Der Weinhüter - 1

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Der Weinhüter
Paul Heyse
(1862-63)



Im September eines Jahres, dessen Stadt- und Dorfgeschichten aus
Menschengedenken schon entschwunden sind, saß um die schwüle
Mittagszeit ein junger Bursch mitten in dem wuchernden Rebenwald, der,
dicht an die Stadt Meran herantretend, die Südabhänge des Küchelberges
bedeckt. Die übermannshohen Laubengänge, in denen hier der Wein
gezogen wird, waren mit dem Segen dieses Jahres so beladen, daß ein
dunkelgrünes Zwielicht durch die langen lautlosen Gassen schwebte,
zugleich eine träge stockende Glut, in der kein Luftzug Wellen schlug.
Kaum wo die kleinen Felstreppen zwischen den einzelnen Weingütern
schroff bergan laufen, spürte man, daß man ins Freie auftauchte. Denn
das Meer von Siedeglut, das in dem weiten Talkessel wogte, schlug hier
doppelt schwer über dem unbeschützten Haupte zusammen. Auch sah man
selten einen Menschen des Weges wandern. Nur zahllose Eidechsen
liefen feuerfest treppauf treppab und raschelten durch das zähe
Efeugestrüpp, das die Grundmauern der Rebenäcker reichlich umrankt.
Die dunkelblauen Trauben mit den großen dickschaligen Beeren hingen
dichtgedrängt oben an der Wölbung der Laubengitter, und ein seltsam
perlender Ton ward in der tiefen Mittagsstille dann und wann hörbar,
als kreise vernehmlich der Saft und koche am Sonnenfeuer in dem edlen
Gewächs.
Der Bursch aber, der in halber Höhe des Berges einsam unter den Reben
saß, schien für diese geheimnisvolle Naturstimmung taub und ganz
seinen eignen düstern Gedanken hingegeben. Er trug die uralte
abenteuerliche Tracht der Weinhüter oder "Saltner", die lederne Joppe,
ärmellos, mit breiten Achselklappen, an denen über den Hemdsärmeln die
ledernen Manschetten durch schmale Riemen oder silberne Kettchen
festgehalten werden, Kniehosen und Hosenträger ebenfalls von Leder und
mit dem breiten, daumdicken Gurt umgürtet, auf dem in weißer Stickerei
der Namenszug des Eigners steht, die weißen Stutzenstrümpfe mit
durchbrochenem Muster, um den Hals allerlei Zierat von Kettchen, Eber-
und Murmeltierzähnen. Aber die Hauptstücke seiner Amtstracht lagen
neben ihm im Grase: der hohe dreieckige Trutzhut, über und über mit
Hahnen- und Pfauenfedern, Fuchs- und Eichhornschwänzen verbrämt, keine
kleine Last zur Zeit der Traubenreife, und die lange wuchtige
Hellebarde, mit der die Saltner ihrer drohenden Erscheinung Nachdruck
zu verleihen wissen, wenn ein unbefugter Eindringling in ihr Gebiet
nicht gutwillig das Pfandgeld erlegen will.
Tag und Nacht, ohne Ablösung, ohne Sonntagsruhe und Kirchgang, um
einen mäßigen Lohn durchstreifen diese "lebendigen Vogelscheuchen"
jeder das ihm zugewiesene Revier, von der Mitte des Juli, wo die
ersten Beeren süß werden, bis die letzte Traube in die Kelter
gewandert ist. Ihr saurer Dienst in Hitze und Nässe, obdachlos bis
auf den kümmerlichen Schutz ihres Maisstrohschuppens, ist dennoch ein
Ehrenamt, zu dem nur die rechtschaffensten Burschen ausersehen werden.
Auch haben die gelinden sternklaren Nächte in der freien Höhe,
während in den Häusern die Tagesschwüle kaum je verdampft, ihren Reiz,
und die Besitzer der Weingüter lassen sich's angelegen sein, die
Wächter mit Wein und Speisen reichlich zu versorgen, um sie bei
Kräften und guter Laune zu erhalten.
Es schien jedoch dieses Mittel bei dem finstern Burschen, dem wir uns
genähert haben, nicht anzuschlagen. Er hatte den Krug mit rotem Wein,
das Brot und die großen Schnitte geräucherten Fleisches, die ihm eben
erst zur Mittagskost ein kleiner Knabe heraufgeschleppt hatte,
unberührt neben sich stehen auf dem platten Stein, der seinen Tisch
vorstellte. Eine sehr kleine geschnitzte Pfeife mit silbernem
Kettchen war ihm schon lange ausgegangen, und trübsinnig verbiß er die
Zähne in das weiche Holz. Er mochte etwa dreiundzwanzig Jahre alt
sein, der Bart krauste sich leicht um Kinn und Wangen, die scharfen
Züge des Gesichts deuteten auf frühe Leidenschaften; die Stirn aber
war, nach der Landessitte, von den Haaren verhängt, die, früh schon
dicht über den Augenbrauen abgeschnitten, sich in einzelne Locken
gewöhnt hatten und um Schläfe und Nacken ebenfalls gelockt herabhingen.
Das gab dem Kopf alle Jugendfrische zurück, die ihm die Schatten
unter den dunklen Augen zu nehmen drohten.
Ein langsamer Schritt, der sich unten auf dem Fußsteige näherte,
machte, daß er plötzlich aufstarrte, den Hut aufsetzte und die
Hellebarde ergriff. Man konnte jetzt sehen, daß sein Wuchs hinter dem
landüblichen etwas zurückgeblieben war, immer noch stattlich genug und
durch das schönste Ebenmaß der gewölbten Brust und der straffen
Schenkel auffallend auf den ersten Blick. Nur der Kopf schien fast zu
klein geraten und Hände und Füße gar mit einem Weibe ausgetauscht.
Geräuschlos glitt die schmiegsame Gestalt unter den Gewölbgittern
entlang, ohne auch nur eine Traube zu streifen, und spähte vom
nächsten Felsenvorsprung hinunter auf den Weg.
Eine schmale, schwarzröckige Figur mit hohem, sehr abgetragenem
Filzhut kam die breite Gasse zwischen Weinberg und Wiese
dahergewandelt, im Schatten der Weidenbäume, ein offnes Buch in den
gefalteten Händen, über das hinaus der Blick zufrieden und
unbegehrlich nach den schönen Trauben schweifte. Auch ohne den langen
Rock, der fast zu den Knöcheln der schwarzen Strümpfe herabreichte,
hätte jeder in dem bedächtigen Spaziergänger alsbald die geistliche
Person erkannt, und zwar an einigen der liebenswürdigsten Züge, die
der großen und mannigfaltigen Gattung unter gewissen Himmelsstrichen
eigen sind. Damals war der heftige Parteienhader zu Gunsten der
Glaubenseinheit in dem gelobten Lande Tirol, wo die Milch des Glaubens
und der Honig des Aberglaubens so lauter fließen, noch eine unerhörte
Sache, und selbst die Hauptstadt des alten Burggrafenamts Meran, in
der vorzeiten mancherlei Regungen eines neuen Geistes unliebsam die
Ruhe gestört hatten, war wieder in tiefen Frieden zurückgesunken.
Also hatten die Diener der Kirche keine Ursach, ihren Hirtenstab als
Waffe zu schwingen, und konnten mit aller Gemütsruhe die idyllischen
Tugenden ihres Standes pflegen. Damals begegnete man nicht selten
jenen bescheidenen geistlichen Gesichtern, auf denen eine gewisse
Verlegenheit über ihre eigene Würde deutlich zu lesen war, eine stete
Sorge, der Majestät des lieben Gottes, dessen Kleid sie trugen, nichts
zu vergeben, und doch ihren ungeweihten Mitgeschöpfen nicht allzu
unnahbar feierlich gegenüberzustehn.
Der freundliche kleine Herr im schäbigen Hut war nun auch freilich
keines der hohen Kirchenlichter, sondern nur ein Hilfspriester an der
Pfarrkirche von Meran, der täglich um zehn Uhr eine Messe zu lesen
hatte und dafür, außer einem Stübchen in der Laubengasse und einigen
andern Emolumenten, einen Gulden täglicher Einkünfte besaß. Das Volk,
das ihn seines milden Gemütes wegen sehr in Ehren hielt und nächst den
Kapuzinern ihm das größte Vertrauen zuwendete, nannte ihn nicht anders
als den "Zehnuhrmesser" und bewies ihm auf mannigfache Art seine Gunst.
Es war kein Haus weit und breit, wo, wenn er ansprach, nicht der
Weinkrug und irgend ein Imbiß auf den Tisch gestellt wurde, so daß es
dem wackeren Mann gelungen war, im Laufe der Zeit zwar nicht die
natürliche Hagerkeit seines Wuchses zu verbessern, aber wenigstens der
Würde seiner Erscheinung durch ein schüchternes Bäuchlein aufzuhelfen.
Dasselbe nahm sich, da es sich mit dem übrigen Zuschnitt der Figur
nur um Gotteswillen vertrug, für ein profaneres Auge spaßhaft aus, wie
es schief und ängstlich unter dem dünnen Rocke festgeknöpft saß. Aber
zu dem bescheidenen Ausdruck des Gesichts stimmte die verlegentliche
Bürde ganz wohl, und es fiel keinem seiner Beichtkinder ein, diesen
Spätling der Natur zu belächeln. Auch wußte niemand dem Herrn
Zehnuhrmesser eine Unmäßigkeit nachzusagen, es sei denn etwa im
Almosenspenden. Denn daß man allerorten sich beeilte, ihn mit dem
Besten aus dem eigenen Weinberg zu bewirten, lag zum Teil an dem Rufe,
dessen er genoß, als sei viele Stunden weit keine weltliche oder
geistliche Zunge besser imstande, die Güte des Weins zu schätzen,
seine Dauerhaftigkeit zu bestimmen, und in Fällen, wo ihm durch ein
kleines Mittelchen aufzuhelfen war, das richtige anzugeben. "Eine
Weinzunge haben wie der Zehnuhrmesser", war noch geraume Zeit das
Ehrenvollste, was man von einem Kenner zu rühmen wußte.
Unter den mancherlei Gaben und Tugenden unseres Ehrenmannes war aber
der Mut nicht eben die stärkste. Seine Nerven, obwohl er aus einer
Bauernfamilie im Passeier stammte, die zu Hofers Kriegen manchen
tapfern Schützen geliefert hatte, ließen seine leicht erschütterte
Seele bei jeder unversehenen Probe im Stich, außer wo es eine fremde
Seele zu retten oder sonst eine hohe Gewissenspflicht zu erfüllen galt.
Auch dann zog er es vor, seiner moralischen Kraft erst mit einer
physischen Stärkung nachzuhelfen, und sorgte dafür, daß ein mäßiges
Fäßchen voll weißem Terlaner, dem er am meisten begeisternde Wirkungen
zuschrieb, im Keller seines Hauses niemals ganz versiegte. Heute nun,
da er von einem Krankenbesuch im Dorf Algund ohne Labung zurückkehren
mußte, war er keiner starken Prüfung gewachsen und erschrak aufs
heftigste, als plötzlich dicht neben ihm eine dunkle Gestalt hoch von
der Weinbergsmauer herabsprang und auf ihn zustürzend seine Hand
ergriff.
Gelobt sei Jesus Christus! sagte er, am ganzen Leibe zitternd.
In Ewigkeit! antwortete der Bursch.
Du bist's, Andree, mein Sohn? Hab' ich doch gemeint, der böse Feind
komme mir mit Macht über den Hals, der ja im Weinberge des Herrn
herumschleicht, zu sehen, wen er verschlinge. Nun, nun, wenn man so
in Gedanken und Meditationen schwebt, kann's einem schon begegnen, daß
euer Hut einem wie das Hörnerhaupt des Leibhaftigen vorkommt. Bist
also hier, Andree? Das ist ja wohl dein eigener Grund und Boden, den
du hütest, ich meine, deiner Mutter?
Des Burschen Augen wurden finsterer, und das Blut stieg ihm ins
Gesicht. Da sei Gott vor, sagte er, daß ich den Fuß setzte in die
Güter meiner Mutter. Seit sie mir zu Lichtmeß den Schlag ins Gesicht
gegeben hat, weil sie meint', ich hätte Feuer im Stadel angelegt, bin
ich nimmer ihr Sohn und betrete ihre Schwelle weder bei Tag noch bei
Nacht.
Der geistliche Herr besann sich jetzt erst, daß er einen wunden Fleck
berührt hatte. Er schüttelte ernsthaft und mitleidig den Kopf und
sagte: Ei, Andree, du sprichst, wie es keinem guten Christen geziemt.
Hat nicht unser Herr am Kreuz seinen blutigen Feinden verziehen, und
ein Sohn sollt' es seiner Mutter nachtragen, wenn sie ihn auch
ungerecht gezüchtigt hat? Ich weiß wohl, daß es dir hart ankommen mag,
und daß jenes Mal, wo die Mutter sich vergessen hat, nicht das erste
Mal war. Aber sieben mal siebenzigmal sollen wir verzeihen, Andree.
Hast du das schon vergessen seit der Kinderlehre?
Nein, Hochwürden, erwiderte der Jüngling fest. Ich hab' mir's auch
angelobt, an jenen Tag nimmer zu denken und kann's über mich bringen,
solang ich vom Hause fernbleibe. Aber wenn ich zurückkäme, würde mich
die Mutter selbst daran mahnen, weil sie mich haßt und nur darauf
sinnt, wie sie mich plagen und tratzen mag. Sie wird mir auch mein
Erbe entziehen im Testament, selbiges weiß ich gewiß, und frage nicht
viel danach. Ich werd' auch ohne das nicht verkommen, und gönn' es
wohl meiner Schwester. Aber geschieden sind wir, und da kann keiner
was dazu tun. Ich hab' mich beim Steirer verdungen, drüben in Gratsch,
als Großknecht, und heuer mach' ich den Saltner und hab' mein
Auskommen, ohne einen Kreuzer von Haus. Aber die Mutter könnte mir
sieben Boten schicken und mich mit vier Rossen zurückholen wollen, ich
ginge nicht. Es hat alles einmal ein End'.
Der kleine Priester sah nachdenklich vor sich hin und schien der
Meinung, daß es geratener sei, die Dinge gehen zu lassen, anstatt noch
weiter mit geistlicher Mahnung einzugreifen. Er betrachtete jetzt mit
kundigen Augen die Reben oben über der Mauer und sagte:
Der Steirer hat wohlgetan, statt der Bratreben, die sonst hier standen,
die Hertlinger anzupflanzen. Sie sind noch jung, aber im nächsten
Jahr werden sie das Doppelte tragen.
Die stehen nur hier am Rande, erwiderte der Bursch. Droben ist meist
roter Farnatsch und einiges von Geißaugen dazwischen. Was er drüben
hat, unterhalb Dorf Tirol, sind rote Ferseilen, aber er wird sie heuer
ausnehmen und Setzlinge pflanzen, denn sie haben sich schier zu Tod
getragen.
Auf wieviel Uhren rechnet ihr beiläufig?
Einhundertundvierzig bis--siebenzig immerhin.
Wie steht dir das Saltnern an, Andree? Es mag hart werden auf die,
Länge.
Ha, es passiert, Hochwürden. Noch spür' ich's nicht in den Gliedern.
Hast auch bei Nacht fein die Augen offen?
Die meinigen wohl. Aber sind nur zwei, und ich müßt' ein Dutzend
haben, um allerorten zugleich nachzuschauen. Die Weißröcke fangen
wieder an, bei Nacht herumzufuragieren; die Weinbeeren sind ihnen grad
saftig genug, um ihr Kommißbrot anzufeuchten. Und es kommen ihrer
immer viele auf einmal, aber einzeln, und wenn wir einen fassen, haben
indes die andern das Feld frei, und es hilft uns nichts, vorm
Hauptmann ist doch kein Recht zu erlangen.
Die Stadt sollte sich beklagen.
Ja die Stadt! Da müßten wir Zeugen und Beweise schaffen. Aber wer
will's beschwören, wenn wir am Morgen ganze Strecken lang die besten
Trauben gestohlen und links und rechts die Reben wie ein Unkraut mit
dem Säbel zerhauen finden aus Wüstheit und Schadenfreude, daß das nur
die Soldaten getan haben können? Fassen wir einen am Kragen, so weiß
er so wenig von Weinbeeren wie's Kind im Mutterleib. Da bleibt nichts,
als ihn auf eigene Faust Spießruten laufen zu lassen, daß er's
Wiederkommen vergißt. Den nächsten aber, den hängen wir, mein Eid! an
den Beinen auf, da mag er bis an den lichten Morgen in der Luft
exerzieren.
Es sind arme Teufel, Andree, und die Versuchung ist groß. Ihr
solltet's menschlich mit ihnen machen.
Machen sie's denn nicht wie die Bestien? Da seht, Hochwürden--und er
wies auf eine Rebe, die glatt mitten durchgeschnitten war, daß das
Laub schon welk und gelb an den Ranken hing--das Herz blutet einem, so
ein gesundes, friedliches Gewächs, das nur auf der Welt ist, um seinem
Herrn das Faß zu füllen, von den Hundsföttern verheert zu sehen, aus
purer Niedertracht, uns zum Possen. Find' ich einen einmal beim Werk,
so gnad' ihm Gott!
Er schüttelte, in der Richtung nach der Stadt, drohend die Hellebarde
und bohrte sie darin heftig in den Sand.
Der geistliche Herr schrak leicht zusammen, vergaß aber seiner Würde
nicht und sagte: Ich will mit dem Hauptmann sprechen, heute noch, daß
er strenger drauf sieht, nach dem Zapfenstreich keinen Mann aus der
Kaserne zu lassen. Du aber bezähme deine Hitze, mein Sohn, und
bedenke, daß du hier im Dienste der Obrigkeit stehest und das Gericht
ihr überlassen sollst. Behüt dich Gott, Andree. Ich gehe heute wohl
auf Goyen hinauf, zum Hirzer. Hast mir was aufzutragen an den Franz
oder die Rosina? Einen Gruß etwa?
Nein, Hochwürden. 's ist immer noch beim alten zwischen dem Bauern und
mir. Er will nichts von uns wissen, so frag' ich ihm nichts nach.
Die andern sind ganz rechtschaffen, möcht' ihnen beim Vater keinen
Verdruß machen, indem ich sie grüßen ließ'. Aber wenn Ihr etwa meiner
Schwester begegnet--nein, auch der sagt nichts, es war nur ein Einfall.
Rasch, wie um seine Verwirrung zu verbergen, bückte er sich nach der
Hand des Priesters, küßte sie ehrerbietig und schwang sich an dem
langen Hellebardenschaft auf die Mauer zurück, wo er sogleich hinter
dichtem Rebenlaub verschwand.
Kopfschüttelnd setzte der Zehnuhrmesser seinen Weg fort, und das
Gespräch mit dem Jüngling beschäftigte sein menschenfreundliches Gemüt
noch eine geraume Zeit. Aber die lange, tägliche Übung einer
ausgebreiteten Seelsorge und die geistliche Pflicht, das Öl der Geduld
in eigene und fremde Stürme zu träufeln, hatten den schärfsten Stachel
des Mitgefühls bereits abgestumpft. Es ahnte ihm nicht von fern, wie
es jetzt im Innern des Burschen aussah, der oben bei seiner Maishütte
lag, das Gesicht gegen den Felsboden gedrückt, als wollte er sich bei
lebendigem Leibe in den Schoß der Mutter Erde vergraben, um vor einem
übergroßen Kummer Zuflucht zu finden,
Eine volle Stunde mochte er so gelegen haben, zuletzt durch einen
mitleidigen Halbschlaf von seinen hilflosen Gedanken erlöst, als ein
helles Lachen, das unten am Weg erscholl, ihn jählings erweckte.
Einen Augenblick lag er still, sich zu besinnen, ob er's nicht etwa
geträumt habe. Aber eine helle Stimme drang zu ihm herauf und
dasselbe unschuldig trillernde und girrende Mädchenlachen, das sich
von fern fast wie der Gesang eines Vogels ausnahm. Im Nu war der
Jüngling aufgesprungen und an ein Lugloch gestürzt, das den Blick
hinunter freiließ. Auf dem nämlichen Weg unter den Weiden, den der
geistliche Herr vorhin gewandelt war, kam, diesmal aber von der
Stadtseite, ein Mädchen, das nicht über siebzehn Jahr sein konnte,
blond, eher klein als groß, in der dunklen, schwerfälligen
Landestracht. Aber die Bewegungen der zierlichen Gestalt, so langsam
und behaglich sie einherschritt, waren so leicht und anmutig, daß
jedes Auge ihr unwillkürlich folgen mußte. Sie hatte die Hände ruhig
ineinandergelegt, wie es die Art der Mädchen hier zu Lande ist, wenn
sie nichts zu tragen haben. Der runde Kopf aber blieb keinen
Augenblick still auf dem schlanken Nacken, sondern wendete sich wie
bei einem Vogel rastlos nach allen Seiten, am häufigsten freilich zu
ihrem Begleiter, über dessen scherzhafte Reden sie beständig in ein
neues Lachen ausbrach. Das war ein gewandter, rühriger Gesell, dem
die leinene Soldatenjacke, die enganschließenden blauen Hosen und die
schiefe blaue Kappe ohne Schirm nicht übel standen. Sein dunkles
Gesicht und die schwarzen Augen verrieten das welsche Blut. Auch
hatte er große Mühe, sich dem Mädchen in seinem gebrochenen Deutsch
verständlich zu machen. Aber schon der Klang seiner verstümmelten und
verwelschten Worte schien sie höchlich zu belustigen. Mehrmals warf
er forschende Blicke in der Gegend umher. Einen Bauern, der ein Kalb
mit Hilfe seines Hundes nach dem nächsten Dorfe trieb, ließ er mit
absichtlichem Zögern vorankommen, und jetzt, da derselbe um die Ecke
des Weges verschwunden war, rüstete er sich offenbar, mit dem Mädchen
etwas handgreiflicher anzubinden, als sein spähendes Auge plötzlich
die drohende Gestalt des Weinhüters entdeckte, der aus der Öffnung des
Weinganges herausgetreten war und mit erhobener Waffe, noch sprachlos,
hinunterwinkte.
Der Welsche stand unschlüssig still. Auch das Mädchen hermmte den
gleichmütigen Schritt und sah hinauf. Guten Nachmittag, Andree! rief
sie ohne jede Verlegenheit. Es ist mein Bruder, setzte sie, zu dem
Soldaten gewendet, hinzu. Macht, daß Ihr fortkommt; er versteht
keinen Spaß.
Der Soldat schien den wohlgemeinten Rat vollkommen zu würdigen, aber
durch die Entfernung seines Feindes sich einstweilen noch sicher zu
fühlen. Nix Furcht, Fralla, sagte er; ihm geben Kreizer a comprar
tabacco; dann still sein, gut Freund.-Er griff in die Tasche und holte
eben seine geringe Barschaft heraus, als er die donnernde Stimme des
Burschen droben vernahm: Zurück, Soldat, oder der Spieß fliegt dir an
den Kopf, daß du bei Nacht und Tag das Wiederkommen vergißt.
Der Welsche stand wie angewurzelt und maß den Weinhüter mit einem
wütenden Blick.
Deutsche Bär! murmelte er zwischen den Zähnen. Maledetto!--Aber noch
konnte er sich nicht entschließen, umzukehren und sich vor den Augen
seiner Schönen in so nachteiligem Licht zu zeigen. Diese stand,
offenbar durch seine heftigen und ohnmächtigen Gebärden ergötzt,
gelassen neben ihm und lachte ohne jede Schonung. Aber dem Burschen
oben erschien der Auftritt nichts weniger als lustig. In raschen
Sätzen sprang er, durch schmale Öffnungen der Lauben sich windend, den
Abhang hinab, und ehe der Welsche sich besinnen konnte, sahen zwei
funkelnde Augen unter dem wehenden Trutzhut ihm in das entfärbte
Gesicht.
Hast du Ohren, Kamerad? herrschte der Zornglühende ihn an. Weißt
nicht, daß der Weg hier für deinesgleichen verboten ist? Soll ich dir
die Jacke vom Leibe reißen, um ein Pfand zu behalten, welscher Fuchs?
Hast wohl Weinbeeren vergessen zu Nacht, und kommst nun zur Marend,
sie zu holen? Den Augenblick scher dich heim, oder-Die Hand weg!
knirschte der Welsche, da er sich ungestüm gepackt und geschüttelt
flühlte. Hätt' ich mein' sdégena-Wurm! rief der Jüngling. Bring nur
deinen Degen mit das nächste Mal, und dein Gewehr dazu; es wär' doch
ein Pfand, das der Müh' verlohnte. Aber nun beim Kreuz! fort mit dir,
oder ich spieße dich auf wie einen Frosch, und werfe dich in deinen
Kasernenhof zurück, daß du das letzte Stoßgebet nimmer zu Ende beten
sollst.
Damit schleuderte er den langen Gesellen einige Schritte weit fort,
daß er, über einen Stein strauchelnd, in die Knie fiel. Im Augenblick
war er wieder auf den Füßen, und mit beiden Fäusten wie ein Weib gegen
den Feind drohend und eine Flut von welschen Flüchen hervorsprudelnd,
wich er der Gewalt und trollte hinkend und oft zurückblickend im
Schutz der Weiden dem nahen Stadttor zu.
Du hast's ihm aber arg gemacht, Andree, sagte die Blonde, indem sie
dem geschlagenen Galan ganz kaltblütig nachblickte. Er hat so
g'spaßiges Zeug geredt, daß ich immer hab' lachen müssen. Warum bist
du gleich so wild worden?
Der Bruder gab keine Antwort, seine Gedanken waren noch bei seinem
Zorn. 's ist noch nicht aus zwischen uns! sagte er vor sich hin. Er
kommt mir schon wieder; meinetwegen! so heb' ich's ihm auf.--Moidi,
fuhr er fort, plötzlich zu dem Mädchen gewendet, und du, immer noch
das alte Lied? Wer mir aufspielt, dem tanz' ich? Schämst du dich
nicht, so einem tückischen Teufel das Wort zu gönnen und neben ihm her
zu gehen? Wenn dir jeder recht ist, der dich lachen macht, so bleib
weg von mir. Denn du weißt wohl, das Lachen ist rar bei mir, wie der
Schnee zu Pfingsten.
Das Mädchen war still geworden und sah mit zerstreutem Blick vor sich
hin. Sie strich sich mit beiden flachen Händen über das Haar, das von
allen Seiten glatt über den Kopf zurückgekämmt und im Nacken mit einem
großen runden Kamm festgesteckt war, und ihr sehr zartgefärbtes
Gesicht rötete sich vor Verlegenheit. Andree, sagte sie endlich, ohne
ihn anzusehen, soll ich wieder gehn?
Nein, bleib! erwiderte er kurz. Bist du meinethalben gekommen?
Freilich, sagte sie eifrig, und wagte es jetzt erst, seinem Blick zu
begegnen. Es ist ja schon eine Woche her, daß ich nicht habe abkommen
können. Du läßt dich ja nimmer sehen. Die Mutter war eingeschlafen,
es war so heiß in der Küche, da hab' ich gedacht, ich will einen
Sprung hinaus tun, zu schauen, wie dir's geht. Und da, einen halben
Weck hab' ich dir mitgebracht; der Hirzerfranz hat ihn mir gekauft, am
Sonntag gestern, nach der Kirch'. Ich mag ihn nimmer, er ist soviel
süß.
Der Hirzerfranz? Was hat der dir zu schenken? Wenn's sein Vater
wüßte, es gäbe einen Teufelslärm. Hat er dich etwa auch zu lachen
gemacht?
Der? Dem lacht's nur in der Tasche, wenn er mit seinen Gulden
klappert. Auch war meine Mutter dabei, weißt wohl; wen die anschaut,
dem vergeht der Spaß, wie den Mäusen, wenn sie die Katze spüren. Mich
wundert's selbst, daß ich noch lustig sein kann. Aber ich wär' längst
gestorben ohne das Lachen, so grauslich ist mir's manches Mal, mit ihr
allein droben in der Hütte.
Sie schwiegen eine Weile.--Magst du den Wecken nicht? sagte das
Mädchen. So leg' ich ihn da auf die Bank, er kommt schon nicht um.
Aber da sind noch ein paar Feigen, von unserm Baum droben, die
reifsten. Ich hab' sie für dich abgebrochen. Da! sie sind gut in der
Hitze!
Ich dank' dir, Moidi, erwiderte er. Komm, wir wollen sie zusammen
essen, droben im Schatten.
Er schritt voran die Weinbergsstufen hinauf, und sie folgte ihm,
allerlei plaudernd, worauf er die Antwort schuldig blieb. Auf seinem
alten Platz unter dem Rebendach warf er sich nieder, und sie setzte
sich neben ihn auf den breiten Stein und nötigte ihn, die Feigen zu
kosten. Mit der Zeit, da keine neue Störung kam, schien ihm wohl zu
werden. Ein leichter Wind machte sich auf und trug den Schall einer
fernen Mühle an der Etsch und das Geräusch der Passer bis zu ihnen
herauf, dann und wann auch einen Knall von den Schützen, die im
Schießstande drüben nach der Scheibe schossen. Die Zeit wurde ihnen
nicht lang. Er nötigte sie, von seinem Wein zu trinken, was sie bald
wieder in die alte lustige Laune brachte. Auch die Heimlichkeit des
schattigen Verstecks reizte ihren Mutwillen, und er, der einsilbig,
aber nicht mehr unmutig, sie gewähren ließ, verwandte kein Auge von
ihr. Endlich setzte sie sich gar den schweren Saltnerhut auf, nahm
den Spieß in die Hand und ging mit großen Schritten die Laubengasse
hinauf und hinunter, mit der Linken die beiden Fuchsschwänze unter dem
Kinn zusammenhaltend, daß ihr Gesicht ganz davon eingerahmt war.
Andree, sagte sie, mich sollten sie schon fürchten, mein' ich, und
wenn die Mutter nicht wär', käm' ich alle Nacht zu dir und machte den
Saltner, während du dich hinlegtest, ein paar Stunden zu schlafen.
Ich wollt' die Spitzbuben, die Soldaten, schon in Respekt halten, gelt?
Der Jüngling lachte zum erstenmal. Als sie sah, daß sie das Eis
seines Trübsinns gebrochen hatte, kam sie rasch zu ihm, setzte Hut und
Hellebarde beiseit und sagte, dicht neben ihm im Grase kauernd: Nun
schau, Andree, tausendmal hübscher bist du, wenn du auch einmal lachst
wie andre Buben, als so alleweil Falten in die Stirn ziehst und
dreinschaust wie unser Herr Christus am Kreuz. Bist du nicht ein
junger, lebfrischer Bub und brauchst dich von niemand in den Sack
stecken zu lassen? Mit der Mutter--ja, das ist freilich eine leide
Geschicht', aber du hast doch keine Schuld daran, das wissen alle
Leut', und um mich brauchst du dich auch nicht zu grämen, ich komm' zu
dir, sooft ich kann, und vor mir darf die Mutter kein bös Wort auf
dich sagen, wenn sie mich nicht zur Tür hinaustreiben will, das weiß
sie wohl. Was hast also, daß du alleweil den Kopf hängst und mir
selber so finstre Augen machst, als wär' ich nicht deine liebe
Schwester, sondern eine Feindin? Und wenn gar ein andrer Bub mir ein
Wörtel sagt, so ist gleich Feuer im Dach. Sag, möchtest du eine Nonne
aus mir machen, oder daß ich bei der Mutter ihr Lebtag die Hennendirn
abgeben und eine steinalte Jungfer werden soll?
Sie war ihm während dieser Worte zutraulich nahe gerückt und hatte den
Arm leicht um seinen Nacken gelegt. Aber wie wenn ein Gespenst ihn
angefaßt hätte, fuhr er auf und schüttelte ihre Liebkosung ab. Seine
Brust arbeitete schwer. Laß mich, keuchte er heftig hervor, rühr mich
nicht an, frag mich nichts, geh fort von mir, so weit du kannst, und
komm nie wieder!
Er war aufgesprungen, als wollte er fliehen, aber er konnte sich nicht
von der Stelle rühren. Er mußte sie ansehen, wie sie, versteinert, im
Grase kniete, die Hände im Schoß gefaltet, mit einem Blick, der ihm
ins Herz schnitt. Die Augen schienen größer geworden, der
halbgeöffnete Mund in einem schmerzlichen Aufschrei erstarrt, die
feinen Nasenflügel bebten. Es war nicht das erste Mal, daß dieses
Gesicht ihn an dem Kinde entsetzte. Ja zuweilen mitten in ihrem
Lachen, das überhaupt oft kindisch klang, ward sie von plötzlichem
Schrecken überfallen und für eine Zeitlang wie von einem verstörenden
Krampf entgeistert, der sich dann mehr oder minder heftig zu lösen
pflegte. Er selbst hatte sich bisher nicht vorzuwerfen, einen solchen
Auftritt verursacht zu haben. Vielmehr rief man ihn, um den bösen
Geist zu bannen, und es pflegte ihm ohne Mühe zu gelingen. Als er sie
aber jetzt in dieser atemlosen Ohnmacht knien sah, durch seine Schuld,
war ihm einen Augenblick selbst die Besinnung gelähmt.
Er schlug sich vor die Stirn und stöhnte tief auf. Dann bückte er
sich zu ihr herab, faßte ihre Hände, die eiskalt geworden waren, und
sah ihr dicht in die Augen. Ich bin's, Maria, sagte er inständig; der
Andree ist's; sieh mich an, höre mich, verzeih mir, ich bin ein
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