durchgehauene Gänge, Stollen genannt, wo man das Erz
wachsen sieht, und wo der einsame Bergmann den ganzen Tag sitzt und
mühsam mit dem Hammer die Erzstücke aus der Wand herausklopft. Bis in
die unterste Tiefe, wo man, wie einige behaupten, schon hören kann, wie
die Leute in Amerika »_Hurrah, Lafayette!_« schreien, bin ich nicht
gekommen; unter uns gesagt, dort, bis wohin ich kam, schien es mir
bereits tief genug: -- immerwährendes Brausen und Sausen, unheimliche
Maschinenbewegung, unterirdisches Quellengeriesel, von allen Seiten
herabtriefendes Wasser, qualmig aufsteigende Erddünste, und das
Grubenlicht immer bleicher hineinflimmernd in die einsame Nacht.
Wirklich, es war betäubend, das Atmen wurde mir schwer, und mit Mühe
hielt ich mich an den glitscherigen Leitersprossen. Ich habe keinen
Anflug von sogenannter Angst empfunden, aber, seltsam genug, dort unten
in der Tiefe erinnerte ich mich, daß ich im vorigen Jahre ungefähr um
dieselbe Zeit einen Sturm auf der Nordsee erlebte, und ich meinte jetzt,
es sei doch eigentlich recht traulich angenehm, wenn das Schiff hin und
her schaukelt, die Winde ihre Trompeterstückchen losblasen,
zwischendrein der lustige Matrosenlärm erschallt, und alles frisch
überschauert wird von Gottes lieber, freier Luft. Ja, Luft! -- Nach Luft
schnappend stieg ich einige Dutzend Leitern wieder in die Höhe, und mein
Steiger führte mich durch einen schmalen, sehr langen, in den Berg
gehauenen Gang nach der Grube Dorothea. Hier ist es luftiger und
frischer, und die Leitern sind reiner, aber auch länger und steiler als
in der Karolina. Hier wurde mir auch besser zu Mute, besonders da ich
wieder Spuren lebendiger Menschen gewahrte. In der Tiefe zeigten sich
nämlich wandelnde Schimmer; Bergleute mit ihren Grubenlichtern kamen
allmählich in die Höhe mit dem Gruße »Glückauf!« und mit demselben
Wiedergruße von unserer Seite stiegen sie an uns vorüber; und wie eine
befreundet ruhige, und doch zugleich quälend rätselhafte Erinnerung
trafen mich mit ihren tiefsinnig klaren Blicken die ernstfrommen, etwas
blassen, und vom Grubenlicht geheimnisvoll beleuchteten Gesichter dieser
jungen und alten Männer, die in ihren dunkeln, einsamen Bergschachten
den ganzen Tag gearbeitet hatten, und sich jetzt hinaufsehnten nach dem
lieben Tageslicht, und nach den Augen von Weib und Kind.
Mein Cicerone selbst war eine kreuzehrliche, pudeldeutsche Natur. Mit
innerer Freudigkeit zeigte er mir jene Stelle, wo der Herzog von
Cambridge, als er die Grube befahren, mit seinem ganzen Gefolge gespeist
hat, und wo noch der lange hölzerne Speisetisch steht, so wie auch der
große Stuhl von Erz, worauf der Herzog gesessen. Dieser bleibe zum
ewigen Andenken stehen, sagte der gute Bergmann, und mit Feuer erzählte
er, wie viele Festlichkeiten damals stattgefunden, wie der ganze Stollen
mit Lichtern, Blumen und Laubwerk verziert gewesen, wie ein Bergknappe
die Zither gespielt und gesungen, wie der vergnügte, liebe, dicke Herzog
sehr viele Gesundheiten ausgetrunken habe, und wie viele Bergleute, und
er selbst ganz besonders, sich gern würden totschlagen lassen für den
lieben, dicken Herzog und das ganze Haus Hannover. -- Innig rührt es
mich jedesmal, wenn ich sehe, wie sich dieses Gefühl der Unterthanstreue
in seinen einfachen Naturlauten ausspricht. Es ist ein so schönes
Gefühl! Und es ist ein so wahrhaft deutsches Gefühl! Andere Völker mögen
gewandter sein und witziger und ergötzlicher, aber keins ist so treu wie
das treue deutsche Volk. Wüßte ich nicht, daß die Treue so alt ist wie
die Welt, so würde ich glauben, ein deutsches Herz habe sie erfunden.
Deutsche Treue! sie ist keine moderne Adressenfloskel. An euren Höfen,
ihr deutschen Fürsten, sollte man singen und wieder singen das Lied von
dem getreuen Eckart und dem bösen Burgund, der ihm die lieben Kinder
töten lassen, und ihn alsdann doch noch immer treu befunden hat. Ihr
habt das treueste Volk, und ihr irrt, wenn ihr glaubt, der alte
verständige, treue Hund sei plötzlich toll geworden, und schnappe nach
euren geheiligten Waden.
Wie die deutsche Treue, hatte uns jetzt das kleine Grubenlicht ohne viel
Geflacker still und sicher geleitet durch das Labyrinth der Schachten
und Stollen; wir stiegen hervor aus der dumpfigen Bergnacht, das
Sonnenlicht strahlte -- Glückauf!
Die meisten Bergarbeiter wohnen in Klausthal und in dem damit
verbundenen Bergstädtchen Zellerfeld. Ich besuchte mehrere dieser
wackern Leute, betrachtete ihre kleine häusliche Einrichtung, hörte
einige ihrer Lieder, die sie mit der Zither, ihrem Lieblingsinstrumente,
gar hübsch begleiten, ließ mir alte Bergmärchen von ihnen erzählen und
auch die Gebete hersagen, die sie in Gemeinschaft zu halten pflegen, ehe
sie in den dunkeln Schacht hinuntersteigen, und manches gute Gebet habe
ich mitgebetet. Ein alter Steiger meinte sogar, ich sollte bei ihnen
bleiben und Bergmann werden; und als ich dennoch Abschied nahm, gab er
mir einen Auftrag an seinen Bruder, der in der Nähe von Goslar wohnt,
und viele Küsse für seine liebe Nichte.
So stillstehend ruhig auch das Leben dieser Leute erscheint, so ist es
dennoch ein wahrhaftes, lebendiges Leben. Die steinalte, zitternde Frau,
die, dem großen Schranke gegenüber, hinterm Ofen saß, mag dort schon ein
Vierteljahrhundert lang gesessen haben, und ihr Denken und Fühlen ist
gewiß innig verwachsen mit allen Ecken dieses Ofens und allen
Schnitzeleien dieses Schrankes. Und Schrank und Ofen leben, denn ein
Mensch hat ihnen einen Teil seiner Seele eingeflößt.
Nur durch solch tiefes Anschauungsleben, durch die »Unmittelbarkeit«
entstand die deutsche Märchenfabel, deren Eigentümlichkeit darin
besteht, daß nicht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auch ganz leblos
scheinende Gegenstände sprechen und handeln. Sinnigem, harmlosem Volke
in der stillen, umfriedeten Heimlichkeit seiner niedern Berg- oder
Waldhütten offenbarte sich das innere Leben solcher Gegenstände, diese
gewannen einen notwendigen, konsequenten Charakter, eine süße Mischung
von phantastischer Laune und rein menschlicher Gesinnung; und so sehen
wir im Märchen, wunderbar und doch als wenn es sich von selbst
verstände: Nähnadel und Stecknadel kommen von der Schneiderherberge und
verirren sich im Dunkeln; Strohhalm und Kohle wollen über den Bach
setzen und verunglücken; Schippe und Besen stehen auf der Treppe und
zanken und schmeißen sich; der befragte Spiegel zeigt das Bild der
schönsten Frau; sogar die Blutstropfen fangen an zu sprechen, bange
dunkle Worte des besorglichsten Mitleids. -- Aus demselben Grunde ist
unser Leben in der Kindheit so unendlich bedeutend, in jener Zeit ist
uns alles gleich wichtig, wir hören alles, wir sehen alles, bei allen
Eindrücken ist Gleichmäßigkeit, statt wir später absichtlicher werden,
uns mit dem Einzelnen ausschließlicher beschäftigen, das klare Gold der
Anschauung für das Papiergeld der Bücherdefinitionen mühsam einwechseln,
und an Lebensbreite gewinnen, was wir an Lebenstiefe verlieren. Jetzt
sind wir ausgewachsene, vornehme Leute; wir beziehen oft neue Wohnungen,
die Magd räumt täglich auf, und verändert nach Gutdünken die Stellung
der Möbeln, die uns wenig interessieren, da sie entweder neu sind, oder
heute dem Hans, morgen dem Isaak gehören; selbst unsere Kleider bleiben
uns fremd, wir wissen kaum, wie viel Knöpfe an dem Rocke sitzen, den wir
eben jetzt auf dem Leibe tragen; wir wechseln ja so oft als möglich mit
Kleidungsstücken, keines derselben bleibt im Zusammenhange mit unserer
inneren und äußeren Geschichte; -- kaum vermögen wir uns zu erinnern,
wie jene braune Weste aussah, die uns einst so viel Gelächter zugezogen
hat, und auf deren breiten Streifen dennoch die liebe Hand der Geliebten
so lieblich ruhte!
Die alte Frau, dem großen Schrank gegenüber hinterm Ofen, trug einen
geblümten Rock von verschollenem Zeuge, das Brautkleid ihrer seligen
Mutter. Ihr Urenkel, ein als Bergmann gekleideter blonder, blitzäugiger
Knabe, saß zu ihren Füßen und zählte die Blumen ihres Rockes, und sie
mag ihm von diesem Rocke wohl schon viele Geschichtchen erzählt haben,
viele ernsthafte hübsche Geschichten, die der Junge gewiß nicht so bald
vergißt, die ihm noch oft vorschweben werden, wenn er bald als ein
erwachsener Mann in den nächtlichen Stollen der Karolina einsam
arbeitet, und die er vielleicht wieder erzählt, wenn die liebe
Großmutter längst tot ist, und er selber ein silberhaariger, erloschener
Greis, im Kreise seiner Enkel sitzt, dem großen Schranke gegenüber,
hinterm Ofen.
Ich blieb die Nacht ebenfalls in der Krone, wo unterdessen auch der
Hofrat B. aus Göttingen angekommen war. Ich hatte das Vergnügen, dem
alten Herrn meine Aufwartung zu machen. Als ich mich ins Fremdenbuch
einschrieb und im Monat Juli blätterte, fand ich auch den vielteuern
Namen Adalbert von Chamisso, den Biographen des unsterblichen Schlemihl.
Der Wirt erzählte mir, dieser Herr sei in einem unbeschreibbar
schlechten Wetter angekommen, und in einem eben so schlechten Wetter
wieder abgereist.
Den andern Morgen mußte ich meinen Ranzen nochmals erleichtern, das
eingepackte Paar Stiefel warf ich über Bord, und ich hob auf meine Füße
und ging nach Goslar. Ich kam dahin, ohne zu wissen wie. Nur soviel kann
ich mich erinnern: ich schlenderte wieder bergauf, bergab, schaute
hinunter in manches hübsche Wiesenthal; silberne Wasser brausten, süße
Waldvögel zwitscherten, die Herdenglöckchen läuteten, die mannigfaltig
grünen Bäume wurden von der lieben Sonne goldig angestrahlt, und oben
war die blauseidene Decke des Himmels so durchsichtig, daß man tief
hinein schauen konnte bis ins Allerheiligste, wo die Engel zu den Füßen
Gottes sitzen, und in den Zügen seines Antlitzes den Generalbaß
studieren. Ich aber lebte noch in dem Traum der vorigen Nacht, den ich
nicht aus meiner Seele verscheuchen konnte. Es war das alte Märchen, wie
ein Ritter hinabsteigt in einen tiefen Brunnen, wo unten die schönste
Prinzessin zu einem starren Zauberschlafe verwünscht ist. Ich selbst war
der Ritter, und der Brunnen die dunkle Klausthaler Grube, und plötzlich
erschienen viele Lichter, aus allen Seitenlöchern stürzten die wachsamen
Zwerglein, schnitten zornige Gesichter, hieben nach mir mit ihren kurzen
Schwertern, bliesen gellend ins Horn, daß immer mehr und mehr herzu
eilten, und es wackelten entsetzlich ihre breiten Häupter. Wie ich
darauf zuschlug und das Blut herausfloß, merkte ich erst, daß es die
rotblühenden, langbärtigen Distelköpfe waren, die ich den Tag vorher an
der Landstraße mit dem Stocke abgeschlagen hatte. Da waren sie auch
gleich alle verscheucht, und ich gelangte in einen hellen Prachtsaal; in
der Mitte stand, weiß verschleiert, und wie eine Bildsäule starr und
regungslos, die Herzgeliebte, und ich küßte ihren Mund, und, beim
lebendigen Gott! ich fühlte den beseligenden Hauch ihrer Seele und das
süße Beben der lieblichen Lippen. Es war mir, als hörte ich, wie Gott
rief: »Es werde Licht!« blendend schoß herab ein Strahl des ewigen
Lichts; aber in demselben Augenblick wurde es wieder Nacht, und alles
rann chaotisch zusammen in ein wildes, wüstes Meer. Ein wildes, wüstes
Meer! über das gährende Wasser jagten ängstlich die Gespenster der
Verstorbenen, ihre weißen Totenhemden flatterten im Winde, hinter ihnen
her, hetzend, mit klatschender Peitsche lief ein buntscheckiger
Harlekin, und dieser war ich selbst -- und plötzlich, aus den dunkeln
Wellen, reckten die Meerungetüme ihre mißgestalteten Häupter, und
langten nach mir mit ausgebreiteten Krallen, und vor Entsetzen erwacht'
ich.
Wie doch zuweilen die allerschönsten Märchen verdorben werden!
Eigentlich muß der Ritter, wenn er die schlafende Prinzessin gefunden
hat, ein Stück aus ihrem kostbaren Schleier heraus schneiden; und wenn
durch seine Kühnheit ihr Zauberschlaf gebrochen ist, und sie wieder in
ihrem Palast auf dem goldenen Stuhle sitzt, muß der Ritter zu ihr treten
und sprechen: »Meine allerschönste Prinzessin, kennst du mich?« Und dann
antwortet sie: »Mein allertapferster Ritter, ich kenne dich nicht.« Und
dieser zeigt ihr alsdann das aus ihrem Schleier herausgeschnittene
Stück, das just in denselben wieder hineinpaßt, und beide umarmen sich
zärtlich, und die Trompeter blasen, und die Hochzeit wird gefeiert.
Es ist wirklich eigenes Mißgeschick, daß meine Liebesträume selten ein
so schönes Ende nehmen.
Der Name Goslar klingt so erfreulich, und es knüpfen sich daran so viele
uralte Kaisererinnerungen, daß ich eine imposante, stattliche Stadt
erwartete. Aber so geht es, wenn man die Berühmten in der Nähe besieht!
Ich fand ein Nest mit meistens schmalen, labyrinthisch krummen Straßen,
allwo mittendurch ein kleines Wasser, wahrscheinlich die Gose, fließt,
verfallen und dumpfig, und ein Pflaster, so holprig wie Berliner
Hexameter. Nur die Altertümlichkeiten der Einfassung, nämlich Reste von
Mauern, Türmen und Zinnen, geben der Stadt etwas Pikantes. Einer dieser
Türme, der Zwinger genannt, hat so dicke Mauern, daß ganze Gemächer
darin ausgehauen sind. Der Platz vor der Stadt, wo der weitberühmte
Schützenhof gehalten wird, ist eine schöne große Wiese, ringsum hohe
Berge. Der Markt ist klein, in der Mitte steht ein Springbrunnen,
dessen Wasser sich in ein großes Metallbecken ergießt. Bei
Feuersbrünsten wird einigemal daran geschlagen; es giebt dann einen
weitschallenden Ton. Man weiß nichts vom Ursprunge dieses Beckens.
Einige sagen, der Teufel habe es einst zur Nachtzeit dort auf den Markt
hingestellt. Damals waren die Leute noch dumm, und der Teufel war auch
dumm, und sie machten sich wechselseitig Geschenke.
Das Rathaus zu Goslar ist eine weißangestrichene Wachtstube. Das
danebenstehende Gildenhaus hat schon ein besseres Ansehen. Ungefähr von
der Erde und vom Dach gleich weit entfernt stehen da die Standbilder
deutscher Kaiser, räucherig schwarz und zum Teil vergoldet, in der einen
Hand das Scepter, in der andern die Weltkugel; sehen aus wie gebratene
Universitätspedelle. Einer dieser Kaiser hält ein Schwert, statt des
Scepters. Ich konnte nicht erraten, was dieser Unterschied sagen will;
und es hat doch gewiß seine Bedeutung, da die Deutschen die merkwürdige
Gewohnheit haben, daß sie bei allem, was sie thun, sich auch etwas
denken.
In Gottschalks »Handbuch« hatte ich von dem uralten Dom und von dem
berühmten Kaiserstuhl zu Goslar viel gelesen. Als ich aber beides
besehen wollte, sagte man mir, der Dom sei niedergerissen und der
Kaiserstuhl nach Berlin gebracht worden. Wir leben in einer
bedeutungsschweren Zeit: tausendjährige Dome werden abgebrochen, und
Kaiserstühle in die Rumpelkammer geworfen.
Einige Merkwürdigkeiten des seligen Doms sind jetzt in der
Stephanskirche aufgestellt. Glasmalereien, die wunderschön sind, einige
schlechte Gemälde, worunter auch ein Lukas Cranach sein soll, ferner ein
hölzerner Christus am Kreuz, und ein heidnischer Opferaltar aus
unbekanntem Metall; er hat die Gestalt einer länglich viereckigen Lade,
und wird von Karyatiden getragen, die, in geduckter Stellung, die Hände
stützend über dem Kopfe halten, und unerfreulich häßliche Gesichter
schneiden. Indessen noch unerfreulicher ist das dabeistehende, schon
erwähnte große hölzerne Kruzifix. Dieser Christuskopf mit natürlichen
Haaren und Dornen und blutbeschmiertem Gesichte zeigt freilich höchst
meisterhaft das Hinsterben eines Menschen, aber nicht eines gottgebornen
Heilands. Nur das materielle Leiden ist in dieses Gesicht
hineingeschnitzelt, nicht die Poesie des Schmerzes. Solch Bild gehört
eher in einen anatomischen Lehrsaal, als in ein Gotteshaus. Die
kunsterfahrene Frau Küsterin, die mich herumführte, zeigte mir noch als
ganz besondere Rarität ein vieleckiges, wohlgehobeltes, schwarzes, mit
weißen Zahlen bedecktes Stück Holz, das ampelartig in der Mitte der
Kirche hängt. O, wie glänzend zeigt sich hier der Erfindungsgeist in der
protestantischen Kirche! Denn, wer sollte dies denken! Die Zahlen auf
besagtem Stück Holze sind die Psalmennummern, welche gewöhnlich mit
Kreide auf einer schwarzen Tafel verzeichnet werden und auf den
ästhetischen Sinn etwas nüchtern wirken, aber jetzt durch obige
Erfindung sogar zur Zierde der Kirche dienen, und die so oft darin
vermißten Raphaelschen Bilder hinlänglich ersetzen. Solche Fortschritte
freuen mich unendlich, da ich, der ich Protestant und zwar Lutheraner
bin, immer tief betrübt worden, wenn katholische Gegner das leere,
gottverlassene Ansehn protestantischer Kirchen bespötteln konnten.
Ich logierte in einem Gasthofe nahe dem Markte, wo mir das Mittagessen
noch besser geschmeckt haben würde, hätte sich nur nicht der Herr Wirt
mit seinem langen, überflüssigen Gesichte und seinen langweiligen Fragen
zu mir hingesetzt; glücklicher Weise ward ich bald erlöst durch die
Ankunft eines andern Reisenden, der dieselben Fragen in derselben
Ordnung aushalten mußte: _quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur?
quomodo? quando?_ Dieser Fremde war ein alter, müder, abgetragener Mann,
der, wie aus seinen Reden hervorging, die ganze Welt durchwandert,
besonders lang auf Batavia gelebt, viel Geld erworben und wieder alles
verloren hatte, und jetzt, nach dreißigjähriger Abwesenheit, nach
Quedlinburg, seiner Vaterstadt zurückkehrte, -- »denn,« setzte er hinzu,
»unsere Familie hat dort ihr Erbbegräbnis.« Der Herr Wirt machte die
sehr aufgeklärte Bemerkung, daß es doch für die Seele gleichgiltig sei,
wo unser Leib begraben wird. »Haben sie es schriftlich?« antwortete der
Fremde, und dabei zogen sich unheimlich schlaue Ringe um seine
kümmerlichen Lippen und verblichenen Äugelein. »Aber,« setzte er
ängstlich begütigend hinzu, »ich will darum über fremde Gräber doch
nichts Böses gesagt haben; -- die Türken begraben ihre Toten noch weit
schöner als wir, ihre Kirchhöfe sind ordentlich Gärten, und da sitzen
sie auf ihren weißen, beturbanten Grabsteinen, unter dem Schatten einer
Cypresse, und streichen ihre ernsthaften Bärte, und rauchen ruhig ihren
türkischen Tabak aus ihren langen türkischen Pfeifen; -- und bei den
Chinesen gar ist es eine ordentliche Lust zuzusehen, wie sie auf den
Ruhestätten ihrer Toten manierlich herumtänzeln, und beten, und Thee
trinken, und die Geige spielen, und die geliebten Gräber gar hübsch zu
verzieren wissen mit allerlei vergoldetem Lattenwerk, Porzellanfigürchen,
Fetzen von buntem Seidenzeug, künstlichen Blumen und farbigen Laternchen
-- alles sehr hübsch -- wie weit hab' ich noch bis Quedlinburg?«
Der Kirchhof in Goslar hat mich nicht sehr angesprochen. Desto mehr aber
jenes wunderschöne Lockenköpfchen, das bei meiner Ankunft in der Stadt
aus einem etwas hohen Parterrefenster lächelnd heraus schaute. Nach
Tische suchte ich wieder das liebe Fenster; aber jetzt stand dort nur
ein Wasserglas mit weißen Glockenblümchen. Ich kletterte hinauf, nahm
die artigen Blümchen aus dem Glase, steckte sie ruhig auf meine Mütze
und kümmerte mich wenig um die aufgesperrten Mäuler, versteinerten Nasen
und Glotzaugen, womit die Leute auf der Straße, besonders die alten
Weiber, diesem qualificierten Diebstahle zusahen. Als ich eine Stunde
später an demselben Hause vorbeiging, stand die Holde am Fenster, und
wie sie die Glockenblümchen auf meiner Mütze gewahrte, wurde sie blutrot
und stürzte zurück. Ich hatte jetzt das schöne Antlitz noch genauer
gesehen; es war eine süße, durchsichtige Verkörperung von
Sommerabendhauch, Mondschein, Nachtigallenlaut und Rosenduft. -- Später,
als es ganz dunkel geworden, trat sie vor die Thüre. Ich kam -- ich
näherte mich -- sie zieht sich langsam zurück in den dunkeln Hausflur --
ich fasse sie bei der Hand und sage: »Ich bin ein Liebhaber von schönen
Blumen und Küssen, und was man mir nicht freiwillig giebt, das stehle
ich« -- und ich küßte sie rasch -- und wie sie entfliehen will, flüstere
ich beschwichtigend: »Morgen reis' ich fort und komme wohl nie wieder«
-- und ich fühle den geheimen Wiederdruck der lieblichen Lippen und der
kleinen Hände -- und lachend eile ich von hinnen. Ja, ich muß lachen,
wenn ich bedenke, daß ich unbewußt jene Zauberformel ausgesprochen,
wodurch unsere Rot- und Blauröcke, öfter als durch ihre schnurrbärtige
Liebenswürdigkeit, die Herzen der Frauen bezwingen: »Ich reise morgen
fort und komme wohl nie wieder!«
Mein Logis gewährte eine herrliche Aussicht nach dem Rammelsberg. Es war
ein schöner Abend. Die Nacht jagte auf ihrem schwarzen Rosse, und die
langen Mähnen flatterten im Winde. Ich stand am Fenster und betrachtete
den Mond. Giebt es wirklich einen Mann im Monde? Die Slaven sagen, er
heiße Klotar, und das Wachsen des Mondes bewirke er durch
Wasseraufgießen. Als ich noch klein war, hatte ich gehört, der Mond sei
eine Frucht, die, wenn sie reif geworden, vom lieben Gott abgepflückt
und zu den übrigen Vollmonden in den großen Schrank gelegt werde, der am
Ende der Welt steht, wo sie mit Brettern zugenagelt ist. Als ich größer
wurde, bemerkte ich, daß die Welt nicht so eng begrenzt ist, und daß der
menschliche Geist die hölzernen Schranken durchbrochen, und mit einem
riesigen Petrischlüssel, mit der Idee der Unsterblichkeit, alle sieben
Himmel aufgeschlossen hat. Unsterblichkeit! schöner Gedanke! wer hat
dich zuerst erdacht? War es ein Nürnberger Spießbürger, der, mit weißer
Nachtmütze auf dem Kopfe und mit weißer Thonpfeife im Maule, am lauen
Sommerabend vor seiner Hausthüre saß, und recht behaglich meinte, es
wäre doch hübsch, wenn er nun so immerfort, ohne daß sein Pfeifchen und
sein Lebensatemchen ausgingen, in die liebe Ewigkeit hineinvegetieren
könnte! Oder war es ein junger Liebender, der in den Armen seiner
Geliebten jenen Unsterblichkeitsgedanken dachte, und ihn dachte, weil er
ihn fühlte, und weil er nicht anders fühlen und denken konnte? -- Liebe!
Unsterblichkeit! -- in meiner Brust ward es plötzlich so heiß, daß ich
glaubte, die Geographen hätten den Äquator verlegt, und er laufe jetzt
gerade durch mein Herz. Und aus meinem Herzen ergossen sich die Gefühle
der Liebe, ergossen sich sehnsüchtig in die weite Nacht. Die Blumen im
Garten unter meinem Fenster dufteten stärker. Düfte sind die Gefühle der
Blumen, und wie das Menschenherz in der Nacht, wo es sich einsam und
unbelauscht glaubt, stärker fühlt, so scheinen auch die Blumen, sinnig
verschämt, erst die umhüllende Dunkelheit zu erwarten, um sich gänzlich
ihren Gefühlen hinzugeben und sie auszuhauchen in süßen Düften. --
Ergießt euch, ihr Düfte meines Herzens, und sucht hinter jenen Bergen
die Geliebte meiner Träume! Sie liegt jetzt schon und schläft; zu ihren
Füßen knieen Engel, und wenn sie im Schlafe lächelt, so ist es ein
Gebet, das die Engel nachbeten; in ihrer Brust liegt der Himmel mit
allen seinen Seligkeiten, und wenn sie atmet, so bebt mein Herz in der
Ferne; hinter den seidnen Wimpern ihrer Augen ist die Sonne
untergegangen, und wenn sie die Augen wieder aufschlägt, so ist es Tag,
und die Vögel singen, und die Herdenglöckchen läuten, und die Berge
schimmern in ihren smaragdenen Kleidern, und ich schnüre den Ranzen und
wandre.
In diesen philosophischen Betrachtungen und Privatgefühlen überraschte
mich der Besuch des Hofrat B., der kurz vorher ebenfalls nach Goslar
gekommen war. Zu keiner Stunde hätte ich die wohlwollende Gemütlichkeit
dieses Mannes tiefer empfinden können. Ich verehre ihn wegen seines
ausgezeichneten, erfolgreichen Scharfsinns, noch mehr aber wegen seiner
Bescheidenheit. Ich fand ihn ungemein heiter, frisch und rüstig. Daß er
letzteres ist, bewies er jüngst durch sein neues Werk: »Die Religion der
Vernunft«, ein Buch, das die Rationalisten so sehr entzückt, die
Mystiker ärgert, und das große Publikum in Bewegung setzt. Ich selbst
bin zwar in diesem Augenblick ein Mystiker, meiner Gesundheit wegen,
indem ich nach der Vorschrift meines Arztes alle Anregungen zum Denken
vermeiden soll. Doch verkenne ich nicht den unschätzbaren Wert der
rationalistischen Bemühungen eines Paulus, Gurlitt Krug, Eichhorn,
Bouterwek, Wegscheider u. s. w. Zufällig ist es mir selbst sehr
ersprießlich, daß diese Leute so manches verjährte Übel forträumen,
besonders den alten Kirchenschutt, worunter so viele Schlangen und böse
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  • Die Harzreise - 5
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