Pole Poppenspäler: Novelle - 2

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einer Kulisse nach der Wand hinübergespannt war, sah ich zwei der
wunderbaren Puppen schweben; aber sie hingen mit dem Rücken gegen mich, so
daß ich sie nicht erkennen konnte.
"Wo sind die andern, Lisei?" fragte ich; denn ich hätte gern die ganze
Gesellschaft auf einmal mir besehen.
"Hier im Kast'l", sagte Lisei und klopfte mit ihrer kleinen Faust auf eine
im Winkel stehende Kiste; "die zwei da sind schon zug'richt; aber geh nur
her dazu und schau's dir a; er is scho dabei, dei Freund, der Kasperl!"
Und wirklich, er war es selber. "Spielt denn der heute abend auch wieder
mit?" fragte ich.
"Freili, der is allimal dabei!"
Mit untergeschlagenen Armen stand ich und betrachtete meinen lieben
lustigen Allerweltskerl. Da baumelte er, an sieben Schnüren aufgehängt;
sein Kopf war vornübergesunken, daß seine großen Augen auf den Fußboden
stierten und ihm die rote Nase wie ein breiter Schnabel auf der Brust lag.
"Kasperle, Kasperle", sagte ich bei mir selber, "Wie hängst du da
elendiglich." Da antwortete es ebenso: "Wart nur, liebs Brüderl, wart nur
bis heut abend!"--War das auch nur so in meinen Gedanken, oder hatte
Kasperl selbst zu mir gesprochen?-Ich sah mich um. Das Lisei war fort;
sie war wohl vor die Haustür, um die Rückkehr ihres Vaters zu überwachen.
--Da hörte ich sie eben noch von dem Ausgang des Saales rufen: "Daß d' mir
aber nit an die Puppen rührst!"--Ja--nun konnte ich es aber doch nicht
lassen. Leise stieg ich auf eine neben mir stehende Bank und begann erst
an der einen, dann an der andern Schnur zu ziehen; die Kinnladen fingen an
zu klappen, die Arme hoben sich, und jetzt fing auch der wunderbare Daumen
an, ruckweise hin und her zu schießen. Die Sache machte gar keine
Schwierigkeit; ich hatte mir die Puppenspielerei doch kaum so leicht
gedacht.--Aber die Arme bewegten sich nur nach vorn und hinten aus; und es
war doch gewiß, daß Kasperle sie in dem neulichen Stück auch seitwärts
ausgestreckt, ja, daß er sie sogar über dem Kopf zusammengeschlagen hatte!
Ich zog an allen Drähten, ich versuchte mit der Hand die Arme abzubiegen;
aber es wollte nicht gelingen. Auf einmal tat es einen leisen Krach im
Innern der Figur. "Halt!" dachte ich, "Hand vom Brett! Da hättst du
können Unheil anrichten!"
Leise stieg ich wieder von meiner Bank herab, und zugleich hörte ich auch
Lisei von außen in den Saal treten.
"G'schwind, g'schwind!" rief sie und zog mich durch das Dunkel an die
Wendeltreppe hinaus; "'s is eigentli nit recht", fuhr sie fort, "daß i di
eilass'n hab; aber, gel, du hast doch dei Gaudi g'habt!"
Ich dachte an den leisen Krach von vorhin. "Ach, es wird ja nichts gewesen
sein!" Mit dieser Selbsttröstung lief ich die Treppe hinab und durch die
Hintertür ins Freie.
Soviel stand fest, der Kaspar war doch nur eine richtige Holzpuppe; aber
das Lisei--was das für eine allerliebste Sprache führte! und wie
freundlich sie mich gleich zu den Puppen mit hinaufgenommen hatte!
--Freilich, und sie hatte es ja auch selbst gesagt, daß sie es so heimlich
vor ihrem Vater getan, das war nicht völlig in der Ordnung. Unlieb--zu
meiner Schande muß ich's gestehen--war diese Heimlichkeit mir grade nicht;
im Gegenteil, die Sache bekam für mich dadurch noch einen würzigen
Beigeschmack, und es muß ein recht selbstgefälliges Lächeln auf meinem
Gesicht gestanden haben, als ich durch die Linden- und Kastanienbäume des
Gartens wieder nach dem Bürgersteig hinabschlenderte.
Allein zwischen solchen schmeichelnden Gedanken hörte ich von Zeit zu Zeit
vor meinem inneren Ohre immer jenen leisen Krach im Körper der Puppe; was
ich auch vornahm, den ganzen Tag über konnte ich diesen jetzt aus meiner
eigenen Seele herauftönenden unbequemen Laut nicht zum Schweigen bringen.
Es hatte sieben Uhr geschlagen; im Schützenhofe war heute, am Sonntagabend,
alles besetzt; ich stand diesmal hinten, fünf Schuh hoch über dem
Fußboden, auf dem Doppeltschillingsplatze. Die Talglichter brannten in
den Blechlampetten, der Stadtmusikus und seine Gesellen fiedelten; der
Vorhang rollte in die Höhe.
Ein hochgewölbtes gotisches Zimmer zeigte sich. Vor einem aufgeschlagenen
Folianten saß im langen schwarzen Talar der Doktor Faust und klagte bitter,
daß ihm all seine Gelehrsamkeit so wenig einbringe; keinen heilen Rock
habe er mehr am Leibe, und vor Schulden wisse er sich nicht zu lassen; so
wolle er denn jetzo mit der Hölle sich verbinden.--"Wer ruft nach mir?"
ertönte zu seiner Linken eine furchtbare Stimme von der Wölbung des
Gemaches herab.--"Faust, Faust, folge nicht!" kam eine andere, feine
Stimme von der Rechten.--Aber Faust verschwor sich den höllischen Gewalten.
--"Weh, weh deiner armen Seele!" Wie ein seufzender Windeshauch klang es
von der Stimme des Engels; von der Linken schallte eine gellende Lache
durchs Gemach.--Da klopfte es an die Tür. "Verzeihung, Euere
Magnifizenz?" Fausts Famulus Wagner war eingetreten. Er bat, ihm für die
grobe Hausarbeit die Annahme eines Gehülfen zu gestatten, damit er sich
besser aufs Studieren legen könne. "Es hat sich", sagte er, "ein junger
Mann bei mir gemeldet, welcher Kasperl heißt und gar fürtreffliche
Qualitäten zu besitzen scheint." Faust nickte gnädig mit dem Kopfe und
sagte. "Sehr wohl, lieber Wagner, diese Bitte sei Euch gewährt." Dann
gingen beide miteinander fort.-"Pardauz!" rief es; und da war er. Mit
einem Satz kam er auf die Bühne gesprungen, daß ihm das Felleisen auf dem
Buckel hüpfte.--"Gott sei gelobt!" dachte ich; "er ist noch ganz gesund;
er springt noch ebenso wie vorigen Sonntag in der Burg der schönen
Genoveva!" Und seltsam, sosehr ich ihn am Vormittage in meinen Gedanken
nur für eine schmähliche Holzpuppe erklärt hatte, mit seinem ersten Worte
war der ganze Zauber wieder da.
Emsig spazierte er im Zimmer auf und ab. "Wenn mich jetzt mein Vater Papa
sehen tät", rief er, "der würd sich was Rechts freuen. Immer pflegt er zu
sagen: "Kasperl, mach, daß du dein Sach in Schwung bringst!"--Oh, jetzund
hab ich's in Schwung; denn ich kann mein Sach haushoch werfen!"--Damit
machte er Miene, sein Felleisen in die Höhe zu schleudern; und es flog
auch wirklich, da es am Draht gezogen wurde, bis an die Deckenwölbung
hinauf; aber--Kasperls Arme waren an seinem Leibe klebengeblieben; es
ruckte und ruckte, aber sie kamen um keine Handbreit in die Höhe.
Kasperl sprach und tat nichts weiter.--Hinter der Bühne entstand eine
Unruhe, man hörte leise, aber heftig sprechen, der Fortgang des Stückes
war augenscheinlich unterbrochen.
Mir stand das Herz still; da hatten wir die Bescherung! Ich wäre gern
fortgelaufen, aber ich schämte mich. Und wenn gar dem Lisei meinetwegen
etwas geschähe!
Da begann Kasperl auf der Bühne plötzlich ein klägliches Geheule, wobei
ihm Kopf und Arme schlaff herunterhingen, und der Famulus Wagner erschien
wieder und fragte ihn, warum er denn so lamentiere.
"Ach, mei Zahnerl, mei Zahnerl!" schrie Kasperl.
"Guter Freund", sagte Wagner, "so laß Er sich einmal in das Maul sehen!
"--Als er ihn hierauf bei der großen Nase packte und ihm zwischen die
Kinnladen hineinschaute, trat auch der Doktor Faust wieder in das Zimmer.
--"Verzeihen Euere Magnifizenz", sagte Wagner, "ich werde diesen jungen
Mann in meinem Dienst nicht gebrauchen können; er muß sofort in das
Lazarett geschafft werden!"
"Is das a Wirtshaus?" fragte Kasperle.
"Nein, guter Freund", erwiderte Wagner, "das ist ein Schlachthaus. Man
wird Ihm dort einen Weisheitszahn aus der Haut schneiden, und dann wird
er seiner Schmerzen ledig sein."
"Ach, du liebs Hergottl", jammerte Kasperl, "muß mi arms Viecherl so ein
Unglück treffen! Ein Weisheitszahnerl, sagt Ihr, Herr Famulus? Das hat
noch keiner in der Famili gehabt! Da geht's wohl auch mit meiner
Kasperlschaft zu End?"
"Allerdings, mein Freund", sagte Wagner; "eines Dieners mit
Weisheitszähnen bin ich baß entraten; die Dinger sind nur für uns gelehrte
Leute. Aber Er hat ja noch einen Bruderssohn, der sich auch bei mir zum
Dienst gemeldet hat. Vielleicht", und er wandte sich gegen den Doktor
Faust, "erlauben Euere Magnifizenz!"
Der Doktor Faust machte eine würdige Drehung mit dem Kopfe.
"Tut, was Euch beliebt, mein lieber Wagner", sagte er; "aber stört mich
nicht weiter mit Eueren Lappalien in meinem Studium der Magie!"--"Heere,
mei Gutester", sagte ein Schneidergesell, der vor mir auf der Brüstung
lehnte, zu seinem Nachbar, "das geheert ja nicht zum Stück, ich kenn's,
ich hab es vor ä Weilchen erst in Seifersdorf gesehn."--Der andere aber
sagte nur: "Halt's Maul, Leipziger!" und gab ihm einen Rippenstoß.--Auf
der Bühne war indessen Kasperle, der zweite, aufgetreten. Er hatte eine
unverkennbare Ähnlichkeit mit seinem kranken Onkel, auch sprach er ganz
genau wie dieser; nur fehlte ihm der bewegliche Daumen, und in seiner
großen Nase schien er kein Gelenk zu haben.
Mir war ein Stein vom Herzen gefallen, als das Stück nun ruhig
weiterspielte, und bald hatte ich alles um mich her vergessen. Der
teuflische Mephistopheles erschien in einem feuerfarbenen Mantel, das
Hörnchen vor der Stirn, und Faust unterzeichnete mit seinem Blute den
höllischen Vertrag:
"Vierundzwanzig Jahre sollst du mir dienen; dann will ich dein sein mit
Leib und Seele."
Hierauf fuhren beide in des Teufels Zaubermantel durch die Luft davon.
Für Kasperle kam eine ungeheuere Kröte mit Fledermausflügeln aus der Luft
herab. "Auf dem höllischen Sperling soll ich nach Parma reiten?" rief er,
und als das Ding wackelnd mit dem Kopfe nickte, stieg er auf und flog den
beiden nach.--Ich hatte mich ganz hinten an die Wand gestellt, wo ich
besser über alle die Köpfe vor mir hinwegsehen konnte. Und jetzt rollte
der Vorhang zum letzten Aufzug in die Höhe.
Endlich ist die Frist verstrichen. Faust und Kasper sind beide wieder in
ihrer Vaterstadt. Kasper ist Nachtwächter geworden; er geht durch die
dunkeln Straßen und ruft die Stunden ab:
Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen,
Meine Frau hat mich geschlagen;
Hüt't euch vor dem Weiberrock!
Zwölf ist der Klock! Zwölf ist der Klock!
Von fern hört man eine Glocke Mitternacht schlagen. Da wankt Faust auf
die Bühne; er versucht zu beten, aber nur Heulen und Zähneklappern tönt
aus seinem Halse. Von oben ruft eine Donnerstimme:
Fauste, Fauste, in aeternum damnatus es!
Eben fuhren im Feuerregen drei schwarzhaarige Teufel herab, um sich des
Armen zu bemächtigen, da fühlte ich eins der Bretter zu meinen Füßen sich
verschieben. Als ich mich bückte, um es zurechtzubringen, glaubte ich aus
dem dunkeln Raume unter mir ein Geräusch zu hören; ich horchte näher hin;
es klang wie das Schluchzen einer Kinderstimme.--"Lisei!" dachte ich "wenn
es Lisei wäre!" Wie ein Stein fiel meine ganze Untat mir wieder aufs
Gewissen; was kümmerte mich jetzt der Doktor Faust und seine Höllenfahrt!
Unter heftigem Herzklopfen drängte ich mich durch die Zuschauer und ließ
mich seitwärts an dem Brettergerüst herabgleiten. Rasch schlüpfte ich in
den darunter befindlichen Raum, in welchem ich an der Wand entlang ganz
aufrecht gehen konnte; aber es war fast dunkel, so daß ich mich an den
überall untergestellten Latten und Balken stieß. "Lisei!" rief ich. Das
Schluchzen, das ich eben noch gehört hatte, wurde plötzlich still; aber
dort in dem tiefsten Winkel sah ich etwas sich bewegen. Ich tastete mich
weiter bis an das Ende des Raumes, und--da saß sie, zusammengekauert, das
Köpfchen in den Schoß gedrückt.
Ich zupfte sie am Kleide. "Lisei!" sagte ich leise, "bist du es? Was
machst du hier?"
Sie antwortete nicht, sondern begann wieder vor sich hin zu schluchzen.
"Lisei", fragte ich wieder, "was fehlt dir? So sprich doch nur ein
einziges Wort!"
Sie hob den Kopf ein wenig. "Was soll i da red'n!" sagte sie, "Du weißt's
ja von selber, daß du den Wurstl hast verdreht."
"Ja, Lisei", antwortete ich kleinlaut; "ich glaub es selber, daß ich das
getan habe."
--"Ja, du!--Und i hab dir's doch g'sagt!"
"Lisei, was soll ich tun?"
--"Nu, halt nix!"
"Aber was soll denn daraus werden?"
--"Nu, halt aa nix!" Sie begann wieder laut zu weinen. "Aber i--wenn i
z'Haus komm--da krieg i die Peitsch'n!"
"Du die Peitsche, Lisei!"--Ich fühlte mich ganz vernichtet. "Aber ist
dein Vater denn so strenge?"
"Ach, mei guts Vaterl!" schluchzte Lisei.
Also die Mutter! Oh, wie ich, außer mir selber, diese Frau haßte, die
immer mit ihrem Holzgesichte an der Kasse saß!
Von der Bühne hörte ich Kasperl, den zweiten, rufen: "Das Stück ist aus!
Komm, Gret'l, laß uns Kehraus tanzen!" Und in demselben Augenblick begann
auch über unsern Köpfen das Scharren und Trappeln mit den Füßen, und bald
polterte alles von den Bänken herunter und drängte sich dem Ausgange zu;
zuletzt kam der Stadtmusikus mit seinen Gesellen, wie ich aus dem Tönen
des Brummbasses hörte, mit dem sie beim Fortgehen an den Wänden anstießen.
Dann allmählich wurde es still, nur hinten auf der Bühne hörte man noch
die Tendlerschen Eheleute miteinander reden und wirtschaften. Nach einer
Weile kamen auch sie in den Zuschauerraum; sie schienen erst an den
Musikantenpulten, dann an den Wänden die Lichter auszuputzen; denn es
wurde allmählich immer finsterer.
"Wenn i nur wüßt, wo die Lisei abblieben ist!" hörte ich Herrn Tendler zu
seiner an der gegenüberliegenden Wand beschäftigten Frau hinüberrufen.
"Wo sollt sie sein!" rief diese wieder; "'s ist 'n störrig Ding; ins
Quartier wird sie gelaufen sein!"
"Frau", antwortete der Mann, "du bist auch zu wüst mit dem Kind gewesen;
sie hat doch halt so a weichs Gemüt!"
"Ei was", rief die Frau; "ihr' Straf muß sie hab'n; sie weiß recht gut,
daß die schöne Marionett noch von mei'm Vater selig ist! Du wirst sie nit
wieder kurieren, und der zweit' Kasper ist doch halt nur ein Notknecht!"
Die lauten Wechselreden hallten in dem leeren Saale wider. Ich hatte mich
neben Lisei hingekauert; wir hatten uns bei den Händen gefaßt und saßen
mäuschenstille. "G'schieht mir aber schon recht", begann wieder die Frau,
die eben gerade über unsern Köpfen stand, "warum hab ich's gelitten, daß
du das gotteslästerlich Stück heute wieder aufgeführt hast! Mein Vater
selig hat's nimmer wollen in seinen letzten Jahren!"
"Nu, nu, Resel!" rief Herr Tendler von der andern Wand; "dein Vater war
ein b'sondrer Mann. Das Stück gibt doch allfort eine gute Cassa; und ich
mein', es ist doch auch a Lehr und Beispiel für die vielen Gottlosen in
der Welt!"
"Ist aber bei uns zum letztenmal heut geb'n. Und nu red mir nit mehr
davon!" erwiderte die Frau.
Herr Tendler schwieg.--Es schien jetzt nur noch ein Licht zu brennen, und
die beiden Eheleute näherten sich dem Ausgang.
"Lisei", flüsterte ich, "Wir werden eingeschlossen."
"Laß!" sagte sie, "i kann nit; i geh nit furt!"
"Dann bleib ich auch!"
--"Aber dei Vater und Mutter!"
"Ich bleib doch bei dir!"
Jetzt wurde die Tür des Saales zugeschlagen;--dann ging's die Treppe hinab,
und dann hörten wir, wie draußen auf der Straße die große Haustür
abgeschlossen wurde.
Da saßen wir denn. Wohl eine Viertelstunde saßen wir so, ohne auch nur
ein Wort miteinander zu reden. Zum Glück fiel mir ein, daß sich noch zwei
Heißewecken in meiner Tasche befanden, die ich für einen meiner Mutter
abgebettelten Schilling auf dem Herwege gekauft und über all dem Schauen
ganz vergessen hatte. Ich steckte Lisei den einen in ihre kleinen Hände;
sie nahm ihn schweigend, als verstehe es sich von selbst, daß ich das
Abendbrot besorge, und wir schmausten eine Weile. Dann war auch das zu
Ende.--Ich stand auf und sagte: "Laß uns hinter die Bühne gehen; da
wirds's heller sein; ich glaub, der Mond scheint draußen!" Und Lisei ließ
sich geduldig durch die kreuz und quer stehenden Latten von mir in den
Saal hinausleiten.
Als wir hinter der Verkleidung in den Bühnenraum geschlüpft waren, schien
dort vom Garten her das helle Mondlicht in die Fenster.
An dem Drahtseil, an dem am Vormittage nur die beiden Puppen gehangen
hatten, sah ich jetzt alle, die vorhin im Stück aufgetreten waren. Da
hing der Doktor Faust mit seinem scharfen blassen Gesicht, der gehörnte
Mephistopheles, die drei kleinen schwarzhaarigen Teufelchen, und dort
neben der geflügelten Kröte waren auch die beiden Kasperls. Ganz stille
hingen sie da in der bleichen Mondscheinbeleuchtung; fast wie Verstorbene
kamen sie mir vor. Der Hauptkasperl hatte zum Glück wieder seinen breiten
Nasenschnabel auf der Brust liegen, sonst hätte ich geglaubt, daß seine
Blicke mich verfolgen müßten.
Nachdem Lisei und ich eine Welle, nicht wissend, was wir beginnen sollten,
an dem Theatergerüste umhergestanden und--geklettert waren, lehnten wir
uns nebeneinander auf die Fensterbank.--Es war Unwetter geworden; am
Himmel, gegen den Mond, stieg eine Wolkenbank empor; drunten im Garten
konnte man die Blätter zu Haufen von den Bäumen wehen sehen.
"Guck", sagte Lisei nachdenklich, "wie's da aufi g'schwomma kimmt! Da
kann mei alte gute Bas' nit mehr vom Himm'l abi schaun."
"Was für eine alte Bas', Lisei?" fragte ich.
--"Nu, wo i g'west bin, bis sie halt g'storb'n ist."
Dann blickten wir wieder in die Nacht hinaus.--Als der Wind gegen das Haus
und auf die kleinen undichten Fensterscheiben stieß, fing hinter mir an
dem Drahtseil die stille Gesellschaft mit ihren hölzernen Gliedern an zu
klappern. Ich drehte mich unwillkürlich um und sah nun, wie sie, vom
Zugwind bewegt, mit den Köpfen wackelten und die steifen Arm' und Beine
durcheinanderregten. Als aber plötzlich der kranke Kasperl seinen Kopf
zurückschlug und mich mit seinen weißen Augen anstierte, da dachte ich, es
sei doch besser, ein wenig an die Seite zu gehen.
Unweit vom Fenster, aber so, daß die Kulissen dort vor dem Anblick dieser
schwebenden Tänzer schützen mußten, stand die große Kiste; sie war offen;
ein paar wollene Decken, vermutlich zum Verpacken der Puppen bestimmt,
lagen nachlässig darüber hingeworfen.
Als ich mich eben dorthin begeben hatte, hörte ich Lisei vom Fenster her
so recht aus Herzensgrunde gähnen.
"Bist du müde, Lisei?" fragte ich.
"O nein", erwiderte sie, indem sie ihre Ärmchen fest zusammenschränkte;
"aber i frier halt!"
Und wirklich, es war kalt geworden in dem großen leeren Raume, auch mich
fror. "Komm hieher!" sagte ich, "wir wollen uns in die Decken wickeln."
Gleich darauf stand Lisei bei mir und ließ sich geduldig von mir in die
eine Decke wickeln; sie sah aus wie eine Schmetterlingspuppe, nur daß oben
noch das allerliebste Gesichtchen herausguckte. "Weißt", sagte sie und
sah mich mit zwei großen müden Augen an, "i steig ins Kistl, da hält's
warm!"
Das leuchtete auch mir ein; im Verhältnis zu der wüsten Umgebung winkte
hier sogar ein traulicher Raum, fast wie ein dichtes Stübchen. Und bald
saßen wir armen törichten Kinder wohlverpackt und dicht
aneinandergeschmiegt in der hohen Kiste. Mit Rücken und Füßen hatten wir
uns gegen die Seitenwände gestemmt; in der Ferne hörten wir die schwere
Saaltür in den Falzen klappen; wir aber saßen ganz sicher und behaglich.
"Friert dich noch, Lisei?" fragte ich.
"Ka bisserl!"
Sie hatte ihr Köpfchen auf meine Schulter sinken lassen; ihre Augen waren
schon geschlossen. "Was wird mei guts Vaterl--" lallte sie noch; dann
hörte ich an ihren gleichmäßigen Atemzügen, daß sie eingeschlafen war.
Ich konnte von meinem Platze aus durch die oberen Scheiben des einen
Fensters sehen. Der Mond war aus seiner Wolkenhülle wieder
hervorgeschwommen, in der er eine Zeitlang verborgen gewesen war; die alte
Bas' konnte jetzt wieder vom Himmel herunterschauen, und ich denke wohl,
sie hat's recht gern getan. Ein Streifen Mondlicht fiel auf das
Gesichtchen, das nahe an dem meinen ruhte; die schwarzen Augenwimpern
lagen wie seidene Fransen auf den Wangen, der kleine rote Mund atmete
leise, nur mitunter zuckte noch ein kurzes Schluchzen aus der Brust herauf;
aber auch das verschwand; die alte Bas' schaute gar so mild vom Himmel.
--Ich wagte mich nicht zu rühren. "Wie schön müßte es sein", dachte ich,
"wenn das Lisei deine Schwester wäre, wenn sie dann immer bei dir bleiben
könnte!" Denn ich hatte keine Geschwister, und wenn ich auch nach Brüdern
kein Verlangen trug, so hatte ich mir doch oft das Leben mit einer
Schwester in meinen Gedanken ausgemalt und konnte es nie begreifen, wenn
meine Kameraden mit denen, die sie wirklich besaßen, in Zank und
Schlägerei gerieten.
Ich muß über solchen Gedanken doch wohl eingeschlafen sein; denn ich weiß
noch, wie mir allerlei wildes Zeug geträumt hat. Mir war, als säße ich
mitten in dem Zuschauerraum, die Lichter an den Wänden brannten, aber
niemand außer mir saß auf den leeren Bänken. Über meinem Kopfe, unter
der Balkendecke des Saales, ritt Kasperl auf dem höllischen Sperling in
der Luft herum und rief einmal übers andere: "Schlimms Brüderl! Schlimms
Brüderl!" oder auch mit kläglicher Stimme: "Mein Arm! Mein Arm!"
Da wurde ich von einem Lachen aufgeweckt, das über meinem Kopfe erschallte;
vielleicht auch von dem Lichtschein, der mir plötzlich in die Augen fiel.
"Nun seh mir einer dieses Vogelnest!" hörte ich die Stimme meines Vaters
sagen, und dann etwas barscher: "Steig heraus, Junge!"
Das war der Ton, der mich stets mechanisch in die Höhe trieb. Ich riß die
Augen auf und sah meinen Vater und das Tendlersche Ehepaar an unserer
Kiste stehen; Herr Tendler trug eine brennende Laterne in der Hand. Meine
Anstrengung, mich zu erheben, wurde indessen durch Lisei vereitelt, die,
noch immer fortschlafend, mit ihrer ganzen kleinen Last mir auf die Brust
gesunken war. Als sich aber jetzt zwei knochige Arme ausstreckten, um sie
aus der Kiste herauszuheben, und ich das Holzgesicht der Frau Tendler sich
auf uns niederbeugen sah, da schlug ich die Arme so ungestüm um meine
kleine Freundin, daß ich dabei der guten Frau fast ihren alten
italienischen Strohhut vom Kopfe gerissen hätte.
"Nu, nu, Bub!" rief sie und trat einen Schritt zurück; ich aber, aus
unserer Kiste heraus, erzählte mit geflügelten Worten, und ohne mich dabei
zu schonen, was am Vormittag geschehen war.
"Also, Madame Tendler", sagte mein Vater, als ich mit meinem Bericht zu
Ende war, und machte zugleich eine sehr verständliche Handbewegung, "da
könnten Sie es mir ja wohl überlassen, dieses Geschäft allein mit meinem
Jungen abzumachen."
"Ach ja, ach ja!" rief ich eifrig, als wenn mir soeben der angenehmste
Zeitvertreib verheißen wäre.
Lisei war indessen auch erwacht und von ihrem Vater auf den Arm genommen
worden. Ich sah, wie sie die Arme um seinen Hals schlang und ihm bald
eifrig ins Ohr flüsterte, bald ihm zärtlich in die Augen sah oder wie
beteuernd mit dem Köpfchen nickte. Gleich darauf ergriff auch der
Puppenspieler die Hand meines Vaters. "Lieber Herr", sagte er, "die
Kinder bitten füreinander. Mutter, du bist ja auch nit gar so schlimm!
Lassen wir es diesmal halt dabei!"
Madame Tendler sah indes noch immer unbeweglich aus ihrem großen Strohhute.
"Du magst selb schauen, wie du ohne den Kasperl fertig wirst!" sagte sie
mit einem strengen Blick auf ihren Mann.
In dem Antlitz meines Vaters sah ich ein gewisses lustiges Augenzwinkern,
das mir Hoffnung machte, es werde das Unwetter diesmal so an mir
vorüberziehen; und als er jetzt sogar versprach, am andern Tage seine
Kunst zur Herstellung des Invaliden aufzubieten, und dabei Madame Tendlers
italienischer Strohhut in die holdseligste Bewegung geriet, da war ich
sicher, daß wir beiderseits im trocknen waren.
Bald marschierten wir unten durch die dunkeln Gassen, Herr Tendler mit der
Laterne voran, wir Kinder Hand in Hand den Alten nach.--Dann: "Gut Nacht,
Paul! Ach, will i schlaf'n!" Und weg war das Lisei; ich hatte gar nicht
gemerkt, daß wir schon bei unseren Wohnungen angekommen waren.
Am andern Vormittage, als ich aus der Schule gekommen war, traf ich Herrn
Tendler mit seinem Töchterchen schon in unserer Werkstatt. "Nun, Herr
Kollege", sagte mein Vater, der eben das Innere der Puppe untersuchte,
"das sollte denn doch schlimm zugehen, wenn wir zwei Mechanici den
Burschen hier nicht wieder auf die Beine brächten.
"Gel, Vater", rief das Lisei, "da werd aa die Mutter nit mehr brumm'n."
Herr Tendler strich zärtlich über das schwarze Haar des Kindes; dann
wendete er sich zu meinem Vater, der ihm die Art der beabsichtigten
Reparatur auseinandersetzte. "Ach, lieber Herr", sagte er, "ich bin kein
Mechanicus, den Titel hab ich nur so mit den Puppen übernommen; ich bin
eigentlich meines Zeichens ein Holzschnitzer aus Berchtesgaden. Aber mein
Schwiegervater selig--Sie haben gewiß von ihm gehört--, das war halt einer,
und mein Reserl hat noch allweg ihr kleins Gaudi, daß sie die Tochter vom
berühmten Puppenspieler Geißelbrecht ist. Der hat auch die Mechanik in
dem Kasperl da g'macht; ich hab ihm derzeit nur 's G'sichtl ausgeschnitten."
"Ei nun, Herr Tendler", erwiderte mein Vater, "das ist ja auch schon eine
Kunst. Und dann--sagt mir nur, wie war's denn möglich, daß Ihr Euch
gleich zu helfen wußtet, als die Schandtat meines Jungen da so mitten in
dem Stück zum Vorschein kam?"
Das Gespräch begann mir etwas unbehaglich zu werden; in Herrn Tendlers
gutmütigem Angesicht aber leuchtete plötzlich die ganze Schelmerei des
Puppenspielers. "Ja, lieber Herr", sagte er, "da hat man halt für solch
Fäll sein G'spaßerl in der Taschen! Auch ist da noch so ein
Bruderssöhnerl, ein Wurstl Nummer zwei, der grad 'ne solche Stimm hat wie
dieser da!"
Ich hatte indessen die Lisei am Kleide gezupft und war glücklich mit ihr
nach unserem Garten entkommen. Hier unter der Linde saßen wir, die auch
über uns beide jetzt ihr grünes Dach ausbreitet; nur blühten damals nicht
mehr die roten Nelken auf den Beeten dort; aber ich weiß noch wohl, es war
ein sonniger Septembernachmittag. Meine Mutter kam aus ihrer Küche und
begann ein Gespräch mit dem Puppenspielerkinde; sie hatte denn doch auch
so ihre kleine Neugierde.
Wie es denn heiße, fragte sie, und ob es denn schon immer so von Stadt zu
Stadt gefahren sei.--Ja, Lisei heiße es--ich hatte das meiner Mutter auch
schon oft genug gesagt--, aber dies sei seine erste Reis'; drum könne es
auch das Hochdeutsch noch nit so völlig firti krieg'n.--Ob es denn auch
zur Schule gegangen sei.--Freili; es sei schon zur Schul gang'n; aber das
Nähen und Stricken habe es von seiner alten Bas' gelernt; die habe auch so
a Gärtl g'habt, da drin hätten sie zusammen auf dem Bänkerl gesessen; nun
lerne es bei der Mutter, aber die sei gar streng!
Meine Mutter nickte beifällig.--Wie lange ihre Eltern denn wohl hier
verweilen würden, fragte sie das Lisei wieder.--Ja, das wüßt es nit, das
käme auf die Mutter an; doch pflegten sie so ein vier Wochen am Ort zu
bleiben.--Ja, ob's denn auch ein warmes Mäntelchen für die Weiterreise
habe; denn so im Oktober würde es schon kalt auf dem offenen Wägelchen.
--Nun, meinte Lisei, ein Mäntelchen habe sie schon, aber ein dünnes sei es
nur; es hab sie auch schon darin gefroren auf der Herreis'.
Und jetzt befand sich meine gute Mutter auf dem Fleck, wonach ich sie
schon lange hatte zusteuern sehen. "Hör, kleine Lisei", sagte sie, "ich
hab einen braven Mantel in meinem Schranke hängen, noch von den Zeiten her,
da ich ein schlankes Mädchen war; ich bin aber jetzt herausgewachsen und
habe keine Tochter, für die ich ihn noch zurechtschneidern könnte. Komm
nur morgen wieder, Lisei, da steckt ein warmes Mäntelchen für dich darin."
Lisei wurde rot vor Freude und hatte im Umsehen meiner Mutter die Hand
geküßt, worüber diese ganz verlegen wurde; denn du weißt, hierzulande
verstehen wir uns schlecht auf solche Narreteien!--Zum Glück kamen jetzt
die beiden Männer aus der Werkstatt. "Für diesmal gerettet", rief mein
Vater; "aber--!" Der warnend gegen mich geschüttelte Finger war das Ende
meiner Buße.
Fröhlich lief ich ins Haus und holte auf Geheiß meiner Mutter deren großes
Umschlagtuch; denn um den kaum Genesenen vor dem zwar wohlgemeinten, aber
immerhin unbequemen Zujauchzen der Gassenjugend zu bewahren, das ihn auf
seinem Herwege begleitet hatte, wurde der Kasper jetzt sorgsam eingehüllt;
dann nahm Lisei ihn auf den Arm, Herr Tendler das Lisei an der Hand, und
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