Der Weinhüter - 2

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Rasender, aber es ist vorbei; laß auch du es gut sein und verzeih
mir's, du weißt nicht, wie mir ist, sonst hättest du Mitleiden.
Mit seinen heißen Händen drückte er die ihrigen, und ebenfalls
niedergekniet, dicht ihr gegenüber, wartete er mit leidenschaftlicher
Angst, daß das Leben in ihren Zügen wieder aufglimmen möchte. Aber
noch blieb die Starrheit mächtig über ihr, keine Wimper zuckte, kaum
fühlte er einen Hauch aus ihrem Munde gehen, und die weit offenen
Augen schienen ihn durch und durch zu blicken wie leere Luft. Da
setzten mit tiefem Klang die Glocken der Pfarrkirche ein zum
Vespergeläut und lösten den Bann, langsam, aber wohltätig. Sie
seufzte schwer aus der Brust, die Augenlider schlossen sich erst, dann,
als sie sich wieder öffneten und die erwachende Seele sich der Welt
und ihrer selbst besann, quollen große Tränen hervor, und an seine
Schulter gelehnt weinte sie, ohne ein Wort hervorzubringen, die
Erschütterung aus.
Er hielt sie ebenfalls stumm, mit aufatmendem Herzen an sich gedrückt
und horchte auf den wogenden Ton des Geläuts, verworrene Gebete bei
sich selbst hersagend. Als die Glocken ausgeklungen hatten, griff er
nach dem Krug und reichte ihn ihr. Sie näherte ihm die Lippen, wie
eine Kranke, die das Gefäß nicht selbst zu halten sich getraut, und
trank einen langen Zug. Dann schloß sie die Augen, ohne sie zu
trocknen, und schlief neben ihm ein, immer noch auf den Knien und die
Hände unbeweglich gefaltet.
Als er sie nach einer Weile ruhig atmen hörte, hob er sie auf und
legte sie bequem auf den abhängigen Boden nieder, seine Jacke unter
ihren Kopf schiebend, ohne daß sie erwacht wäre. Er selbst, nach
einem raschen Umblick in seinem Revier, lagerte sich neben ihr, den
Kopf in die Hand gestützt, und starrte ihr in das schlafende Gesicht,
das nun ganz friedlich wie aus heiteren Träumen lächelte. Wenn ein
Blatt sich bewegte und dann das Licht flüchtig auf ihrer Stirn spielte,
seufzte sie wohl noch leise nach. Aber ihr war wohl, während es in
ihm von dunklen Schmerzen und schweren Entschlüssen gewaltsam gärte
und jeder Blick in diese friedlichen Züge ihm neue Nahrung für seine
Qualen eintrug.
Welch ein rätselvolles Schicksal umgab diese Geschwister?--Wir müssen,
um es aufzuhellen, um viele Jahre zurück, in eine Zeit, da die Mutter,
die mit so seltsamer Feindschaft zwischen ihnen stand, nicht viel
älter war als das blonde Kind, das dort oben unter den Reben schläft,
freilich in allem übrigen ihr volles Widerspiel. Die Großeltern der
blonden Moidi besaßen droben auf dem Küchelberg ein schlichtes
Bauernhaus, das aber schön nach allen Seiten in die Täler hinuntersah,
links ins Passeier, rechts ins Vintschgau hinein, geradeaus über die
Stadt Meran weg in die breite Niederung der Etsch bis zu den Bozener
Bergen. Der alte Ingram hatte das Anwesen schon von Vorvätern ererbt,
und die liebliche Lage war ihm freilich als Zugabe wert, mehr aber die
ausgedehnten Weingüter, die sich nach allen Seiten daranschlossen und
ihm wohl zustatten kamen, seine vielen Kinder zu ernähren. Von denen
war die jüngste, Maria, oder nach dem Landesausdruck "Moidi", ein
wahres Sorgenkind, während von den übrigen im Guten oder Schlimmen
nichts Sonderliches zu berichten wäre. Diese jüngste jedoch, nicht
allein, daß sie die Häßlichste war, und eher einer Alraune als einem
Meraner Landkinde ähnlich, die meist sauber und wohlgebildet
heranwachsen, betrug sich zudem von klein auf so ungehörig, daß sie
viel Schläge und wenig gute Worte von der Mutter erlebte, und auch der
Vater, der ein mäßiger und am Hergebrachten hängender Mann war, sich
mehr und mehr dieser jüngsten zu schämen begann. Mit der Zeit hörten
die Schläge auf, da es deutlich war, daß sie das Übel nur mehrten, und
es sich nicht obenein verkennen ließ, selbst für ein Bauernauge, es
sei nicht alles in Ordnung in diesem armseligen Kopf. Der Pfarrer
hatte sie zwar genau befragt und ihre Verkehrtheiten nur aus den
verwilderten Trieben eines eitlen und schwachen Herzens herleiten
wollen; und wirklich ließ sich ihrem Verstand, wenn man nicht
sorgfältiger zusah, kein Sprung oder Sparren nachweisen; denn sie
verstand, sobald man sie katechisierte, sich klug zusammenzunehmen und
selbst ihre offenbaren Narrheiten halb und halb zu beschönigen. Von
diesen nun war die ärgste eine ganz unzweckmäßige und mitleidswürdige
Putzsucht, mit der sie, wo sie ging und stand, recht geflissentlich
aller Augen auf ihre ohnehin schon auffallende Häßlichkeit lenkte.
Das trug ihr eine Menge der bösesten Spottnamen ein, und die es am
besten mit ihr meinten, nannten sie den "schwarzen Pfau", oder die
"wüste Moidi" schlechtweg, ihre eigenen Brüder aber nur "die Schwarze";
denn sie war nicht nur von sehr dunkler Gesichtsfarbe und dichten,
buschigen Augenbrauen, sondern auch ihr Haar krauste sich durch ein
merkwürdiges Naturspiel wie das der Negerinnen und sträubte sich
beharrlich gegen Kamm und Flechtenbänder. Ob der König aus Mohrenland
unter den heiligen Dreien auf einem Bilde, das die Mutter einmal in
Bozen gesehen, diese befremdliche Spielart auf dem Gewissen habe, wie
einige behaupteten, lassen wir dahingestellt. Tatsache war, daß die
"wüste Moidi", anstatt ihr Schicksal mit leidlicher Miene zu ertragen,
auf die lächerlichsten Mittel verfiel, ihm abzuhelfen und durch
allerlei Putz und Tand, mit dem sie sich, ganz gegen den Brauch,
behängte, ihre Person ansehnlicher und liebenswürdiger zu machen. Was
sie irgend an Geld zusammenbringen konnte, nicht immer auf die
redlichste Weise, verwandte sie eilig dazu, sich bunte Bänder oder
gemachte Blumen zu verschaffen, mit denen sie ihr wolliges Haar
durchflocht und so, zum großen Ärgernis der Alten und Gespött der
jungen, zuweilen selbst am Sonntag in der Kirche erschien, ungeachtet
ihr die Mutter, sooft sie ihr so begegnete, den Putz zornig abriß und
sie mit Hunger und Schlägen dafür büßen ließ.
Ein wenig besserte sich dieser traurige Hang, als sie in die reiferen
Jahre kam und sich das Gefühl für den Spott der jungen Burschen in ihr
schärfte. Zum Unglück aber löste eine noch unheilvollere Torheit jene
erste kindische ab, und sie ließ ihr, freilich mit besserer
Entschuldigung, noch haltloser den Zügel schießen. Sie warf nämlich
ihre Augen unter den vielen Burschen, die mit ihren Brüdern verkehrten,
gerade auf den schönsten, der sie von früh an mit der unverhohlensten
Abneigung behandelt hatte. Das war an Leib und Seele ein Bursch vom
guten alten Meraner Schlag, ein etwas träges Gemüt in einem starken,
herrlich gebildeten Körper, ein eifriger Kirchgänger, kundiger
Weinbauer, der wenig Worte machte und Gedanken nur für den Hausbedarf
spann, am wenigsten aber mit unnützen Liebschaften Zeit und Geld
vertat, da es überhaupt in diesen romantischen Tälern im Punkte der
Liebe und Ehe meist kaltblütiger und geschäftsmäßiger zugeht, als
flüchtige Reisende sich träumen lassen. Damals, als die schwarze
Moidi sich in ihn vergaffte, lebte sein Vater noch, der Aloys Hirzer,
der eines der alten Herrenschlösser unterm lfinger, auf einer Höhe
über der Stadt frei gelegen, von dem verschuldeten letzten Stammherrn
gekauft hatte, um dort seine Weinbauernwirtschaft mitten unter den
feudalen Trümmern in großem Stile zu errichten. Außer dem Sohne,
Joseph, hatte er noch eine Tochter, die in Innsbruck bei einem Paten
feinere Erziehung genoß und sich zur Lehrerin auszubilden dachte, als
der Vater plötzlich das Zeitliche segnete, und der Bruder sie nun
heimkommen ließ, um ihm die neue Einrichtung zu erleichtern. Es war
ein sanftes, blasses, schönäugiges Mädchen, älter als der Joseph, ihr
Bruder. Dessen Kameraden, von denen wohl mancher ein Gelüsten trug,
sich ein Stück Burgland anzuheiraten, wagten sich an die Anna nicht
heran, die ihnen zu fein und leise war und bald fast im Geruch der
Heiligkeit stand, denn sie war in allen Kirchen und allen Hütten der
Kranken und Dürftigen zu finden und ging an keinem Kinde vorbei, ohne
es auf den Arm zu nehmen, ihm ein Bildchen zu schenken oder seine
Gebetlein hersagen zu lassen. Der Bruder war sehr wohl mit ihr
zufrieden, da sie sein Haus, die Gemächer nämlich, die noch in
wohnbarem Stande waren, geräuschlos in Ordnung hielt. Er hatte sich
von jeher aufs beste mit ihr vertragen. Da er ein guter und durch
Herzenswallungen nicht leicht zu verwirrender Rechner war, schien es
ihm zweckmäßig, daß seine Schwester ledig blieb. Wenn er auf dem
Balkon stand, der wie ein Schwalbennest an der grauen Burgmauer klebte,
und in seiner Bauerntracht, der rotaufgeschlagenen Lodenjoppe, den
breiten schwarzen Hut mit roter Schnur auf dem Kopf, die gebräunten
Hände unter die geschlitzten Hosenträger gesteckt, hinaussah ins weite
Land, verwellte sein Blick mit Befriedigung auf den kleinen
Klostertürmen, die hie und da ihr Kreuz aus dem Duft erhoben, und er
gedachte gern daran, daß die früheren, adligen Burgherren dort ihre
unversorgten Söhne und Töchter untergebracht hatten. Es wäre ihm
nicht ungelegen gewesen, wenn seine Schwester ebenfalls vor den
Gefahren und Anfechtungen der Welt eine beschauliche Zuflucht gesucht
hätte. Da sie aber hiezu keine Lust bezeigte, auch fürs erste noch im
Hause völlig nötig war, nahm er einstweilen mit dem Abglanz ihres
Heiligenscheins, der auch auf ihn herüberstrahlte, vorlieb und war
nicht wenig stolz, wenn geistliche Herren, der Schwester wegen,
fleißig auf Goyen vorsprachen und bei einem Glase roten Weins über die
Angelegenheiten der Kirche erbauliche Reden führten.
An seine eigene eheliche Zukunft dachte er nur gelegentlich, wenn von
einer reichen Erbtochter einmal die Rede war, auch darin ohne hitzige
und häßliche Habsucht, mit einem stillen Pflichtgefühl, daß es ihm
wohl zukomme, das väterliche Gut durch einen schönen runden Zuwachs zu
mehren. Da er, wie gesagt, einer der schmucksten Burschen der Gegend
war, trug er die ruhige Zuversicht mit sich herum, daß es ihm gar
nicht fehlen könne, wenn er überhaupt Ernst mache. Auch nahm er
anfangs die unverhohlenen Gunstbeweise der schwarzen Moidi nur mit
einer würdevollen Geringschätzung hin. Auf die Länge aber, als das
Gerede lauter und stachliger wurde, als er sich an keinem Markt,
Kirchtag oder bei sonst einer öffentlichen Gelegenheit sehen lassen
konnte, ohne mit seiner Eroberung gehänselt zu werden, stieg ihm der
Ärger ernstlich zu Kopf, und er hielt es für passend, durch die
verächtlichsten Scherze sich die zudringliche Liebeswerbung vom Halse
zu schaffen.
Manchem andern wäre dieselbe vielleicht mitleidswürdig erschienen;
denn sie äußerte sich nur in der rührenden Hartnäckigkeit, mit der die
Augen des Mädchens, sobald der Bursch ihr begegnete, wie durch eine
Naturgewalt bezwungen an seinem regelmäßigen, rot und weißen Gesichte
hingen und ihm überallhin folgten, unbekümmert um den Zorn, der statt
jedes Zeichens von Gegenliebe seine Züge verfinsterte. Selbst in der
Kirche, wenn er hinter ihr stand, wußte sie's einzurichten, daß sie
wenigstens das halbe Gesicht nach ihm umkehrte, und sie war dann so
sehr in ihre bewundernde Andacht versunken, daß sie alles andere
darüber vergaß. Wer die einfachen und kühlen Sitten des Volkes und
die ehrbare Gleichgültigkeit, mit der die Geschlechter sich hier
begegnen, bedenkt, wird das große Ärgernis begreifen, das ein solches
Betragen erweckt. Auch waren die meisten ganz überzeugt, die Moidi
sei nur halb bei ihren Sinnen, und man müsse sie gewähren lassen, da
man sie doch nicht füglich vom Kirchgang zurückhalten könne, ohne den
bösen Geistern noch größere Macht über sie einzuräumen. Die jungen
Burschen aber dachten minder christlich und hießen sie einfach
mannstoll, und da sich auch die Mädchen von ihr zurückzogen, war die
schon von der Natur Gezeichnete desto auffallender, wenn sie einsam
und ohne Gesellin den Küchelberg herab in die Messe ging, mit den
durchdringenden Augen weit voraus unter den versammelten Männern am
Kirchplatz nach ihrem Erkorenen suchend. Dann geschah es wohl,
besonders nach der Vesper, wo schon der Wein in den Köpfen den Ton
angab, daß einer der Hartherzigsten die schöne Passeirer
Altjungfernklage zu singen anfing:
Was muß ich armes Madl anheben,
Daß ich grad' einmal bekomm' ein'n Mann?
Die Buben, die tun kein' Achtung mehr geben,
Vor mir lauft ein jeder darvon.
Jetzt ist mir nimmer wohl,
Weiß nit, was ich tun soll,
Daß ich halt nur grad' einen erlang'!

Und wenn der Refrain des Gelächters ein wenig verschollen war, die
zweite Strophe:
Fünfundzwanzigmal bin ich schon kirchfahrtengangen,
Nüchtern, und han mir nicht z' essen getraut.
Han gemeint bei Gott die Gnad' zu erlangen,
Daß ich dies Jahr möcht' werden a Braut.
Jetzt--und ist alles nichts;
Die Fastnacht ist auch schon für--
Ach, ich arme verlassene Haut!
Der Joseph, wenn er sich auch zu vornehm hielt, um mit einzustimmen,
hörte doch mit sichtbarer Befriedigung zu und hoffte, dieses singende
Gassenlaufen würde der armen Tollen die verliebten Grillen austreiben.
Sie aber schien, sobald sie ihn nur sah, so völlig taub zu sein, daß
sie das Schimpflied weder hörte, noch sich zu Gemüte zog. Auch für
die erbitterten Scheltreden ihrer Brüder war sie ganz unempfindlich,
erwiderte kein Wort, änderte aber um kein Haar ihr Betragen, und
selbst das scharfe Vermahnen des Pfarrers, dem etwas davon zu Ohren
gekommen, vermochte so wenig über diesen seltsamen Zustand, wie beim
Eisen das Abraten hilft, wenn der Magnet ihm nahe kommt.
Da übernahm es endlich eine mitleidige unter den Mädchen, der Moidi
den Kopf zurechtzusetzen. Sie hinterbrachte ihr--wahr oder zweckmäßig
erfunden, wissen wir nicht--, daß der Hirzersepp gesagt habe: Wenn's
ihm drum zu tun wäre, schwarze Pudel in die Wiege zu bekommen, würde
er die Moidi heiraten.--Die Predigt über diesen kurzen und bündigen
Text scheint eindringlich genug gewesen zu sein. Denn seit dem Tage
war "die Schwarze" wie verwandelt, ließ sich nirgend sehen, stahl sich
vor Tagesgrauen in die Frühmesse, wo sie im hintersten Winkel der
Kirche kniete, und wenn droben auf dem Berg ein Bursch ihr begegnete,
wandte sie das Gesicht ab und schwieg auf alle Anrede. Die Putzsucht
war vollends verschwunden. Das Schlechteste und Gröbste trug sie am
liebsten, und ihre krausen Haare flogen, wochenlang ohne Pflege, ihr
um die Schläfen, daß sie fast unheimlich anzuschauen war und niemand
mit ihr zu tun haben mochte.
Im übrigen tat sie ihre harte Arbeit ohne Murren, und so waren die
Eltern wohl mit ihr zufrieden und ließen sie in allem gewähren. Der
Winter ging so hin. Als im Frühling die Wiesen zu grünen anfingen,
kam sie eines Tages zum Vater und bat um seine Erlaubnis, auf eine
Alpe ziehen zu dürfen, die höchste und einsamste im Passeier. Der
Vater, der von allen noch die klarste Ahnung ihres unseligen
Gemütszustandes hatte, willigte unbedenklich ein, und so war einen
Sommer lang die schwarze Moidi völlig verschollen.
Desto heftiger erstaunte alle Welt, als im Herbst die Herden von den
Bergen heimkamen und das Gerücht mit ihnen ging: des alten Ingram
Tochter habe einen Buben mitgebracht, ein so sauberes, blühweißes und
rosenfarbenes Kind, als nur jemals sich ohne Vater beholfen habe, mit
schwarzen, aber gar nicht mohrenhaften Härlein, ein wahrer Staatsbub.
Auch sei die Moidi, trotz der Schande, ganz wohlvergnügt, habe die
Schläge, mit denen die Mutter sie empfangen, ohne Klage hingenommen,
dem Vater aber auf das härteste Verhör nicht beichten wollen, wer der
Schuldige sei. In dem Schuppen, wohin die Mutter sie verstoßen, damit
sie den Schimpf nicht vor Augen hätte, habe die Tochter sich darauf,
so gut es ging, einen warmen Winkel für ihr Kind zurechtgemacht und
sei Tag und Nacht nicht von ihm wegzubringen.
Wem dies alles, zumal die gerühmte Schönheit des Knaben, unglaublich
schien, der hatte am nächsten Sonntag Gelegenheit, sich von der
Wahrheit des Gerüchts zu überzeugen. Denn am hellen Tage kam die
Vielgeschmähte vom Küchelberg herab, das Kind wie im Triumph in den
Armen in ihre besten Linnen und Tücher gewickelt, und trug es mit
herausforderndem Mutterstolz zur Taufe. Wenn einer sich ihr näherte
und neugierig nach dem kleinen Weltwunder schielte, stand sie sogleich
still, schlug den alten Flor zurück, der das schlafende Gesichtlein
bedeckte, und sagte fast spöttisch: Gelt, möchst den schwarzen Pudel
anschauen? Da, es ist nix Rares daran. Wo sollt's auch
herkommen?--und dann lachte sie mit großer Selbstgefälligkeit in sich
hinein, wenn der Beschauer, von der Zierlichkeit des Kindes überrascht,
nichts zu sagen wußte, und setzte noch hinzu: 's ist halt nur ein
schwarzer Pudel; man sollt' ihn in die Passer werfen, das wäre das
gescheitest'!--und lachte wieder auf eine so wunderliche Art, daß es
schien, als habe der Muttersegen ihren armen Verstand nicht eben
verbessert.
Selten wohl ist eine Taufe in Meran unter so großem Zulauf vonstatten
gegangen. Als aber der Pfarrer nach den Taufpaten fragte, fand es
sich, daß die Moidi diesen wichtigen Punkt gänzlich übersehen hatte.
Niemand meldete sich auf die Frage, wer etwa in der versammelten
Gemeinde dem Kinde diesen Liebesdienst erweisen wolle; denn es drängte
sich keiner zu einem näheren Verhältnis mit der Mutter, und die
Großeltern, der Schande auszuweichen, waren ein paar Stunden weit weg
nach Lana zur Kirche gegangen. Da erhob sich endlich die zu allen
Opfern der Nächstenliebe Bereite, die Tochter des alten Hirzer, die im
vordersten Kirchstuhl kniete, trat an den Taufstein heran und nahm der
Moidi das Kind aus den Armen. Diese Lösung des bedenklichen Knotens
erschien allen als die einfachste, da die Hirzers-Ann mit dem
überfließenden Gnadenschatz ihres frommen Wandels der armen Sünderin
am füglichsten zu Hilfe kommen konnte. Und so wurde der Knabe, weil
der Mesner, ebenfalls aushelfend, seinen Namen hergab, Andree getauft
und mit großem Gefolge von der glückstrahlenden Mutter wieder durch
die Stadt getragen, hinauf in den elenden Schuppen, wo er in der
Nachbarschaft der Haustiere seine ersten Blicke in die Welt tun sollte.
Es dauerte nicht lange, so sprach kein Mensch mehr von diesen immerhin
denkwürdigen Ereignissen, zumal da die Moidi sich nirgend sehen ließ,
nur für das Kind lebte und all ihre früheren Narrheiten in die eine
Leidenschaft der zärtlichsten Affenliebe versammelt zu haben schien.
Denn wie früher ihre eigene Person, so putzte und behing sie jetzt den
kleinen Andree mit allem, was ihr irgend dazu dienlich schien. Man
konnte sie droben auf einem schattigen Fleck stundenlang sitzen sehen,
Kränze windend für das Kind und aus alten bunten Seidentüchern
seltsame Kleider für ihn zurechtstoppelnd, mit denen sie ihn wie eine
Puppe aufschmückte und stolz jedem Vorübergehenden zeigte. Da dies
Treiben zwar auffallend, aber doch unschuldig war, ließ man sie
gewähren. Nur der Joseph Hirzer legte den größten Abscheu gegen sie
an den Tag und verbot der Anna aufs strengste, mit ihrem Patenkinde
irgendwelchen Verkehr zu pflegen.
Die Moidi schien wenig danach zu fragen. Als ein Jahr darauf ihr
einst so schmerzlich Geliebter sich mit einer steinreichen
Bauerntochter aus Algund verheiratete, blieb sie ganz kalt und gab
nicht das geringste Zeichen von Herzweh. Die ganze Vergangenheit bis
zur Stunde, wo der Knabe auf die Welt kam, war aus ihrem Gedächnis wie
weggewischt, und auch von dem geheimnisvollen namenlosen Vater sprach
sie nie, schien auch keinen Versuch zu machen, ihm Kunde von sich und
dem Kinde zu geben.
Da geschah es, daß erst ihre Eltern und dann die Brüder, einer nach
dem andern, im Lauf eines Jahres hingerafft wurden von einer Seuche,
die viele Opfer in diesen Tälern forderte. Nun war auf einen Schlag
das Schicksal der schwarzen Moidi verwandelt. Denn wenn sie bei
Lebzeiten der Geschwister zwar immerhin keine Armut zu fürchten hatte,
so war sie jetzt durch den Alleinbesitz des Hauses und der
ansehnlichen Weingüter zu einer reichen Partie geworden; schade nur,
daß die Mitgift ihrer dunklen Haut und der noch dunkleren ersten
Liebschaft manchen Wählerischen abschrecken mußte.
Aber der praktische Trieb, der hier im Volke mächtig ist, kam ihr
dennoch zu Hilfe; ja sie hatte nicht einmal nötig, bei dem Freier, der
sich ihr antrug, auch ihrerseits ein Auge zuzudrücken. Es war ein
ganz schmucker Bauernsohn aus dem Dorfe Tirol, das unfern der
berühmten Feste gleichen Namens am Ende des Küchelberges liegt wo die
Wand der Muttspitze steil in die Höhe steigt. Sein Vater hatte ihm
zugeredet, und obwohl der Sohn nicht von den schnellsten Begriffen war,
so war doch die ganze wichtige Sache mit wenigen Worten ins reine
gebracht.
So auch bei der Moidi. Sie schien es ganz in der Ordnung zu finden,
daß auch sie jetzt, trotz allem Vorangegangenen, an die Reihe kam.
Sie scherzte während der Werbung mit dem kleinen Andree, der schon im
vierten Jahre war und den fremden Burschen mit scheuen und trotzigen
Augen betrachtete. Als aber dieser, wie ihm seine Mutter geraten
hatte, eine große Tüte mit Zuckerwerk aus der Tasche zog und dem Kinde
reichte, war das letzte Bedenken der Moidi besiegt. Zwar bei einem
Vergleich mit dem Hirzerjoseph mußte des Wolfharts Franz den kürzeren
ziehen. Sein flaches, rundes, behagliches Gesicht, mit weißblonden
Haaren eingerahmt, erinnerte stark an die Madonnenbilder, die, wie
durch die Schablone gemalt, an Häusern, Torwegen und vollends in den
Kirchen zahlreich uns begegnen. Aber die Moidi besaß Schwarz genug,
um in seine übermäßige Helle Schatten zu werfen, und schien nicht zum
wenigsten gerade durch die Werbung des Blonden sich geehrt zu fühlen.
Nach dem raschen, durchaus geschäftsmäßigen Gang, den diese Dinge hier
nehmen, zog der Franz schon vier Wochen später als junger Ehemann in
das Haus seiner Neuvermählten auf dem Küchelberg, und damit war zum
zweitenmal das wiedererwachte Gerede über die Schicksale der schwarzen
Moidi verstummt und verschallt.
Nicht für allzu lange Zeit. Über Jahr und Tag entsproß dieser Ehe
ein Mädchen, das nicht minder als damals der kleine Andree den
teilnehmenden Nachbarn zu reden gab. Es war das leibhaftige Ebenbild
des Vaters, schön weiß und rot, mit schlichtem blondem Haar, der
Mutter in keinem Zuge ähnlich, als daß sich früh Anwandlungen einer
phantastischen Gemütsart, einer leicht beweglichen Einbildungskraft
und weiblicher Eitelkeit an ihr zeigten, nur weniger ausschweifend als
bei der Mutter und durch die große Anmut ihrer kleinen Person ins
Liebenswürdige gemildert, aber immerhin gefährlich, da es dem Kinde an
einer festen Hand fehlte, die seinen Leichtsinn gezügelt und die
schönen Wucherblumen aus der jungen Seele sorgsam ausgereutet hätte.
Denn kaum konnte die kleine Maria die ersten kindischen
Schmeichelkünste spielen lassen, so stahl sie der Mutter das Herz so
vollständig, daß sie dem älteren Bruder selbst das Pflichtteil der
Barmherzigkeit mit entwendete. Er, der früher der Abgott seiner
Mutter gewesen, war nun auf einmal nicht allein ihrer Gleichgültigkeit,
sondern einer entschiedenen Abneigung, die sich mit den Jahren zu
offenem Hasse steigerte, wehrlos preisgegeben. Es half nicht viel,
daß der gutmütige Pflegevater sich des Knaben annahm. Ja selbst, als
die kleine Schwester heranwuchs und sich mit stürmischer Zärtlichkeit
an den Bruder anschloß, vermochte sie, die sonst alles durchsetzte,
den Widergeist der Mutter nicht zu bezähmen. Vielmehr schien gerade
ihre Fürsprache den unnatürlichen Haß zu schüren, da sich nun eine Art
von Eifersucht hinzugesellte, eine harte und böse Mißgunst auf die
liebliche Vertraulichkeit, mit der die Kleine dem plötzlich
Verstoßenen begegnete.
So viel freilich war durch das Dazwischenstehen der kleinen Maria dem
armen Knaben gewonnen, daß er vor leiblicher Mißhandlung geschützt
wurde. Denn das erste Mal, wo sich die entartete Mutter an ihrem
einstigen Liebling tätlich vergriff, war auch das letzte. Damals
zuerst wurde die Kleine von jenem seltsamen Nervenkrampf befallen, von
dem wir im Beginn unserer Erzählung ein Beispiel erlebt haben. Zum
Glück war der Vater zu Hause, um die widersinnigen Heilversuche zu
hindern, mit denen die erschrockene Mutter auf das Kind einstürmte.
Es gelang dem Bruder, durch sanftes Streichen mit seinen zitternden
Händen die Starrheit zu bezwingen, bis ihm das Kind schluchzend um den
Hals fiel und endlich schlafend von ihm in die Bettkammer getragen
werden konnte.
Seit diesem Vorfall, dem bei anderen jähen Anlässen ähnliche folgten,
erhob die alte Moidi bis zu jenem verhängnisvollen Tage der Trennung
nicht wieder die Hand gegen den Sohn. Ihre Abneigung wurde aber nur
finsterer und gewaltsamer, weil sie nicht mehr in heftigen Szenen sich
Luft zu machen wagte. Sie schien das Dasein des Knaben völlig
verleugnen zu wollen, um sich einzig dem Mädchen zu widmen. Für diese
war sie unermüdlich, Ärzte und Kräuterwelber zu Rat zu ziehen,
Wallfahrten zu machen, Messen lesen zu lassen und durch die
schrankenlose Nachgiebigkeit ihr womöglich jeden Anstoß aus dem Wege
zu räumen. Der schwache und weichmütige Vater ließ alles geschehen.
Es war ihm nicht wohl in seinem Hause. Aber die Stadt lag ja so nahe
zu seinen Füßen, daß er die grünen Büsche vor den Schenktüren bis
herauf winken sah. So heiligte er gewissenhaft die zahlreichen
Bauernfeiertage, von denen der tirolische Kalender über und über rot
wird, und erzählte jedem, der es hören wollte, mit ahnenstolzer
Gemütsruhe, daß drei aus seiner Familie in den letzten fünfzig Jahren
am Delirium gestorben seien, was nicht die schlimmste Todesart sei.
Seinem Weibe war er längst gleichgültig. Sie liebte niemand auf der
Welt als das blonde Kind. Auch wurde sie dem Verkehr mit Nachbarn und
Verwandten mehr und mehr entfremdet, da ihre unnatürlichen Schrullen
den Leuten vollends ein Grauen erweckten. Das Haus lag einsam auf dem
nackten Felsgrunde, ganz abseits von der Straße, die sich um den
Küchelberg hinauf nach Dorf Tirol windet. Niemand sprach sie im
Vorübergehen an; zu niemand ging sie; in der Kirche, die sie vor Tage
besuchte, blieb der Platz neben ihr leer.
Es war unter solchen Umständen nicht zu verwundern, daß der Joseph
Hirzer jede Annäherung an die Moidi und ihr Haus von Jahr zu Jahr
standhafter vermied, seiner Schwester unerbittlich den Weg abschnitt,
wenn ihr Gewissen sie antrieb, sich nach ihrem Taufpaten umzusehen,
und seinen eigenen Kindern, die mit Andree und der blonden Moidi in
der Schule zusammentrafen, aufs strengste verbot, zu Hause von ihnen
zu erzählen. Er selbst war in allen Stücken mächtig emporgekommen,
galt für einen der wackersten Haushälter, eifrigsten Weinzüchter und
rechtschaffensten Ehrenmänner, während seine Schwester in gleicher
Weise zunahm an Gnade bei Gott und den Menschen, zumal sie ihr ganzes
Vermögen im Testament an Kirchen und Klöster vermacht hatte, wofür die
Priester ihr verhießen, daß sie unfehlbar "von Mund auf in den Himmel
kommen würde". Ihr Bruder hatte da wohl nicht einreden dürfen. Sein
Sohn und die drei stattlichen Töchter waren auch ohne jede Erbschaft
von der Tante hinlänglich versorgt durch die blühenden weiten Güter
beider Eltern. Und als ihre Mutter, die Erbin von Algund, noch in
guten Jahren starb, trat die Tante Anna an ihre Stelle und sorgte
durch liebevolle Pflege dafür, daß ihres Bruders Kinder auch ohne
jedes klingende Vermächtnis sie in gutem Andenken behalten mußten.
Die Kinder aber, obwohl sie den Vater fürchteten, konnten ihm doch
nicht so blindlings gehorchen, daß sie auch in der Schule zu Meran dem
Andree und seiner Schwester ausgewichen wären. Moidi, mit ihrem
leichten, lachlustigen Sinn, kam ihnen, wie allen, die sich ihr
freundlich zeigten, ganz ungebunden entgegen; Andree duldete sie
wenigstens, da er von der Tante Anna, seiner Pate, wußte, daß sie so
heilig sei und nur der Mutter wegen sich nicht um ihn bekümmern dürfe.
Im übrigen war er ein schweigsamer, sinnender, leicht aufbrausender
Knabe, der am liebsten sein Wesen für sich hatte und früh eine ganz
befremdliche Eifersucht auf die Schwester an den Tag legte. Es war
ihm am wohlsten an Feiertagen, wenn sie droben in der luftigen
Einsamkeit ohne fremde Kinder den ganzen Tag beisammen blieben und die
Kleine sich für niemand putzte als für ihn allein. Sie hatten unter
einem überhangenden Felsstück, wo wilde Beeren in Fülle wuchsen und
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