Der Weinhüter - 7

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bedarf's nicht; er hat keine Zweifel und Gewissensqual und wird dich
ohne Furcht in die Kirche führen. Und ich denke wohl auch, daß dann
seine Mutter mit unter den anderen sitzen und im stillen den Segen
mitbeten wird, aber nicht der abgeschiedene Geist der Maria Ingram,
deiner armen Mutter, sondern--und er neigte seinen Mund dicht an ihr
Ohr--die Tante der Rosine, die Anna Hirzer, die ihn aus der Taufe
gehoben, die wird mitbeten und wahrlich keinen Einspruch tun.
Er hatte die Worte mit hastigem Flüstern herausgestoßen und fuhr, wie
von seiner eigenen Rede erschreckt, in die Höhe, ob kein dritter sie
gehört habe. Das junge Weib saß still und starr; es war, als hätte
die Enthüllung dieses Geheimnisses keinen Eindruck auf ihre verstörte
Seele gemacht.
Nun du so viel weißt, meine Tochter, fing der kleine Priester nach
einer Pause wieder an, sollst du auch wissen, wie das alles gekommen
ist, denn sonst dächtest du, auch das sei nur eine Vorspiegelung. Du
weißt aber wohl, daß deine Mutter den kleinen Andree damals von der
Alm mit heruntergebracht hat. Auf selbiger Alm hat ihn die Anna
Hirzer geboren. Ein Jahr zuvor nämlich ist ein fremder Herr aus
Deutschland nach Innsbruck gekommen, ein Offizier, der hatte einen
Feldzug gegen den Napoleon mitgemacht, und wie seine Wunden geheilt
waren, schickten ihn die Ärzte ins Tirol hinein, weil die Luft droben,
wo er zu Hause war, ihm nicht guttat. Nun, da hat er die Anna Hirzer
auf der Straße gesehen, und es ist bald richtig zwischen ihnen
geworden, denn er war ein rascher und ritterlicher Herr, und was er
sich in den Kopf gesetzt hatte, das mußte geschehen, grad wie der
Andree es von klein auf gemacht hat. Aber die Sache hatte noch einen
schlimmen Haken, denn der Offizier--du hörst doch, was ich sage, Moidi?
Sie nickte rasch mit dem Kopf und hob beide Hände auf, als wollte sie
ihn bitten, sich nicht über ihr starres Wesen zu verwundern, sondern
ruhig fortzuerzählen.
Ja siehe, Kind, sagte er, der Herr war sonst ein wackrer Herr, von
Adel und reich, und gedachte die Anna auch zu heiraten. Aber er war
ein Lutheraner und wollte von unserer heiligen Kirche nichts wissen,
und die Anna weinte Tage und Nächte, daß sie ihn in der Verdammnis
wissen und ihm nicht helfen sollte. Und als sie merkte, daß ihr
Bitten und Beten nichts über ihn vermochte, ist sie zu ihrem
Beichtvater gegangen, der hat ihr geraten, ihr Herz Gott zum Opfer zu
bringen und vor dem Versucher zu fliehen. Und weil sie ein frommes
und heiliges Gemüt hatte, ist sie auch wirklich von Innsbruck weg,
ganz heimlich, daß es ihr Bräutigam erst erfuhr, als sie schon wieder
auf Goyen angekommen war, bei ihrem Bruder. Der hat sie sehr gelobt,
daß sie lieber geflohen war, als das schwere Ärgernis zu geben; denn
du weißt, daß die Hirzers allezeit eifrig gewesen sind für unsern
katholischen Glauben, und der Joseph pflegte zu sagen, lieber den
rechten Arm wollt' er missen, als ein Glied seiner Familie
verlorengeben an die Ketzer und Widerchristen. Die Anna aber hatte
sich doch zuviel zugetraut, denn schon nach ein paar Tagen glich sie
sich selber nicht mehr und ging wie ein Schatten herum, nahm auch kaum
einen Mund voll Speise, daß ich dachte, sie wird ausgehn wie eine
Lampe, der man kein Öl nachschüttet. Sie hing schon allzusehr an dem
Fremden, und Gott weiß, was ich drum gegeben hätte, wenn sich die
armen Leutchen hätten ehelich verbinden können. Ich hab' auch mit dem
Herrn Dekan damals viel verhandelt, aber zuletzt zerschlug sich's
immer wieder, weil die Kinder nicht auch verdammt sein sollten, das
hätte auch die Anna nicht übers Herz gebracht. Und so vergingen sechs
oder sieben Tage; da kommt der Joseph eines Morgens zu mir, feuerrot
vor Wut und Ärger, und erzählt mir, der Ketzer, der Bräutigam, sei ihr
nun wirklich nachgereist und wohne auf Schloß Trautmannsdorf, weil er
mit dem Grafen bekannt sei. Was nun werden solle?--Ich wieder zum
Dekan, und wieder der alte Bescheid; und dann zur Anna hinauf und von
der zu dem Fremden--an die Tage will ich denken, so alt ich werden mag,
die haben mich nicht wenig Schweiß und Herzblut gekostet. Aber
während wir noch alle mit Sorgen und Reden und Raten zu schaffen
hatten und ich fast glaubte, wir würden an dem Fremden, der ein sehr
ehrerbietiges Benehmen gegen mich hatte, der Kirche einen verlornen
Sohn zuführen, wußte sich der trotzige und wagehalsige Mann heimlich
des Nachts auf Schloß Goyen zu schleichen und trotz der Wachsamkeit
des Joseph seine Liebste wiederzusehen. Wohl vier Wochen lang dauerte
die Heimlichkeit. Eines Morgens aber, noch lang vor der ersten Messe,
als er in der grauen Dämmerung eben wieder fortwollte und zwar wie
immer zum Fenster hinaus, wo neben der rauhen Burgmauer die Fichte so
dicht stand, daß er sich wie an einer Leiter hinunterschwingen konnte,
da war der Joseph Hirzer früher als sonst aufgewacht und sah die
Gestalt herabklimmen und wußte alles. Da gab es einen wilden Kampf in
der stillen Schlucht droben, wo's nach der Naif zu steil abfällt, und
die Anna mußte aus ihrem Fenster mit ansehn, wie der Bruder den
Bräutigam zuletzt niederrang und ihn mit den Füßen trat. Der Fremde
war aber gegen einen Felsen gefallen und hatte sich so schwer verletzt,
daß er sich nur mühselig, eh' es Tag wurde, bis nach Trautmannsdorf
schleppen konnte und dort elendiglich darniederlag. Er verlangte
gleich, sobald er zur Besinnung kam, fort, und so ließ ihn der Graf in
seinem eigenen Wagen nach Venedig bringen, und kaum drei Wochen war er
dort, so kam die Nachricht, daß er gestorben sei.
Der kleine Priester schwieg ein wenig, nahm bedächtig eine Prise aus
dem Rindendöschen und sagte dann, vor sich hin blickend: Friede sei
seiner Seele! Er war ein feiner und edelmütiger Kavalier und
stattlich von Gesicht und Statur. Der Andree ist sein wahres Ebenbild,
nur daß er kleiner ist und die Augen von der Mutter hat. Niemals ist
mir's so nah gegangen wie damals, zu denken, warum doch der
verschiedene Glaube unter den Menschen bestehen muß und der eine
verdammen, der andere selig machen. Aber Gott hat es so eingesetzt,
und wir kurzsichtigen Menschen müssen es hinnehmen. Ich war es selbst,
der aus Venedig die Nachricht der Anna bringen mußte. Das war auch
ein saurer Gang, meine Tochter! Es ist aber hernach wieder friedlich
droben zugegangen, der Joseph und die Anna haben sich kein böses Wort
drüber sagen dürfen, sie hatten sich beide was zu vergeben. Und wie
der Sommer kam, ist die Anna zum Schein nach Bozen abgereist, heimlich
aber ging sie auf die Alm zu deiner Mutter, denn außer uns fünfen hat
nie eine lebendige Seele erfahren, was in jener Nacht geschehen.
Nicht einmal auf Trautmannsdorf wußten sie, zu wem der fremde Herr bei
Nacht auf Besuch ging. Und als alles vorbei war und deine Mutter den
Knaben von der Alm mit nach Hause gebracht hatte, da ließ die Anna ihr
Testament aufsetzen und verschrieb ihr halbes Vermögen der Kirche von
Meran und die andere Hälfte der Kirche in Innsbruck, wo sie ihren
Bräutigam zum erstenmal gesprochen hatte, und stiftete jährlich eine
Anzahl heiliger Messen für die Seele des Toten, ob der Herrgott sich
seiner erbarmen möchte. Das ist nun alles so gekommen und nicht mehr
zu ändern, und ist besser, das alte Ärgernis, das nunmehr
eingeschlafen ist, nicht aufzuwecken. Auch würde es dem Andree übel
anstehn, das Testament anzufechten und die Seele seines Vaters der
kirchlichen Gnaden zu berauben. Also ist es auch für ihn heilsamer,
er erfährt sein Lebtag nichts von Vater und Mutter, zumal er ja auch
kein Verlangen danach trägt. Du aber, meine Tochter, wirst dessen
eingedenk sein, was du mir gelobt hast, und dann wird die heilige
Mutter Gottes Fürbitte tun, daß eure Sünden euch vergeben werden und
ihr ein friedliches und Gott wohlgefälliges Leben miteinander führen
könnt nach so mancherlei Prüfung. Amen!
Er hatte die letzten Worte in feierlich ermahnendem Ton mit erhobener
Stimme gesagt und wartete jetzt, ob sie noch eine Frage zu tun oder
einen Einwand vorzubringen hatte. Sie aber saß mit geschlossenen
Augen ganz still auf dem Bette, den Kopf an die Wand zurückgelehnt,
die Hände im Schoß gefaltet. Die ängstliche Wildheit war aus ihrem
Gesicht gewichen, die Stirn unter dem wirren blonden Haar geglättet
und heiter, ihre Brust atmete friedlich. Nach einer kleinen Weile
neigte sich das Haupt auf die Schulter, und die verschlungenen Hände
lösten sich. Die Erzählung des kleinen Seelsorgers hatte sie wie ein
Wiegenlied eingelullt, und sie war nach den Mühen und Beschwerden der
letzten Zeit zum erstenmal wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf
gesunken.
Der Hilfspriester stand auf, mit zweifelhafter Miene; eine solche
Wirkung seiner Seelsorge hatte er nicht erwartet. Es fiel ihm jetzt
erst wieder aufs Gewissen, daß er einem armen gestörten Wesen, das
schwerlich ganz zurechnungsfähig sei, das bedenkliche Geheimnis in die
Hand geliefert habe. Und sie hatte nicht einmal ihr Gelübde, zu
schweigen, selber abgelegt und nur zu allem genickt mit zerstreutem
Blick und vielleicht tauben Ohren. Aber was geschehen, war nicht zu
ändern, und so viel wenigstens gewonnen, daß sie schlief und also für
diese Nacht kein Unheil stiften konnte. Morgen ließ sich dann weiter
sorgen.
Leise trat er von dem Bette zurück und ging aus der Tür. Andree saß
noch draußen auf der Bank, stand aber nicht auf, als der geistliche
Freund herauskam. Auch er, da er sein armes Weib in treuer Flut wußte,
hatte die überwachten Sinne nach so langer Anspannung endlich wieder
sich selbst überlassen, und so war der Schlaf über ihn gekommen, der
beste Seelsorger der Jugend.
Zu derselben Stunde dachte droben auf Schloß Goyen niemand an Schlaf.
Am späten Abend war ein Bursch aus Dorf Tirol, der auch vorzeiten der
Moidi nachgegangen war, zum Franz gekommen und hatte ihm die Neuigkeit
von der Heimkehr der beiden Verschollenen und wie es um die Moidi
stehe, hinterbracht. Es sei ein großer Zorn unter allen Leuten und
ein allgemeines Gerede, das dürfe, nicht geduldet werden, die
Geistlichkeit müsse einschreiten und solchen Greuel mit Bann und Feuer
von der Erde tilgen, zum furchtbaren Exempel für alle Zeiten.
Den Franz traf diese Nachricht gerade in der übelsten Laune. Er war
frischweg von einem Bräutigamszwist mit der jungen Witwe nach Haus
gekommen, und da man ihm droben in solchen Stimmungen sorgfältig aus
dem Wege ging, griff er begierig nach dem neuen Anlaß, seine Galle zu
erleichtern. Er konnte sich's nicht versagen, in das Zimmer zu treten,
wo der Vater hinter der Flasche und einem alten Zeitungsblatt, die
Tante und die Rosine an ihren Spinnrädern saßen, um hier im derbsten
Stil die saubere Historie von den beiden Landfahrern zum besten zu
geben. Niemand erwiderte ihm ein Wort, es war ihm aber schon eine
Genugtuung zu sehen, daß die Tante totenblaß wurde und der Rosel in
die Arme sank. Sie hatte immer dem Andree das Wort geredet; nun
mochte sie's erleben, daß er auf die elendste Art zu Grunde ging. Mit
einem höhnischen Gute Nacht! ging er aus der Tür und strich mit seinem
Gesellen die steilen Pfade hinab durch die laublosen Kastanienwälder
der Stadt zu, um dort die Nacht zu verzechen und finstere Pläne zu
schmieden.
Die drei, die auf Goyen zurückblieben, saßen wohl eine Viertelstunde
schweigend beisammen, die Tante, die sich rasch wieder erholt hatte,
schien zu beten, Rosel sah, keines eigenen Gedankens fähig, auf den
Vater, der unverändert auf das Zeitungsblatt starrte und heftig
rauchte. Endlich stand er auf, klopfte die kleine Holzpfeife
bedächtig aus und befahl der Tochter, zu Bett zu gehen.
Als er mit der Anna allein war, trat er dicht vor sie hin und sagte:
Laß einmal das Beten! Man betet nichts weg, was einem der Teufel auf
den Weg gelegt hat. Du hast gehört, daß der Landstreicher--ich mag
ihn nicht nennen--wieder einpassiert ist. Kann wohl sein, daß er Wind
davon hat, wie er auf die Welt gekommen ist, und Lärm machen will, um
sich aus der Klemme zu helfen. Ich sag' dir aber, über meine Schwelle
darf er mir nicht, weder er noch seine Dirne. Unsere Familie soll
nicht an die vierzig Jahre in Ehren bestanden haben, um über Nacht den
Schimpf zu erfahren, daß solch ein lutherischer Findling sich bei uns
eingedrängt und des Joseph Hirzer eigene Schwester auf ihre alten Tage
in der Leute Mäuler bringt. Wenn all dein Beten und Heiligsein zu
weiter nichts gut gewesen wär', als dich nach zwanzig Jahren zum
Kinderspott zu machen, so wollt' ich, du--Er schluckte die Fluchrede
hinunter, die er schon auf der Zunge hatte, denn sie sah ihm geradeaus
und mit ernsthaftem stolzen Blick in die Augen.--Es ist schon gut,
fuhr er in etwas gelinderem Tone fort, wir brauchen darüber nicht viel
Redens zu machen, du weißt so gut wie ich, was alles kommen wird, wenn
du nicht Vernunft behältst. Ich lasse morgen früh anspannen und fahre
mit dir nach Lana, erst in die Messe, hernach zu unserm Vetter, wo du
so lange bleiben kannst, bis hier wieder reine Luft ist. Denn ich
denke, es soll nicht lange hergehen. Ich will die Hand in die Tasche
stecken und ihm ein Abstandsgeld anbieten lassen, wenn er sich
verpflichtet, das Weite zu suchen und nimmer heimzukommen. Allenfalls
könnte man ihm das Haus samt den Gütern abkaufen und die Dirne in den
Kauf geben, so wäre man ihn los und hätte sich nichts gegen ihn
vorzuwerfen. Ich will das noch überlegen, 's ist Zeit genug morgen
auf der Fahrt, und zu Mittag komm' ich dann heim und kann mit dem
Zehnuhrmesser den Handel abkarten, der vermag noch das meiste über den
Tollkopf und wird selber einsehen, daß alles Aufsehen vermieden werden
muß. Handelst du aber meinem Willen zuwider, Schwester, so laß dir's
gesagt sein: Ich treib's, soweit ich kann, damit ich dir nicht einen
Kreuzer herauszuzahlen brauch', und müßt' ich mich unter die Erde
prozessieren. Nun weißt du's, und nun sei gescheit und rede mir
nichts drein und such keine Finten und Umwege. Denn es wäre umsonst;
darauf magst du das Sakrament nehmen.
Er ging aus dem Zimmer, ohne eine Antwort abzuwarten, und sie hörte,
wie er noch einmal in den Keller hinabstieg, um sich einen Schlaftrunk
zu holen, den er trotz seiner festen und zuversichtlichen Rede wohl
brauchen mochte. Die Rosine schlich wieder herein und sah die Tante
mit scheuen, verweinten Augen an. Komm, sagte die Alte, wir wollen in
meine Kammer gehen; ich habe dir was zu sagen.
Sie stand ruhig auf von ihrem Spinnrad, und ihre Hand, die das Licht
ergriff, um es über den Flur an ihr Bett zu tragen, zitterte nicht.
Während der Bruder ihr seinen harten Willen eröffnet hatte, war auch
in ihr ein unerschütterlicher Wille erstarkt. Sie war auch eine
Hirzerin, und der Bruder wußte es wohl. Und darum brauchte er den
Schlaftrunk, denn trotz seiner drohenden Sicherheit ahnte ihm nichts
Gutes. So hatte ihn die Anna nur einmal im Leben angeblickt: als er
ihr zum erstenmal nach jenem nächtlichen Kampf wieder unter die Augen
zu treten wagte.
Der Schlaftrunk aber tat seine Schuldigkeit. Als unten in Meran die
Glocken zur Frühmesse geläutet wurden, lag der Herr von Schloß Goyen
noch im tiefen Schlaf und überhörte es auch, daß der alte Hofhund
freudig aufbellte und mit der Kette rasselte. Auch der Franz konnte
es nicht hören, er hatte die Nacht in Meran zugebracht. So stiegen
die beiden weiblichen Gestalten in ihren dunklen Sonntagsgewändern
unbemerkt die Holzstufen an der Mauer herab und traten ihren Weg durch
die neblige Winterfrühe schweigend und eilfertig an.
Sie hatten beide die Nacht durchwacht und den Morgen herbeigesehnt.
Denn die Alte hatte der Jungen alles erzählt, was diese bisher nur
dunkel ahnte und aus einzelnen aufgefangenen Worten des Vaters, wenn
er im Rausch war, sich zusammenreimen konnte. Das geheimste Fach
ihres großen Wandschrankes war aufgeschlossen worden, und alte Briefe,
ein kleines Bildnis des Toten und die verblichenen Geschenke, die sie
von ihm bewahrte, kamen zum erstenmal vor andere Augen als die beiden,
die nicht müde wurden, über sie zu weinen. Nur in dieser Nacht
vergossen sie keine Träne; sie leuchteten vielmehr von einem schönen
Heldenmut, der das ganze Gesicht wunderbar verjüngte, die Wangen
rötete und auch jetzt, da sie durch den Morgen hinschritt, ihren Gang
jugendlich beflügelte, daß die Junge der Alten nur mit Mühe zur Seite
bleiben konnte.
Es lag aber ein Nebel über den Tälern der Naif und Passer, daß sie wie
in einer Wolke wandelten und drüben den Küchelberg und die Trümmer der
alten Zenoburg nur mit den obersten Zinnen über den Dunst heraufragen
sahen. Noch immer klang das Geläut und dazwischen das Tosen der
Passer, und auf den vielen Fußpfaden links und rechts hörten sie
Kirchgänger, die ihnen im Nebelduft unsichtbar blieben, eifrig
miteinander reden und dann und wann die beiden Namen nennen, die ihnen
das Herz klopfen machten. Unten am steinernen Steg war es bereits
lebhaft von Männern und Weibern, die ehrfurchtsvoll grüßten, als die
Anna Hirzer, die Heilige, in ungewohnter Hast durch sie
hindurchschritt. Auch standen alle still und steckten die Köpfe
zusammen. Denn die Alte wandelte nicht wie sonst mit dem Strome der
übrigen links durch das graue Stadttor der Kirche zu, sondern man sah
sie in die steile Straße zur Rechten einbiegen, die auf den Küchelberg
führt. Viele gingen ihr nach, zumal die Straße ungewöhnlich belebt
war, als seien droben wundersame Dinge zu schauen. Stieg doch die
Anna Hirzer hinauf, die Heilige, des Andree Pate. Was wird sie dem
verirrten Paar, das in Schmach und Sünde wieder heimgekommen ist, zu
sagen haben? Will sie mit ihrer Heiligkeit die armen Sünder gegen
geistliches und weltliches Gericht beschützen, oder selbst das Wort
der Verdammnis über sie aussprechen?
So raunten die Bauern und ihre Weiber untereinander. Die Anna aber
sah nicht rechts noch links, erwiderte auch die Grüße kaum mit einem
leisen Kopfnicken, sondern ging die steinige Fahrstraße hinan, als
wäre sie schon ein abgeschiedener Geist, der weder irdische Beschwerde
fühlen, noch Menschenrede achten könne. Dicht hinter ihr schritt die
Rosine mit de in stillen Gesicht, das alle gewohnt waren. Nur war es
heute so bleich, daß mitleidige Weiber es sich mit Achselzucken und
Kopfschütteln zeigten, während das Gesicht der Alten von einem
frischen Rot angehaucht war. Sie nahm sich auch nicht die Zeit, auf
der halben Höhe auszurasten, wo eine Bank am Felsen stand. Es war,
als triebe sie die Ahnung vorwärts, daß sie keine Minute zu verlieren
habe.
Und freilich hatte die Nacht Unheil gebraut und gegen Morgen ein
drohendes Gewitter um das kleine Haus auf dem Küchelberg
zusammengezogen. Bald nach Mitternacht war der Schläfer vor der Tür
aufgewacht, von der Kälte geschüttelt. Er hatte sich sacht in den
Flur geschlichen, und als er sein armes Weib sanft eingeschlafen fand,
vor den Herd gestreckt, um noch ein paar Stunden auszuruhen. Als er
von seinen bangen Träumen im Zwielicht des weißen Morgennebels
erwachte, hörte er Stimmen vor dem Fenster und sah Gestalten durch die
Scheiben hereinspähen, die dann wieder verschwanden, um anderen Platz
zu machen. Er horchte durch die Haustür, die er zum Glück in der
Nacht verriegelt hatte, und vernahm abgerissene Worte, die ihn nicht
zweifelhaft ließen, was draußen umgehe. Aber wenn er erst durch den
Nebel hätte blicken und die Straßen und Gärten überschauen können,
wäre ihm vollends das Herz gesunken und das Haar zu Berg gestanden.
Denn draußen hatte sich die halbe Bevölkerung der Dörfer Tirol,
Gratsch und Algund, durch welche sie tags zuvor in ihrem elenden
Aufzug gewandert waren, in dichten Massen angesammelt, und keinem kam
es darauf an, die erste Messe zu versäumen. Was sie hier suchten und
weshalb sie das Haus umstanden, wußte so eigentlich niemand. Bei
allen regte sich nur das dunkle Gefühl, daß sich etwas Unerhörtes mit
zwei Menschen ereignen müsse, die so unerhört sich versündigt, die
Neugier, wie sich die Obrigkeit dem Greuel gegenüber benehmen würde,
bei sehr wenigen das Mitleiden. Denn was die blonde Moidi etwa an
Teilnahme der Nachbarn genoß, wurde durch die geringe Gunst, die sich
der wortkarge Andree erworben, ja durch die Feindseligkeit, zu der
sein herrisches Wesen die jungen Burschen gereizt hatte, völlig wieder
aufgewogen.
Und so hörte man unter den Haufen der Neugierigen nur finstere Reden
und sah nur strenge Gesichter. Von Meran herauf gesellten sich nicht
wenige hinzu, auch ein stattlicher Trupp von den Weißjacken, die des
Andree Abenteuer mit ihrem welschen Kameraden noch nicht vergessen
hatten, und je länger das Geläut zur Kirche anhielt, desto zahlreicher
strömte drüben aus den Passeirer Dörfern das Landvolk die steilen
Bergpfade herauf Denn seitdem man Reben am Küchelberg gezogen und Wein
gekeltert hatte, war manche wilde und blutige Tat und mancher
empörende Frevel geschehen, aber einer Todsünde, die so frei und frank
sich vor das Auge der Menschen gewagt hätte, konnte sich niemand
entsinnen.
Während nun das Summen und Murren der Volksmenge immer noch anwuchs
und doch keiner wußte, was werden sollte, hörte man plötzlich, da
gerade die Glocken eben verhallten, eine rauhe Stimme überlaut rufen:
Schlagt die Tür ein! Mit den Fäusten will ich ihn herausschleppen,
den Lump, den elenden, in Stücke will ich ihn zerfetzen, hin muß er
werden, 's ist ihm geschworen, so wahr ich der Hirzerfranz bin, mit
vier Rossen soll er zerrissen werden und Glied vor Glied in die Passer
geschmissen, so gehört sich's dem Höllenhund, und wer was dawider hat,
der soll's mit mir zu tun kriegen.
Eine lautlose Stille hatte sich auf einen Schlag über die Kopf an Kopf
gedrängte Menge gelagert. Die tausend neugierigen Augen richteten
sich auf die Straße, auf der der Hirzerfranz daherschwankte, rechts
und links von einem seiner Zechkumpane geführt, mit denen er die Nacht
drunten in der Schenke zusammengesessen hatte. Er war ohne Hut, das
Gesicht stark gerötet, aber sein Gang und Wesen nicht wie eines
Trunkenen. Der Haß und das Bewußtsein, der Wortführer der großen
Menge zu sein und eine preiswürdige Rachetat zu vollziehen, hatten ihn
nach kurzem Schlaf völlig wieder ernüchtert.
Der Gefangene im Hause drinnen hörte die wütenden Worte deutlich und
gleich darauf das orkanartige Brausen der tausend Zurufe, die von
allen Seiten losbrachen und den Vollstrecker des Strafgerichts
ermunterten. Er hörte, wie das Gewühl näher heranschwoll, und es
überlief ihn todeskalt. Sein eigenes Leben hätte er immerhin
darangegeben; die Welt war ihm feindlich gewesen von Jugend auf. Aber
das arme junge Geschöpf, das drinnen so ahnungslos von der
wochenlangen Mühsal ausruhte, wie konnte er es retten, wie ertragen,
daß es um seinetwillen ein furchtbares Martyrium erlitt? Sollte er
hinaustreten, um sich zu opfern und alle Schuld auf sich allein zu
nehmen? Aber wer würde ihn anhören, wer ihm glauben, selbst wenn er
sich auf das Zeugnis seines geistlichen Freundes berief? Und doch
mußte es versucht werden, auf alle Gefahr, denn das Getümmel draußen
erhitzte sich mit jeder Minute. Er hörte jetzt auch, wie sein alter
Geselle, der Köbele, sich ins Mittel zu legen und den Franz
wegzudrängen versuchte. Sie sollten warten, was das Amt beschließen
würde, der Herr Dekan solle gerufen werden oder der Zehnuhrmesser, der
der Beichtvater der schwarzen Moidi gewesen sei, es sei nicht richtig
mit dem Handel, die Gerichte würden's schon ausweisen. Und dann
wieder die überlaute Fluch- und Greuelrede des Franz, und dazwischen
Geschrei welscher Soldaten, das Ruheheischen einiger alter Männer,
Zeter und Wehklage der Weiber und bis zu den fernsten Gruppen hinüber
der dumpfe Widerhall einer empörten Menschenmenge, die von blinden
Leidenschaften hin und her gerissen wurde.
Der Gefangene gab sich verloren. Schon bedachte er, ob er nicht die
Moidi wecken und dann seinen Stutzen von der Wand nehmen und sie und
sich erschießen sollte, um sie vor Ärgerem zu bewahren; da wurde es
draußen auf einmal stiller, und er hörte ein vielfaches Beschwichtigen
und Ruhegebieten, dem nur der Franz nicht gehorchte. Aber auch dessen
Stimme verstummte plötzlich, und statt ihrer vernahm der Lauscher
drinnen im Flur die sanfte, aber feste Stimme der Tante Anna, die
jetzt nur noch wenige Schritte von dem Hause entfernt sein konnte.
Du solltest dich schämen, Franz, hörte er sie sagen, hier am heiligen
Sonntag zu toben und zu fluchen und die anderen Leute aufzuhetzen, die
alle nicht wissen, was sie hier tun. Geh heim, auf der Stelle, und
zieh dein Feiertagsgewand an, und dann komm wieder herab zur Kirche
und bete zu unserm Heiland auf den Knien, daß er dir deine Sünden
nicht schwerer anrechne als dem Andree und der Moidi da drinnen, die
du armseliger Mensch zu Gericht ziehen willst, als wärest du der
Richter, und bist selbst nur ein unwissender, sündiger Mensch, wie wir
alle sind. Steh mir hier nicht länger im Weg, fuhr sie mit erhobener
Stimme fort, und ihr andern geht auch eurer Wege; nur ich habe ein
Recht, an diese Tür zu klopfen, denn daß ihr es nur wißt, da drinnen
wohnt mein Sohn, den ich mit Schmerzen geboren und lange Jahre
verleugnet habe, weil ich ein schwaches Weib gewesen bin und die
Schande vor der Welt gefürchtet habe. Jetzt aber sage und bezeuge ich
vor dem Angesicht Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen
Geistes und vor den Ohren aller, die hier versammelt sind: Mein ist er,
und wer ihn anklagen oder schmähen will, der klage mich an, denn ich
habe es verschuldet, daß er in Schuld und Elend gefallen ist, weil ich
ihn nicht an meiner Hand gehalten habe, wie eine Mutter ihr Kind
halten soll, sondern habe ihn einer Fremden überlassen, die ihn nicht
lieben konnte. Nun wisset ihr's, und nun gehet in die Kirche hinunter
und betet für eine große Sünderin, die ihr für fromm und gerecht
gehalten und geehrt habt, und die von allen Frauen die letzte und
verachtetste sein muß, wenn Gott sich ihrer Reu' und Leiden nicht in
Gnaden erbarmen will.
Als sie das gesprochen hatte, blieb alles stumm, und niemand regte
sich von der Stelle, außer dem Franz, der verstört zurückwich und
jetzt unter der Menge verschwand. Die Anna aber pochte an die Tür des
Hauses, die sich alsbald öffnete. Auf der Schwelle stand der Andree
wie ein Träumender. Da sah er die Augen der Mutter auf ihn gerichtet
und sah, wie sie überflossen und wie ihr die Knie wankten, als sie
einen Schritt ihm entgegen tat, und sie wäre vor ihm niedergefallen,
wenn er nicht beide Arme fest um sie geschlungen und sie wieder
aufgerichtet hätte, daß sie an seiner Brust sicher ruhen und sich
ausweinen konnte. Jetzt erst kam wieder Leben unter die Volkshaufen;
aber sie lösten sich geräuschlos auf, untereinander flüsternd, die
Weiber drückten ihre Tücher gegen die Augen, die Männer gingen
schweigsam hinweg. Viele blieben zurück und starrten in die offene
Türe, in der die Mutter mit ihrem Sohn verschwunden war.
Es währte auch nicht lange, so traten sie wieder heraus, die Mutter in
der Mitte, der Andree zu ihrer Rechten, die Moidi zur Linken, alle
drei Hand in Hand. Sie sprachen nicht miteinander, sie blickten mit
stillen Gesichtern wie verklärt vor sich hin. Und als die Moidi
draußen der Rosel ansichtig wurde, ließ sie auf einen Augenblick die
Hand der Mutter los und fiel der Getreuen mit weinenden Augen um den
Hals. Dann zog sie die Freundin mit sich fort, und die vier wundersam
verbundenen Menschen gingen durch die stillen Haufen des Volks die
Straße hin, die nach der Stadt hinunterführt. Ein lautloser Strom
Andächtiger schloß sich ihnen an.
Unten aber, wo der Marktplatz von Menschen wimmelte, öffnete sich
ihnen eine breite Gasse. Das Gerücht war ihnen vorausgeeilt, an allen
Haustüren und Fenstern standen die Bürger und Bauern, um die Anna
Hirzer zu sehen, die Heilige, die ihren Sohn einherführte, um ihn der
ganzen Stadt zu zeigen und Zeugnis abzulegen, daß sie große Sünde
getan und der Barmherzigkeit ihres Gottes bedürftiger sei als mancher,
der sie heilig gesprochen.
Und eine Stunde später, als die Zehnuhrmesse eingeläutet wurde, kniete
die Mutter mit ihren beiden Kindern ganz vorn zwischen den Stühlen auf
dem kalten Stein. Der Geistliche am Altar sah sie wohl. Seine Stimme
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