Der Weinhüter - 3

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die rauhe Wand dicht mit Efeu verkleidet war, ihre Einsiedelei
errichtet, mit vielen wichtig behüteten und nur von den Eidechsen
ausgespürten Verstecken für ihre kindischen Siebensachen. lm
Hochsommer, wenn das Rebenlaub bis an den Fuß ihres Schlupfwinkeis
wucherte, saßen sie da halbe Tage lang, und die Kleine reihte
unermüdlich mit spitzer Nadel die blanken gelben Maiskörner auf lange
Fäden, woraus ein lustiges Geschmeide entstand. Waren die. Ketten
fertig, so kniete der Bruder vor Moidi hin und schlang ihr den Schmuck
in künstlichen Ringen um Stirne, Hals und Arme. Dabei hatten sie
allerlei konfuse, andächtige Vorstellungen, und die Geschmückte fühlte
eine dunkle Wonne, sich angeschaut und bewundert zu wissen, wohl gar
etwas vom Heiligenschein um ihren törichten Kindskopf zu tragen. Der
Bub war noch feierlicher, und wehe dem, der in solchem Augenblick dazu
gekommen wäre und seine Huldigung gestört hätte. Der Schwester selbst
nahm er es jedesmal übel, wenn sie plötzlich zu lachen anfing und aus
Übermut und Langeweile die gelben Kettchen zerriß, daß die Körner
eilfertig den Berg hinabrollten, und sie sich nach einem andern Spiel
umsehen mußten.
Die ersten Jahre ließ sie die Mutter bei all ihren Heimlichkeiten und
vertrauten Schleich- und Schlupfwegen ungestört. Als aber der Andree
größer wurde und mit seinem scharfen Auge und seinen fragenden Mienen
immer verwundener und vorwurfsvoller ihrem Haß gegenüberstand, suchte
sie ihn der Kleinen durch allerlei böse Reden und schwarze
Verdächtigungen zu verleiden und ergriff jede Gelegenheit, die Kinder
zu trennen, mit gehässiger Schadenfreude. Sie lag ihrem Manne sogar
an, den unnützen Buben, der doch keine Lust am Arbeiten habe, zu dem
Zehnuhrmesscr zu tun, daß der ihm Unterricht gebe und einen
Geistlichen aus ihm mache. Da der Knabe einen aufgeweckten Verstand
und großen lerneifer in der Schule gezeigt hatte, leuchtete der Plan
beiden Männern ein, und Andree zog in die Stadt hinunter zu dem
geistlichen Herrn. Er war sehr still und traurig beim Abschiede von
der Kleinen, die aber lachte und von der Trennung nichts begriff.--Der
Hilfspriester wohnte unten in der langen Laubengasse Merans, die ihren
Namen hat von den zwei Reihen steinerner Arkaden, in welche die Sonne
keinen Zugang findet. Die schmalen Häuser mit winkligen engen Höfen
und düsteren Treppenfluren, meist uralt und die wenigsten sauber
gehalten, haben eine beträchtliche Tiefe, und an die Hintergebäude
stoßen nach Norden zu weite Weingärten, bis an den Fuß des
Küchelberges, nach Süden öffnen sie sich gegen die Stadtmauer. Hier
sind hellere Räume, und man blickt aus den Fenstern auf die
Wassermauer und über den Fluß hinweg ins breite Etschtal hinaus. Auch
das bescheidene Quartier des Hilfspriesters genoß diesen Vorzug. Aber
der Knabe, an die freie Luft oben auf der Höhe gewöhnt, schien sich
dennoch ein Gefangener. Ja, er hätte wohl gern seine sonnige
Dachkammer mit einem finsteren Nordfensterchen vertauscht, von dem aus
er den Berg und die kleine Felshöhle oben über den letzten Reben, den
Ort seiner Kinderspiele, hätte sehen können. Er verstummte noch mehr
als sonst, trotz alles Zuredens seines freundlichen Lehrmeisters. Das
Lernen war ihm plötzlich verleidet; er aß wenig und schlief schlecht,
so daß er in vier Wochen blaß und hohläugig wurde. Und eines Tags kam
er zu seinem Lehrer und erklärte ihm, er werde sterben, wenn man ihn
länger in der Stadt halte. Den Namen seiner Schwester hatte er nie
genannt. Aber es war dem mitleidigen Seelsorger klar, daß ihn ein
brennendes Heimweh nach ihr nage, und bestürzt übernahm er es, der
Mutter die Notwendigkeit der Rückkehr vorzustellen. Die Alte wütete
und schalt und wollte nichts davon hören. Am Abend desselben Tages
aber klopfte der Knabe drohen in der Hütte wieder an, und nach einem
leidenschaftlichen Auftritt, der wieder mit einem Krampfanfall der
kleinen Marie endigte, ergab sich die Mutter in das Unabänderliche,
unter der Bedingung, daß der entlaufene Student dem Vater
Knechtsdienste tun und sein Lager in einem Winkel des Schuppens hinter
dem Hause aufschlagen mußte.
Die Kleine war sehr glücklich, ihn wieder zu haben, und er selbst
schien um diesen Preis keine Entbehrung und Zurücksetzung zu hart zu
finden. Er war nun anstellig zu allem, was ihm der Pflegevater
auftrug, arbeitete in den Weinbergen, ließ sich willig über Land
schicken und sah die Mutter nur bei den Mahlzeiten, wo zwischen beiden
nie ein Wort gewechselt wurde. Da er kein Geld erhielt und an
Kleidern nur das Notdürftigste, blieb er von den anderen Burschen
seines Alters, von den Schenken und Kegelbahnen ein für allemal weg
und schien nichts daran zu entbehren. Denn an den Feiertagen pflegte
er mit der Schwester nach wie vor lange Stunden hindurch
zusammenzusitzen, und obwohl beide heranwuchsen, er ein kräftiger
Jüngling wurde und sie längst den Burschen ein Ziel mancher
zaghafteren oder dreisteren Werbung, war ihr Verkehr doch noch ein
kindischer, ihr Gespräch ein törichtes Geplauder. Sie tat, was sie
nur wußte und konnte, sein hartes Leben zu erleichtern, brachte ihm
von allem, was sie etwa an guten Bissen von der Mutter erhielt oder,
da sie näschig war, sich in der Stadt kaufte, seinen brüderlichen
Anteil, und wenn er jenes verschmähte, nahm er doch ihre eigenen Gaben
mit sichtbarer Freude. Oft nach einem schweren Arbeitstag, besonders
in der Zeit der Lese, wenn die Sonntagssonne in seinem fensterlosen
Schuppen ihn nicht zu wecken vermochte, schlich sie zu ihm hinein und
saß im Dunkeln neben seiner Streu, die nur durch ein schlechtes Laken
und eine Pferdedecke zu einem Bette wurde. Sie hatte ihren Spaß, wenn
er im Dunkeln nicht begriff, daß sie bei ihm war, und ihre Hand, die
ihm in den Haaren zauste, schlaftrunken abzuwehren suchte, als komme
ihm etwa eine Feldmaus zu nahe. Wachte er dann auf, so hörte er ihr
helles Lachen neben sich und lag nun wohl noch eine Weile in
verstelltem Schlaf, um ihre Neckereien. länger zu erleiden. Sie tat
es nicht anders, als daß er sie zur Kirche begleiten mußte, wo er dann
von den Burschen, die sich ihr näherten und die sie zu verscheuchen
gar keine Lust bezeigte, manchen eifersüchtigen Stich ins Herz empfing.
Hier begegnete er auch oft seiner Patin, der Tante Anna, und hätte
sich ihr, da sie ihn stets mit einem stillen und freundlichen Auge
grüßte, gern genähert. Aber der Joseph Hirzer, der dann Wache hielt,
ließ durch sein starres Anblicken deutlich erkennen, daß er sich jede
Annäherung des vaterlosen Burschen verbitte. Und so blieb es auch
zwischen den Kindern bei einem gelegentlichen Gruß, obwohl die Moidi
öfters dem Bruder mit Lachen erzählte, daß die Rosina, des Hirzers
jüngste Tochter, die nach der Verheiratung ihrer beiden Schwestern
noch allein im Hause blieb, wieder einen so langen Blick nach ihm
getan habe und sicherlich in ihn verliebt sei.
Jedesmal, wenn hiervon die Rede zwischen ihnen kam, oder eine Hochzeit
das Tagesgespräch war, wurde der Jüngling doppelt nachdenklich und
brach eilig ab. Ihm selbst schienen alle Mädchen eher unbequem und
alle Liebesscherzreden ein Abscheu zu sein. Ob er darüber nachdachte,
jemals ein eigenes Hauswesen zu gründen, war nicht zu enträtseln.
Aber mit einem seltsamen Ausdruck tiefer Angst sah er der Schwester
ins Gesicht, sooft deren leichtsinnige Gedanken bei ihrer Zukunft
verweilten und eine Trennung von ihm ihr als eine Möglichkeit erschien,
die doch wohl zu verwinden wäre. Du bist ein Kind, sagte er dann.
Wer darf dich heiraten? Die Männer sind alle schlecht und Ehstand ist
Wehstand. Du sollst bei mir bleiben, ich will schon für dich schaffen
und dir ein gutes Leben machen. Was schwatzest du von anderen? Eh'
mir einer gut genug ist für dich, muß die Passer den Ifinger
hinanfließen.
Sie lachte zu solchen Reden und ließ sie sich gefallen, weil sie ihr
schmeichelten. Auch schien keine ernste Neigung in ihrem leichten
Sinn wurzeln zu können. Die Mutter tat das ihrige, Freier, die sich
von ferne blicken ließen, zurückzuschrecken. Und so blieb durch viele
Jahre droben auf dem Küchelberg die wunderliche Gesellschaft beisammen,
und keine Änderung war abzusehen.
Da erlag eines Tages der Mann dem Einflusse jenes Sterns, der schon
seinen würdigen Vorfahren zu Grabe geleuchtet hatte. Er starb im
Säuferwahnsinn. Von dem Tage an war das eifrigste Bestreben der Witwe
darauf gerichtet, den Sohn aus dem Hause zu schaffen. Eine nähere
Schilderung jenes bösen wilden Auftrittes, der ihr zum Ziele verhalf,
wird uns gern erlassen werden. Die Geschwister trennten sich; die
blonde Moidi hatte keinen Mut, dem Bruder zuzureden, sich einer
zweiten Mißhandlung auszusetzen. Geh nur, sagte sie. Es ist besser
so. Ich verlass' dich schon nicht. Du weißt ja, ich mach' mit ihr,
was ich will, und wenn sie mir das Türl versperrt, spring' ich zum
Fenster hinaus und lauf zu dir.
Auch hielt sie Wort. Aber was half's ihm, daß keine Woche verging, wo
sie ihn nicht aufsuchte, ungerechnet ihr Wiedersehen an den Sonntagen?
Täglich, stündlich war er ihre Nähe gewohnt gewesen. Jenes kindische
Heimweh, das ihn vom Zehnuhrmesser fortgetrieben hatte, wuchs ihm oft
genug, wenn er nach heißer Arbeit unter den Kastanienzweigen saß, so
unbezwinglich über den Kopf, daß er den schroffen Abhang des Berges
dicht über dem Dorfe Gratsch hinanstürmte, um nur vor Schlafengehen
noch das Dach des Häuschens zu sehen, oder gar etwas, das dem Mädchen
selber glich. Auch geschah es mehr als einmal, zumal an Feiertagen,
wenn sie an den verabredeten Ort nicht kam, daß er in fiebernder
Eifersucht die Wege nach ihrem Hause bewachte, ob etwa ein Besuch sie
zurückhalte. Er lag dann förmlich im Hinterhalt. Kam ein Bursch
vorbei, bergab schreitend, so stellte er sich schlafend, um seine
Mienen auszukundschaften. Ihm war unselig dabei zu Mut. Eine Ahnung
dämmerte in ihm auf, dies alles sei nicht recht und löblich. Warum
gönnte er der Schwester nicht, was allen Mädchen zukam, Freiheit in
Wünschen und Neigungen? Mit heißer Angst jagte er diese Gedanken von
dannen, die immer zudringlicher zurückkamen. Freilich ihr Vater war
nicht der seine. Aber waren sie darum weniger Geschwister?
Oft genug kam es ihm auch, daß er fort müsse, daß es ihm draußen
leichter ums Herz werden würde. Was stand ihm auch im Wege? Was
hielt ihn? Hier nicht besser als in der weiten Welt mußte er sich
hart durchs Leben schlagen. Und wer weiß, er konnte wohl seinen Vater
draußen antreffen; es war in aller Weise das ratsamste, die Luft zu
verändern. Wenn er nur zum ersten Schritt die Kraft erschwungen hätte!
Von neuem wälzte er diese Gedanken, als er heut unter den Reben bei
der Schlafenden saß und das Spiel des Sonnenstrahls auf ihrer Stirn
bewachte. Die Erschütterung, von der sie nun erquicklich und
erinnerungslos ausruhte, zitterte ihm noch durch alle Adern, und der
Anblick ihrer unschuldigen Ruhe mehrte nur seine Verwirrung. Er
suchte in sich nach dem Mut, jetzt ein feierliches Gelübde zu tun, das
ihn forttriebe von hier, wo die natürlichsten Bande sich so unheilvoll
verstrickt hatten. Neben ihr begriff er nur zu gut, wie nötig es sei,
zu fliehen. Aber wenn er darin wieder allein war, fühlte er, daß es
unmöglich sei.
Er rührte die Schlafende nicht an, er hatte seit seinen Kinderjahren
nicht mehr gewagt, ihren roten lachlustigen Mund zu küssen. Aber die
Scheu, mit der er sie betrachtete, war mit einer dumpfen,
leidenschaftlichen Qual gemischt, und ihr leichter Atem, der sein
Gesicht streifte, trieb ihm das Blut heftig zum Herzen.
Es ward schon abendlicher draußen, denn der Marlinger Berg im Westen
verbirgt die Sonne früh. Die Schläferin erinnerte sich jetzt,
richtete sich im Grase auf und sah mit großen Augen umher. Als sie
den Bruder neben sich erblickte, lachte sie ihn freundlich an. Wie
lange hab' ich geschlafen? sagte sie verwundert. Wie kam es denn, daß
ich mich hier niedergelegt hab'?
Es war heiß, sagte er. Nun aber geh nach Haus, Moidi. Ich muß drüben
nachschauen, ob alles in Ordnung ist.
Sie stand auf und gab ihm die Hand. Gute Nacht, Andree, sagte sie
hastig, denn eine Erinnerung an das Vorgefallene stieg dunkel in ihr
auf. Übermorgen ist Sonntag. Du kommst doch in die Kirche?
Nein, Moidi. Du weißt ja, daß ich auf dem Posten bleiben muß, solang'
ich den Saltner mache.
Es ist wahr, erwiderte sie nachdenklich. Ich komm' aber schon wieder
zu dir. Gute Nacht!
Er kämpfte mit sich, ob er sie bitten solle, nicht mehr zu kommen.
Aber ehe er sich entschließen konnte, war sie schon auf und davon. Am
Ausgang der Laube stand er und sah ihr nach, wie sie behende das
steile Treppchen hinanstieg. Der lange hundertfaltige Rock bewegte
sich zierlich um ihre Knöchel, bei jedem Schritt wie ein Fächer die
Falten öffnend und wieder zusammenschlagend. Von oben winkte sie noch
einmal zurück mit der Hand. Er grüßte nicht hinauf; das Geländer
zitterte, an dem er angelehnt stand, und ein Seufzer, den er lange
verhalten hatte, befreite ihm doch nicht seine beklommene Brust.
In diesem Augenblick hörte er einen raschen Männerschritt von unten
heraufkommen und erkannte einen seiner Kameraden, einen langbärtigen
starken Burschen, ebenfalls mit dem Trutzhut ausgerüstet, statt der
Hellebarde eine große Fichtenkeule in der rauhen Faust, deren
wuchtiges Ende er lustig winkend schwang. Andree! sagte er, als er
ihm nahe genug war, wie ist's auf die Nacht? Soll ich mit dir wachen?
Du hast mit dem Welschen zu tun gehabt, hab's wohl gemerkt. Und sei
gewiß, er schenkt dir's nicht und bringt auch wohl Verstärkung mit.
Schau, da hab' ich was, um den Hunden den Spaß zu versalzen!--und er
zog aus der Brusttasche seiner Lederjoppe eine kleine Pistole und ließ
den Hahn knacken.
Ich dank', Köbele, erwiderte Andree. Der Welsche ist feige wie die
Sünde. Allein kommt er einmal nicht, und wenn's ein ganzer Haufen ist,
sind wir zwei doch zu schwach gegen sie. Ich gebe dann das Zeichen,
und du magst's den andern sagen, daß sie fein aufpassen. Das Ding
da--er wies auf die Taschenpistole--laß aber in Frieden. Bei der
Dunkelheit hat's keinen Schick, und du verpuffst bloß das Kraut.
Fassen wir einen, so taugt ihm die Jacke voll Schläge besser als so
ein Loch in der Haut, das er nachher vorweisen kann gegen uns.
Wie du meinst, gab der Bursch zur Antwort. Es ist halt nur auf alle
Fälle. Ich wollt' aber, sie kämen. Sie haben eine schöne Rechnung
bei mir auf der Kerbe, und der Hans ist auch ganz fuchtig auf die
Halunken. Einmal müssen wir's ihnen eintränken.
Andree schwieg, und der Bärtige stieg mit einem kurzen Gruß wieder
hinab. Man war schon gewohnt, den Verschlossenen gewähren zu lassen
und sich ihm nicht aufzudrängen.
Nun war die Sonne hinter den Berg gegangen, aber noch Stunden währte
es, bis die Nacht die Herrschaft gewann. Denn zur Rechten hoch aus
dem Vintschgau zuströmend und drüben bis an den Gürtel des Ifinger
hinab waltete noch die Tageshelle, und ein bläulicher Duft wölkte sich
über dem Flusse hin, hie und da von einem Sonnenstreifen durchschossen,
der hinter der Bergwand sich in die Täler hereinstahl. Die Hirten
trieben unten in den Wiesen ihre Herden zusammen, und alle Wege zu den
Dörfern hinauf belebten sich mit schönen falben Kühen, die über Tag an
den Bächen unten geweidet hatten. Im Süden aber die Trientiner Berge
und die schöne, kühn hereinblickende Mendelspitz verschleierten sich
unter den feuchten Dünsten, die der Schirokko ins Tal heraufwehte.
Spät erst kam ein schmales Stück des Mondes hervor, warf einen
unsicheren Blick in die stille Tiefe und verschwand alsbald hinter der
schweren Feuchte, die sich träge an den Bergen hintrieb. Das letzte
Geräusch in der Stadt, wo der Feierabend frühzeitig eintritt, das
letzte Geläut von den Türmen hüben und drüben verklang. Nur die
raschen Bergwässer rauschten, und von ferne summte der Südwind daher,
trieb den Staub am Wege in leichten Wirbeln auf und raschelte durch
die Blätter des vergangenen Herbstes. Auch das ward still, als es
gegen elf Uhr ging, und nun hing die regungslose schwarze Nacht, ohne
Sterne, ohne einen Hauch, feucht und warm über der Erde und goß ihren
Schlaftau auf die tausend Augen.
Die Weinhüter schliefen nicht, und sie wußten warum. Es war nicht die
erste mondlose Nacht, in der freche Diebe Einbruch in die Rebengänge
versucht und schweren Schaden verübt hatten. Oben bei seiner
Maisstrohhütte saß Andree, rauchte aus der kleinen Pfeife und griff im
Dunkeln öfters nach dem Kruge, den sein Herr ihm auf die Nacht frisch
hatte füllen lassen. Die schweren Regentropfen, die einzeln durch das
Blätterdach auf ihn eindrangen, fühlte er kaum in seinen dichten
Haaren. Er horchte aber unverwandt nach der Stadt hin, und als es elf
geschlagen, hob er sich leise empor und schlich an eine Stelle dicht
über der Straße, wo die Laube durch grobe Kürbisblätter und ein
vortretendes Mäuerchen zu einem Spähewinkel ausgebaut war. Hier
duckte er sich hinter die Steine, die Hellebarde bequem zur Hand, und
zündete eine neue Pfeife an. Sein Blut war viel ruhiger als über Tag.
Es tat ihm wohl, daß er zu tun bekam, daß er seine heiße Unruhe an
einer Gefahr austoben konnte. Denn daß der Welsche die Nacht nicht
vorüberlassen würde, ohne Rache zu versuchen, stand ihm fest.
Aber der Feind ließ sich Zeit; er schien die Wächter sicher machen zu
wollen. Man hörte die Mitternacht vorn Turm schlagen, und noch regte
sich nichts. Einer der Saltner, der das Nachbargut hütete, strich bei
seiner Runde an Andree vorbei. Heut kommen sie nicht, sagte er. Ich
geh' hinauf in die Hütten. Passiert was, so brauchst nur pfeifen.
Gute Nacht! murmelte Andree. Es war ihm lieb, daß der Kamerad zu
schlafen vorzog. Er hätte am liebsten ganz allein Mann an Mann mit
dem Welschen zu tun gehabt.
Wieder eine halbe Stunde verging, da horchte plötzlich der Einsame
hoch auf. Unfern von ihm, wo ein Bauernhof zwischen den Weingütern
sich an den Berg lehnte, erscholl ein gewaltiges Brüllen, und gleich
darauf stürmte unter heftigem Krachen zersplitternder Geländerstäbe
eine dunkle Masse heran, die nichts Menschlichem glich. Der
Lauschende sprang auf seine Füße, das Herz klopfte ihm, unwillkürlich
schlug er ein Kreuz. Stufen und Mauerwerk trennten ihn von der Laube
drüben, im Nu stand er auf dem Rande der Brustwehr und spähte, auf die
Hellebarde gestützt, atemlos in das nachbarliche Revier, aus dem der
Lärm erscholl. Es kam näher und näher, ein Geheul wie von einem
angeschossenen Tier in der Wildnis, das wütend den Jäger sucht. Und
jetzt donnerte es drüben dumpf gegen die Mauer, die Steine wichen aus
den Fugen, stürzten prasselnd die Stufen hinab, und nach stürzte durch
die Bresche, sich überschlagend im Fall, das rätselhafte Ungetüm mit
solcher Gewalt in den Treppenhohlweg hinunter, daß die Mauer, auf der
Andree stand, wie von einem Erdbeben erschwankte.
Sofort wurde alles still, nur ein schwaches Gestöhn drang zu den Ohren
des Lauschenden aus der Tiefe herauf, wo die schwere Masse
zusammengestürzt war. Der Bursch war nicht mehr im Zweifel darüber,
daß es eine von den Kühen des Nachbarn sei, deren Stall an den
Rebengarten grenzte. Ein grimmiger Verdacht loderte in ihm auf. Er
pfiff zweimal gellend auf den Fingern, sprang dann hinab und schwang
sich über die Mauer auf die Straße.
Das gestürzte Tier lag am Rande des Weges halb zwischen den Steinen
eingeklemmt und schlug mit den Beinen um sich, die Hörner in den Boden
einwühlend. Doch schien es von der Qual befreit, die es vorhin durch
die Lauben gehetzt hatte; es stieß nur dann und wann ein dumpfes
Brüllen aus, als wollte es Hilfe herbeilocken, und war zahm und
geduldig, als Andree herantrat.
Drei oder vier von den anderen Burschen kamen jetzt von verschiedenen
Seiten herbei, sie wechselten heftige halblaute Reden, ehe sie
Anstalten machten, dem Tier wieder auf die Beine zu helfen. Andree
schwieg und spähte am Boden umher. Plötzlich hob er mit dem Eisen
seiner Waffe etwas Glimmendes vom Boden auf. Es ist richtig! sagte er,
ich dachte mir's gleich und roch es, wie ich herunterkam. 's ist eins
ihrer Bubenstücke. Da seht!
Er hielt ihnen ein Stück Zunder hin, das trotz der Feuchte immer noch
fortbrannte. Schandvolk! brauste er auf. Sie haben's der
unschuldigen Kreatur ins Ohr gesteckt, um sie rasend zu machen. Wäre
sie nicht zu Fall gekommen, so hätt' sich's durchgebrannt, bis ins
Hirn, und sie wär' jetzt für den Schindanger reif. So hat sich's
herausgeschüttelt, und der Bauer kann von Glück sagen. Hätt' ich den
Buben, heiliges Kreuz--!
Der Köbele knackte am Hahn seiner Pistole. Willst du mit mir kommen,
Andree?
Nein. Laß das Ding da in Ruh, gab der Bursch finster zur Antwort.
Macht, daß ihr die Kuh wieder zum Stehen bringt und schafft, sie heim.
Ich will allein gehen.
Er sprang mit großen Sätzen geräuschlos durch die Weiden gegenüber und
über das Wiesen- und Sumpfland; eine wilde Kampflust glühte in ihm,
die alle seine Sinne schärfte. Der Regen fiel jetzt gleichmäßig und
mit starkem Rauschen herab, und der Wind sauste stärker. Dennoch
hörte Andree, als er dem Stadttor näher kam, ferne Schritte unter den
Weiden und sah jetzt auch, weit voraus, zwei fliehende Gestalten und
erkannte mit kaum verhaltenem Jauchzen die weißen Jacken der verhaßten
Feinde. Kaum hundert Schritte noch, so hatten sie das Tor erreicht.
Aber sie kamen langsam von der Stelle. Der eine--er war jetzt nahe
genug, es deutlich zu unterscheiden--hinkte mühsam am Arme seines
Kameraden hin. Das Tier mochte sich mit seinen scharfen Hörnern zur
Wehr gesetzt haben. Sie sprachen im Gehen von ihrer Untat, der
Hinkende lachte eben mit einer Stimme, die dem Rächer vom Morgen her
nur zu gut bekannt war. Aber das Lachen ward jählings zu einem Schrei
des Entsetzens. Denn von einem wütenden Schlag der Hellebarde
getroffen, stürzte der Elende in die Knie und winselte um Pardon. Ein
neuer Stoß streckte ihn stumm zu Boden. Sein Geselle, der ihm
beispringen wollte, wurde von zwei stählernen Fäusten gepackt, ein
wildes Ringen begann in der Finsternis, keiner sprach ein Wort, nur
die Zähne der erbitterten Gegner knirschten, und sie starrten einander
dicht ins Weiße der Augen. Da sah der Soldat seinen Vorteil und
drängte den Feind dicht an den Rand des Grabens, daß ihm der Fuß auf
dem schlüpfrigen Boden ausglitt und er rücklings niedertaumelte. Ehe
er sich wieder aufgerafft hatte, war der Weißrock entsprungen, und
Andree stand einsam neben dem regungslos daliegenden Welschen, der auf
alles Rufen und Rütteln kein Lebenszeichen mehr von sich gab.
Er ist hin! sagte der Bursch laut für sich, da ihm die leblose Masse
wieder aus den Armen glitt. Bei dem Ton seiner eigenen Worte
schauderte er unwillkürlich zusammen. Sein ganzes elendes Leben stand
ihm plötzlich vor der Seele.
Nicht der Totschlag war es, der ihm so grauenvoll aufs Gewissen fiel.
Sie waren als ruchlose Räuber bei nächtlicher Weile eingebrochen, und
was sie traf, war gerechte Rache für ihre Heimtücke. Wenn der andere
Weißrock, der entflohene, der ihm völlig fremd war, so vor ihm
dagelegen hätte mit zerschelltem Hinterhaupt, das Gesicht in die Lache
seines eigenen Blutes gedrückt, wär' es dem trotzigen Burschen wohl
schwerlich nahegegangen. Aber daß es dieser sein mußte, den er gehaßt
hatte, gehaßt, weil die Moidi ihm freundlich gewesen war--seine
Schwester--!--Das Blut schien ihm zu Eisklumpen zu gerinnen, wie er es
jetzt zum erstenmal mit unbarmherziger Klarheit vor sich stehen sah,
sein fluchwürdiges Schicksal. Mit Rache- und Blutgedanken hatte er am
Wege gelauert den ganzen Tag und die halbe Nacht. Was war ihm der
Frevel an den Rebstöcken und dem unschuldigen Tier? Einen ganz
anderen Frevel hatte er zu rächen: daß dieser verwegene Gesell mit dem
Mädchen schön getan, daß das Mädchen über seine Reden gelacht, daß sie
ihn gegen den Zorn des Bruders jetzt so verteidigt hatte. Darum hatte
er büßen müssen, darum lag er jetzt so still in seinem Blut, und der
vor ihm stand, war kein Hüter des Gesetzes, sondern ein Mörder,
geächtet von seinem eigenen Gewissen.
Der Köbele kam jetzt heran, und sein Schritt schreckte den
hoffnungslos Brütenden auf. Er sprach kein Wort auf alles, was der
andere redete und rannte. Er bedeutete ihm mit stummen Gebärden, daß
sie den Toten aufheben und in das Kapuzinerkloster tragen wollten, das
hart am Tor von Meran über die Mauer blickt. Erst dort an der
Klosterpforte, als sie ihre Last auf der Schwelle abluden, sagte er
dumpf: Zieh an der Glocke, Köbele, und wart, bis sie aufmachen.
Kannst ihnen sagen, daß ich's getan hab'. Und behüt dich Gott; mich
wirst nimmer wiedersehen.--Damit wandte er sich kurz ab und verschwand
in der dunklen Straße.
Es war ihm eilig mit dem, was er vorhatte, doch konnte er nur langsam
seine Glieder weiterschleppen, so schwer lähmten ihn seine Gedanken.
Als er die finstern Bogengänge der "langen Lauben" betrat, wo er vor
dem Regen geschützt war, setzte er sich auf einen der Steinsitze und
lehnte das schwere Haupt gegen den Pfeiler. Hier saß über Tag das
alte Mütterchen, das auf seinem Kohlenofen Kastanien briet. Die Erde
war noch mit Schalen bestreut, die unter Andrees schweren Nägelschuhen
krachten. Wie oft hatte er hier seinen Hunger gestillt, wenn er zu
stolz gewesen war, die eigene Mutter um Essen zu bitten! Und dort,
wenige Häuser aufwärts, war der Laden des Zuckerbäckers, dem die Moidi
ihre Sparkreuzer hinzutragen pflegte. Er sah noch deutlich das große
Herz von Biskuit, das erste Naschwerk, das sie sich selber gekauft.
Sie hatte es mit ihm teilen wollen und, da er's ausschlug, in die
Passer geworfen, obwohl sie es sehr gern gegessen hätte; denn sie
weinte, als sie es getan hatte. Noch jetzt, da er an diese kindischen
Tränen zurückdachte, fühlte er eine triumphierende Freude, daß er so
viel Gewalt über ihr leichtsinniges, trotziges Herzchen gehabt hatte,
und in demselben Augenblicke erschrak er über diese seine Freude. Er
sprang verstört wieder auf und tappte sich vorwärts in dem öden
Hallengang, bis er an das Haus kam, wo der Zehnuhrmesser wohnte. Die
Haustür war unverschlossen, der Flur mit der morschen winkligen Treppe
so dunkel, daß jeder fremde Eindringling Gefahr lief, den Hals zu
brechen. Andree stieg auf den Zehen hinauf, er kannte jede Stufe.
Die Fledermäuse schwirrten auf, als er oben unters Dach trat, wo der
geistliche Herr sein Quartier hatte. Da stand er eine Weile an der
Tür und horchte, ob er ihn drinnen im Schlaf atmen hörte. Darin
entschloß er sich einzutreten.
Das Zimmer aber war leer; auch in der anstoßenden Kammer, wo er selbst
als Knabe gehaust hatte, fand er ihn nicht. Und als ob er sich jetzt
erst recht von Gott und Menschen verlassen fühlte, setzte er sich auf
das unberührte Bett und dachte von neuem an all die Jahre zurück und
brütete über finsteren Entschlüssen.
Die große Katze, die Haushälterin des Zehnuhrmessers, schlich sacht
heran, denn sie hatte ihn wohl erkannt, und knurrte schmeichelnd um
ihn herum. Jetzt sprang sie ihm auf den Schoß und rieb ihren weichen
Rücken gegen seine Brust. Da stürzten ihm die Tränen mit Gewalt aus
den Augen, und er begrub das Gesicht in das seidene Fell des alten
Lieblings. Als er sich so erleichtert hatte, hob er das Tier sanft
von den Knien herab, richtete sich auf und tastete die schwanke Stiege
wieder hinunter. Denn draußen schlug es ein Uhr, und er durfte nicht
zaudern, wenn er sein Vorhaben ungehindert ins Werk setzen wollte.
Er schlug den Weg ein, den sein geistlicher Freund am Morgen hatte
gehen wollen, nach dem Schloß hinauf, wo der Hirzer wohnte. Der
Zehnuhrmesser war dort besonders gern gesehen; er mochte sich droben
in geistlichen Gesprächen mit der Tante Anna oder bei einer Weinprobe
verspätet haben und über Nacht geblieben sein. Wenigstens würden sie
dort wissen, wohin er sich gewendet habe. So durchschritt der
Flüchtling mit freierem Fuße die Laubengasse und das Passeirer Tor und
betrat den steinernen Steg über die wilde Passer. Der Regen rieselte
jetzt weicher herab, das Gewölk wurde luftiger, und der Wind kam
lebhaft aus Nordost und klärte schon ein Stück des Himmels, daß
schwache Mondstrahlen in die schäumenden Wellen der Felsschlucht
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