Pole Poppenspäler: Novelle - 3

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so, unter Dankesversicherungen, zogen sie vergnügt die Straße nach dem
Schützenhof hinab.
Und nun begann eine Zeit des schönsten Kinderglückes.--Nicht nur am andern
Vormittage, sondern auch an den folgenden Tagen kam das Lisei; denn sie
hatte nicht abgelassen, bis ihr gestattet worden, auch selbst an ihrem
neuen Mäntelchen zu nähen. Zwar war's wohl mehr nur eine Scheinarbeit,
die meine Mutter in ihre kleinen Hände legte; aber sie meinte doch, das
Kind müßte recht ordentlich angehalten sein. Ein paarmal setzte ich mich
daneben und las aus einem Bande von Weißens "Kinderfreunde" vor, den mein
Vater einmal auf einer Auktion für mich gekauft hatte, zum Entzücken
Liseis, der solche Unterhaltungsbücher noch unbekannt waren. "Das is
g'schickt!" oder "Ei du, was geit's für Sachan auf der Welt!" Dergleichen
Worte rief sie oft dazwischen und legte die Hände mit ihrer Näharbeit in
den Schoß. Mitunter sah sie mich auch von unten mit ganz klugen Augen an
und sagte: "Ja, wenn's Geschichtl nur nit derlog'n ist"--Mir ist's, als
hörte ich es noch heute.--Der Erzähler schwieg, und in seinem schönen
männlichen Antlitz sah ich einen Ausdruck stillen Glückes, als sei das
alles, was er mir erzählte, zwar vergangen, aber keineswegs verloren.
Nach einer Weile begann er wieder:
Meine Schularbeiten machte ich niemals besser als in jener Zeit; denn ich
fühlte wohl, daß das Auge meines Vaters mich strenger als je überwachte
und daß ich mir den Verkehr mit den Puppenspielerleuten nur um den Preis
eines strengen Fleißes erhalten könne. "Es sind reputierliche Leute, die
Tendlers", hörte ich einmal meinen Vater sagen; "der Schneiderwirt drüben
hat ihnen auch heute ein ordentliches Stübchen eingeräumt; sie zahlen
jeden Morgen ihre Zeche; nur, meinte der Alte, sei es leider blitzwenig,
was sie draufgehen ließen.--Und das", setzte mein Vater hinzu, "gefällt
mir besser als dem Herbergsvater; sie mögen an den Notpfennig denken, was
sonst nicht die Art solcher Leute ist."--Wie gern hörte ich meine Freunde
loben! Denn das waren sie jetzt alle; sogar Madame Tendler nickte ganz
vertraulich aus ihrem Strohhute, wenn ich--keiner Einlaßkarte mehr
bedürftig--abends an ihrer Kasse vorbei in den Saal schlüpfte.--Und wie
rannte ich jetzt vormittags aus der Schule! Ich wußte wohl, zu Hause traf
ich das Lisei entweder bei meiner Mutter in der Küche, wo sie allerlei
kleine Dienste für sie zu verrichten wußte, oder es saß auf der Bank im
Garten, mit einem Buche oder mit einer Näharbeit in der Hand. Und bald
wußte ich sie auch in meinem Dienste zu beschäftigen; denn nachdem ich
mich genügend in den innern Zusammenhang der Sache eingeweiht glaubte,
beabsichtigte ich nichts Geringeres, als nun auch meinerseits ein
Marionettentheater einzurichten. Vorläufig begann ich mit dem
Ausschnitzen der Puppen, wobei Herr Tendler, nicht ohne eine gutmütige
Schelmerei in seinen kleinen Augen, mir in der Wahl des Holzes und der
Schnitzmesser mit Rat und Hülfe zur Hand ging; und bald ragte auch in der
Tat eine mächtige Kasperlenase aus dem Holzblöckchen in die Welt. Da aber
andererseits der Nanking des "Wurstls" mir zuwenig interessant erschien,
so mußte indessen das Lisei aus "Fetz'ln", die wiederum der alte Gabriel
hatte hergeben müssen, gold- und silberbesetzte Mäntel und Wämser für Gott
weiß welche andere künftige Puppen anfertigen. Mitunter trat auch der
alte Heinrich mit seiner kurzen Pfeife aus der Werkstatt zu uns, ein
Geselle meines Vaters, der, solang ich denken konnte, zur Familie gehörte;
er nahm mir dann wohl das Messer aus der Hand und gab durch ein paar
Schnitte dem Dinge hie und da den rechten Schick. Aber schon wollte
meiner Phantasie selbst der Tendlersche Haupt- und Prinzipalkasperl nicht
mehr genügen; ich wollte noch ganz etwas anderes leisten; für den meinigen
ersann ich noch drei weitere, nie dagewesene und höchst wirkungsvolle
Gelenke, er sollte seitwärts mit dem Kinne wackeln, die Ohren hin und her
bewegen und die Unterlippe auf- und abklappen können; und er wäre auch
jedenfalls ein ganz unerhörter Prachtkerl geworden, wenn er nur nicht
schließlich über all seinen Gelenken schon in der Geburt zugrunde gegangen
wäre. Auch sollte leider weder der Pfalzgraf Siegfried noch irgendein
anderer Held des Puppenspiels durch meine Hand zu einer fröhlichen
Auferstehung gelangen.--Besser glückte es mir mit dem Bau einer
unterirdischen Höhle, in der ich an kalten Tagen mit Lisei auf einem
Bänkchen zusammensaß und ihr bei dem spärlichen Lichte, das durch eine
oben angebrachte Fensterscheibe fiel, die Geschichten aus dem Weißeschen
"Kinderfreunde" vorlas, die sie immer von neuem hören konnte. Meine
Kameraden neckten mich wohl und schalten mich einen Mädchenknecht, weil
ich, statt wie sonst mit ihnen, jetzt mit der Puppenspielertochter meine
Zeit zubrachte. Mich kümmerte das wenig; wußte ich doch, es redete nur
der Neid aus ihnen, und wo es mir zu arg wurde, da brauchte ich denn auch
einmal ganz wacker meine Fäuste.--Aber alles im Leben ist nur für eine
Spanne Zeit. Die Tendlers hatten ihre Stücke durchgespielt; die
Puppenbühne auf dem Schützenhofe wurde abgebrochen; sie rüsteten sich zum
Weiterziehen.
Und so stand ich denn an einem stürmischen Oktobernachmittage draußen vor
unserer Stadt auf dem hohen Heiderücken, sah bald traurig auf den breiten
Sandweg, der nach Osten in die kahle Gegend hinausläuft, bald sehnsüchtig
nach der Stadt zurück, die in Dunst und Nebel in der Niederung lag. Und
da kam es herangetrabt, das kleine Wägelchen mit den zwei hohen Kisten
darauf und dem munteren braunen Pferdchen in der Gabeldeichsel. Herr
Tendler saß jetzt vorn auf einem Brettchen, hinter ihm Lisei in dem neuen
warmen Mäntelchen neben ihrer Mutter.--Ich hatte schon vor der Herberge
von ihnen Abschied genommen; dann aber war ich vorausgelaufen, um sie alle
noch einmal zu sehen und um Lisei, wozu ich von meinem Vater die Erlaubnis
erhalten hatte, den Band von Weißens "Kinderfreunde" als Angedenken
mitzugeben; auch eine Düte mit Kuchen hatte ich um einige ersparte
Sonntagssechslinge für sie eingehandelt. "Halt! Halt!" rief ich jetzt
und stürzte von meinem Heidehügel auf das Fuhrwerk zu.--Herr Tendler zog
die Zügel an, der Braune stand, und ich reichte Lisei meine kleinen
Geschenke in den Wagen, die sie neben sich auf den Stuhl legte. Als wir
uns aber, ohne ein Wort zu sagen, an beiden Händen griffen, da brachen wir
armen Kinder in ein lautes Weinen aus. Doch in demselben Augenblicke
peitschte auch schon Herr Tendler auf sein Pferdchen. "Ade, mein Bub!
Bleib brav und dank aa no schön dei'm Vaterl und dei'm Mutterl!"
"Ade! Ade!" rief das Lisei; das Pferdchen zog an, das Glöckchen an seinem
Halse bimmelte; ich fühlte die kleinen Hände aus den meinen gleiten, und
fort fuhren sie, in die weite Welt hinaus.
Ich war wieder am Rande des Weges emporgestiegen und blickte unverwandt
dem Wägelchen nach, wie es durch den staubenden Sand dahinzog. Immer
schwächer hörte ich das Gebimmel des Glöckchens; einmal noch sah ich ein
weißes Tüchelchen um die Kisten flattern; dann allmählich verlor es sich
mehr und mehr in den grauen Herbstnebeln.--Da fiel es plötzlich wie eine
Todesangst mir auf das Herz: du siehst sie nimmer, nimmer wieder!--"Lisei!"
schrie ich, "Lisei!"--Als aber dessenungeachtet, vielleicht wegen einer
Biegung der Landstraße, der nur noch im Nebel schwimmende Punkt jetzt
völlig meinen Augen entschwand, da rannte ich wie unsinnig auf dem Wege
hintendrein. Der Sturm riß mir die Mütze vom Kopf, meine Stiefel füllten
sich mit Sand; aber so weit ich laufen mochte, ich sah nichts anderes als
die öde baumlose Gegend und den kalten grauen Himmel, der darüberstand.
--Als ich endlich bei einbrechender Dunkelheit zu Hause wieder angelangt
war, hatte ich ein Gefühl, als sei die ganze Stadt indessen ausgestorben.
Es war eben der erste Abschied meines Lebens.
Wenn in den nun folgenden Jahren der Herbst wiederkehrte, wenn die
Krammetsvögel durch die Gärten unserer Stadt flogen und drüben vor der
Schneiderherberge die ersten gelben Blätter von den Lindenbäumen wehten,
dann saß ich wohl manches Mal auf unserer Bank und dachte, ob nicht
endlich einmal das Wägelchen mit dem braunen Pferdchen wie damals wieder
die Straße heraufgebimmelt kommen würde.
Aber ich wartete umsonst; das Lisei kam nicht wieder.
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Es war um zwölf Jahre später.--Ich hatte nach
der Rechenmeisterschule, wie es damals manche Handwerkersöhne zu tun
pflegten, auch noch die Quarta unserer Gelehrtenschule durchgemacht und
war dann bei meinem Vater in die Lehre getreten. Auch diese Zeit, in der
ich mich, außer meinem Handwerk, vielfach mit dem Lesen guter Bücher
beschäftigte, war vorübergegangen. Jetzt, nach dreijähriger Wanderschaft,
befand ich mich in einer mitteldeutschen Stadt. Es war streng katholisch
dort, und in dem Punkte verstanden sie keinen Spaß; wenn man vor ihren
Prozessionen, die mit Gesang und Heiligenbildern durch die Straßen zogen,
nicht selbst den Hut abnahm, so wurde er einem auch wohl
heruntergeschlagen; sonst aber waren es gute Leute.--Die Frau Meisterin,
bei der ich in Arbeit stand, war eine Witwe, deren Sohn gleich mir in der
Fremde arbeitete, um die nach den Zunftgesetzen vorgeschriebenen
Wanderjahre bei der späteren Bewerbung um das Meisterrecht nachweisen zu
können. Ich hatte es gut in diesem Hause; die Frau tat mir, wovon sie
wünschen mochte, daß es in der Ferne andere Leute an ihrem Kinde tun
möchten, und bald war unter uns das Vertrauen so gewachsen, daß das
Geschäft so gut wie ganz in meinen Händen lag.--Jetzt steht unser Joseph
dort bei ihrem Sohn in Arbeit, und die Alte, so hat er oft geschrieben,
hätschelt mit ihm, als wäre sie die leibhaftige Großmutter zu dem Jungen.
--Nun, damals saß ich eines Sonntagnachmittags mit meiner Frau Meisterin
in der Wohnstube, deren Fenster der Tür des großen Gefangenenhauses
gegenüberlagen. Es war im Januar; das Thermometer stand zwanzig Grad
unter Null; draußen auf der Gasse war kein Mensch zu sehen; mitunter kam
der Wind pfeifend von den nahen Bergen herunter und jagte kleine Eisstücke
klingend über das Straßenpflaster.
"Da behagt 'n warmes Stübchen und 'n heißes Schälchen Kaffee", sagte die
Meisterin, indem sie mir die Tasse zum dritten Male vollschenkte.
Ich war ans Fenster getreten. Meine Gedanken gingen in die Heimat; nicht
zu lieben Menschen, die hatte ich dort nicht mehr, das Abschiednehmen
hatte ich jetzt gründlich gelernt. Meiner Mutter war mir noch vergönnt
gewesen selbst die Augen zuzudrücken; vor einigen Wochen hatte ich nun
auch den Vater verloren, und bei dem damals noch so langwierigen Reisen
hatte ich ihn nicht einmal zu seiner Ruhestatt begleiten können. Aber die
väterliche Werkstatt wartete auf den Sohn ihres heimgegangenen Meisters.
Indes, der alte Heinrich war noch da und konnte mit Genehmigung der
Zunftmeister die Sache schon eine kurze Zeit aufrechterhalten; und so
hatte ich denn auch meiner guten Meisterin versprochen, noch ein paar
Wochen bis zum Eintreffen ihres Sohnes bei ihr auszuhalten. Aber Ruhe
hatte ich nicht mehr, das frische Grab meines Vaters duldete mich nicht
länger in der Fremde.
In diesen Gedanken unterbrach mich eine scharfe scheltende Stimme drüben
von der Straße her. Als ich aufblickte, sah ich das schwindsüchtige
Gesicht des Gefängnisinspektors sich aus der halbgeöffneten Tür des
Gefangenenhauses hervorrecken; seine erhobene Faust drohte einem jungen
Weibe, das, wie es schien, fast mit Gewalt in diese sonst gefürchteten
Räume einzudringen strebte.
"Wird wohl was Liebes drinnen haben", sagte die Meisterin, die von ihrem
Lehnstuhle aus ebenfalls dem Vorgange zugesehen hatte, "aber der alte
Sünder da drüben hat kein Herz für die Menschheit."
"Der Mann tut wohl nur seine Pflicht, Frau Meisterin", sagte ich, noch
immer in meinen eigenen Gedanken.
"Ich möcht nicht solche Pflicht zu tun haben", erwiderte sie und lehnte
sich fast zornig in ihren Stuhl zurück.
Drüben war indes die Tür des Gefangenenhauses zugeschlagen, und das junge
Weib, nur mit einem kurzen wehenden Mäntelchen um die Schultern und einem
schwarzen Tüchelchen um den Kopf geknotet, ging langsam die übereiste
Straße hinab.--Die Meisterin und ich waren schweigend auf unserem Platz
geblieben; ich glaube--denn auch meine Teilnahme war jetzt geweckt--, es
war uns beiden, als ob wir helfen müßten und nur nicht wüßten wie.
Als ich eben vom Fenster zurücktreten wollte, kam das Weib wieder die
Straße herauf. Vor der Tür des Gefangenenhauses blieb sie stehen und
setzte zögernd einen Fuß auf den zur Schwelle führenden Treppenstein; dann
aber wandte sie den Kopf zurück, und ich sah ein junges Antlitz, dessen
dunkle Augen mit dem Ausdruck ratlosester Verlassenheit über die leere
Gasse streiften; sie schien doch nicht den Mut zu haben, noch einmal der
drohenden Beamtenfaust entgegenzutreten. Langsam und immer wieder nach
der geschlossenen Tür zurückblickend, setzte sie ihren Weg fort; man sah
es deutlich, sie wußte selbst nicht wohin. Als sie jetzt aber an der Ecke
der Gefangenanstalt in das nach der Kirche hinaufführende Gäßchen einbog,
riß ich unwillkürlich meine Mütze vom Türhaken, um ihr nachzugehen.
"Ja, ja, Paulsen, das ist das Rechte!" sagte die gute Meisterin; "geht nur,
ich werde derweil den Kaffee wieder heiß setzen!"
Es war grimmig kalt, als ich aus dem Hause trat; alles schien wie
ausgestorben; von dem Berge, der am Ende der Straße die Stadt überragt,
sah fast drohend der schwarze Tannenwald herab; vor den Fensterscheiben
der meisten Häuser saßen die weißen Eisgardinen; denn nicht jeder hatte,
wie meine Meisterin, die Gerechtigkeit von fünf Klaftern Holz auf seinem
Hause.--Ich ging durch das Gäßchen nach dem Kirchenplatz; und dort vor dem
großen hölzernen Kruzifixe auf der gefrorenen Erde lag das junge Weib, den
Kopf gesenkt, die Hände in den Schoß gefaltet. Ich trat schweigend näher;
als sie aber jetzt zu dem blutigen Antlitz des Gekreuzigten aufblickte,
sagte ich: "Verzeiht mir, wenn ich Eure Andacht unterbreche, aber Ihr seid
wohl fremd in dieser Stadt?"
Sie nickte nur, ohne ihre Stellung zu verändern.
"Ich möchte Euch helfen!" begann ich wieder, "sagt mir nur, wohin Ihr
wollt!"
"I weiß nit mehr wohin", sagte sie tonlos und ließ das Haupt wieder auf
ihre Brust sinken.
"Aber in einer Stunde ist es Nacht; in diesem Totenwetter könnt Ihr nicht
länger auf der offenen Straße bleiben!"
"Der liebi Gott wird helfen", hörte ich sie leise sagen.
"Ja, ja", rief ich, "und ich glaube fast, er hat mich selbst zu Euch
geschickt!"
Es war, als habe der stärkere Klang meiner Stimme sie erweckt; denn sie
erhob sich und trat zögernd auf mich zu; mit vorgestrecktem Halse näherte
sie ihr Gesicht mehr und mehr dem meinen, und ihre Blicke drangen auf mich
ein, als ob sie mich damit erfassen wolle. "Paul!" rief sie plötzlich,
und wie ein Jubelruf flog das Wort aus ihrer Brust--"Paul! Ja di schickt
mir der liebe Gott!"
Wo hatte ich meine Augen gehabt! Da hatte ich es ja wieder, mein
Kindsgespiel, das kleine Puppenspieler-Lisei! Freilich, eine schöne
schlanke Jungfrau war es geworden, und auf dem sonst so lachenden
Kindergesicht lag jetzt, nachdem der erste Freudenstrahl darüberhin
geflogen, der Ausdruck eines tiefen Kummers.
"Wie kommst du so allein hieher, Lisei?" fragte ich. "Was ist geschehen?
Wo ist denn dein Vater?"
"Im Gefängnis, Paul."
"Dein Vater, der gute Mann!--Aber komm mit mir; ich stehe hier bei einer
braven Frau in Arbeit; sie kennt dich, ich habe ihr oft von dir erzählt."
Und Hand in Hand, wie einst als Kinder, gingen wir nach dem Hause meiner
guten Meisterin, die uns schon vom Fenster aus entgegensah. "Das Lisei
ist's!" rief ich, als wir in die Stube traten, "denkt Euch, Frau Meisterin,
das Lisei!"
Die gute Frau schlug die Hände über ihre Brust zusammen. "Heilige Mutter
Gottes, bitt für uns! das Lisei!--also so hat's ausgeschaut!--Aber", fuhr
sie fort, "wie kommst denn du mit dem alten Sünder da zusammen?"--und sie
wies mit dem ausgestreckten Finger nach dem Gefangenhause drüben--"der
Paulsen hat mir doch gesagt, daß du ehrlicher Leute Kind bist!"
Gleich darauf aber zog sie das Mädchen weiter in die Stube hinein und
drückte sie in ihren Lehnstuhl nieder, und als jetzt Lisei ihre Frage zu
beantworten anfing, hielt sie ihr schon eine dampfende Tasse Kaffee an die
Lippen.
"Nun trink einmal", sagte sie, "und komm erst wieder zu dir; die Händchen
sind dir ja ganz verklommen."
Und das Lisei mußte trinken, wobei ihr zwei helle Tränen in die Tasse
rollten, und dann erst durfte sie erzählen.
Sie sprach jetzt nicht, wie einst und wie vorhin in der Einsamkeit ihres
Kummers, in dem Dialekt ihrer Heimat, nur ein leichter Anflug war ihr
davon geblieben; denn waren ihre Eltern auch nicht mehr bis an unsere
Küste hinabgekommen, so hatten sie sich doch meistens in dem mittleren
Deutschland aufgehalten. Schon vor einigen Jahren war die Mutter
gestorben. "Verlaß den Vater nicht!" das hatte sie der Tochter im
letzten Augenblicke noch ins Ohr geflüstert, "sein Kindsherz ist zu gut
für diese Welt."
Lisei brach bei dieser Erinnerung in heftiges Weinen aus; sie wollte nicht
einmal von der aufs neue vollgeschenkten Tasse trinken, mit der die
Meisterin ihre Tränen zu stillen gedachte, und erst nach einer ziemlichen
Weile konnte sie weiterberichten.
Gleich nach dem Tode der Mutter war es ihre erste Arbeit gewesen, an deren
Stelle sich die Frauenrollen in den Puppenspielen von ihrem Vater
einlernen zu lassen. Dazwischen waren die Bestattungsfeierlichkeiten
besorgt und die ersten Seelenmessen für die Tote gelesen; dann, das
frische Grab hinter sich lassend, waren Vater und Tochter wiederum ins
Land hineingefahren und hatten, wie vorhin, ihre Stücke abgespielt: Den
verlorenen Sohn, Die heilige Genoveva, und wie sie sonst noch heißen
mochten.
So waren sie gestern auf der Reise in ein großes Kirchdorf gekommen, wo
sie ihre Mittagsrast gehalten hatten. Auf der harten Bank vor dem Tische,
an welchem sie ihr bescheidenes Mahl verzehrten, war Vater Tendler ein
halbes Stündchen in einen festen Schlaf gesunken, während Lisei draußen
die Fütterung ihres Pferdes besorgt hatte. Kurz darauf, in wollene Decken
wohlverpackt, waren sie aufs neue in die grimmige Winterkälte
hinausgefahren.
"Aber wir kamen nit weit", erzählte Lisei; "gleich hinterm Dorf ist ein
Landreiter auf uns zugeritten und hat gezetert und gemordiot. Aus dem
Tischkasten sollt dem Wirt ein Beutel mit Geld gestohlen sein, und mein
unschuldigs Vaterl war doch allein in der Stube dort gewesen! Ach, wir
haben kei Heimat, kei Freund, kei Ehr; es kennt uns niemand nit!"
"Kind, Kind", sagte die Meisterin, indem sie zu mir hinüberwinkte,
"versündige dich auch nicht!"
Ich aber schwieg, denn Lisei hatte ja nicht unrecht mit ihrer Klage.--Sie
hatten in das Dorf zurückgemußt; das Fuhrwerk mit allem, was daraufgeladen,
war vom Schulzen dort zurückgehalten worden; der alte Tendler aber hatte
die Weisung erhalten, den Weg zur Stadt neben dem Pferde des Landreiters
herzutraben. Lisei, von dem letzteren mehrfach zurückgewiesen, war in
einiger Entfernung hinterhergegangen, in der Zuversicht, daß sie
wenigstens, bis der liebe Gott die Sache aufkläre, das Gefängnis ihres
Vaters werde teilen können. Aber--auf ihr ruhte kein Verdacht; mit Recht
hatte der Inspektor sie als eine Zudringliche von der Tür gejagt, die auf
ein Unterkommen in seinem Hause nicht den geringsten Anspruch habe.
Lisei wollte das zwar noch immer nicht begreifen; sie meinte, das sei ja
härter als alle Strafe, die später doch gewiß den wirklichen Spitzbuben
noch ereilen würde; aber, fügte sie gleich hinzu, sie wolle ihm auch so
harte Strafe nit wünschen, wenn nur die Unschuld von ihrem guten Vaterl an
den Tag komme; ach, der werd's gewiß nit überleben!
Ich besann mich plötzlich, daß ich sowohl dem alten Korporal da drüben als
auch dem Herrn Kriminalkommissarius eigentlich ein unentbehrlicher Mann
sei; denn dem einen hielt ich seine Spinnmaschinen in Ordnung, dem andern
schärfte ich seine kostbaren Federmesser; durch den einen konnte ich
wenigstens Zutritt zu dem Gefangenen erhalten, bei dem andern konnte ich
ein Leumundszeugnis für Herrn Tendler ablegen und ihn vielleicht zur
Beschleunigung der Sache veranlassen. Ich bat Lisei, sich zu gedulden,
und ging sofort in das Gefangenhaus hinüber.
Der schwindsüchtige Inspektor schalt auf die unverschämten Weiber, die
immer zu ihren spitzbübischen Männern oder Vätern in die Zellen wollten.
Ich aber verbat mir in betreff meines alten Freundes solche Titel, solange
sie ihm nicht durch das Gericht "von Rechts wegen" beigelegt seien, was,
wie ich sicher wisse, nie geschehen werde; und endlich, nach einigem Hin-
und Widerreden, stiegen wir zusammen die breite Treppe nach dem Oberbau
hinauf.
In dem alten Gefangenhause war auch die Luft gefangen, und ein
widerwärtiger Dunst schlug uns entgegen, als wir oben durch den langen
Korridor schritten, von welchem aus zu beiden Seiten Tür an Tür in die
einzelnen Gefangenzellen führte. An einer derselben, fast zu Ende des
Ganges, blieben wir stehen; der Inspektor schüttelte sein großes
Schlüsselbund, um den rechten herauszufinden; dann knarrte die Tür, und
wir traten ein.
In der Mitte der Zelle, mit dem Rücken gegen uns, stand die Gestalt eines
kleinen mageren Mannes, der nach dem Stückchen Himmel hinaufzublicken
schien, das grau und trübselig durch ein oben in der Mauer angebrachtes
Fenster auf ihn herabdämmerte. An seinem Haupte bemerkte ich sogleich die
kleinen abstehenden Haarspieße; nur hatten sie, wie jetzt draußen die
Natur, sich in die Farbe des Winters gekleidet. Bei unserem Eintritt
wandte der kleine Mann sich um.
"Sie kennen mich wohl nicht mehr, Herr Tendler?" fragte ich.
Er sah flüchtig nach mir hin. "Nein, lieber Herr", erwiderte er, "hab
nicht die Ehre."
Ich nannte ihm den Namen meiner Vaterstadt und sagte: "Ich bin der unnütze
Junge, der Ihnen damals Ihren kunstreichen Kasperl verdrehte!"
"Oh, schad't nichts, gar nichts!" erwiderte er verlegen und machte mir
einen Diener; "ist lange schon vergessen."
Er hatte offenbar nur halb auf mich gehört; denn seine Lippen bewegten
sich als spräche er zu sich selber von ganz anderen Dingen.
Da erzählte ich ihm, wie ich vorhin sein Lisei aufgefunden habe, und jetzt
erst sah er mich mit offenen Augen an. "Gott Dank! Gott Dank!" sagte er
und faltete die Hände. "Ja, ja, das kleine Lisei und der kleine Paul, die
spielten derzeit miteinander!--Der kleine Paul! Seid Ihr der kleine Paul?
Oh, i glaub's Euch schon; das herzige G'sichtl von dem frischen Bub'n,
das schaut da no heraus!" Er nickte mir so innig zu, daß die weißen
Haarspießchen auf seinem Kopfe bebten. "Ja, ja, da drunten an der See bei
euch; wir sind nit wieder hingekommen; das war no gute Zeit dermal; da war
aa noch mein Weib, die Tochter vom großen Geißelbrecht, dabei! "Joseph!"
pflegte sie zu sagen, "wenn nur die Menschen aa so Dräht an ihre Köpf
hätten, da könntst du aa mit ihne firti werd'n!"--Hätt sie nur heute noch
gelebt, sie hätten mich nicht eingesperrt. Du lieber Gott; ich bin kein
Dieb, Herr Paulsen."
Der Inspektor, der draußen vor der angelehnten Tür im Gange auf und ab
ging, hatte schon ein paarmal mit seinem Schlüsselbund gerasselt. Ich
suchte den alten Mann zu beruhigen und bat ihn, sich bei seinem ersten
Verhör auf mich zu berufen, der ich hier bekannt und wohlgeachtet sei.
Als ich wieder zu meiner Meisterin in die Stube trat, rief diese mir
entgegen: "Das ist ein trotzigs Mädel, Paulsen; da helft mir nur gleich
ein wenig; ich hab ihr die Kammer zum Nachtquartier geboten; aber sie will
fort, in die Bettelherberg oder Gott weiß wohin!"
Ich fragte Lisei, ob sie ihre Pässe bei sich habe.
"Mein Gott, die hat der Schulz im Dorf uns abgenommen!"
"So wird kein Wirt dir seine Tür aufmachen", sagte ich, "das weißt du
selber wohl."
Sie wußte es freilich, und die Meisterin schüttelte ihr vergnügt die Hände.
"Ich denk wohl", sagte sie, "daß du dein eignes Köpfchen hast; der da
hat mir's haarklein erzählt, wie ihr zusammen in der Kiste habt gesessen;
aber so leicht wärst du doch nicht von mir fortgekommen!"
Das Lisei sah etwas verlegen vor sich nieder; dann aber fragte sie mich
hastig aus nach ihrem Vater. Nachdem ich ihr Bescheid gegeben hatte,
erbat ich mir ein paar Bettstücke von der Meisterin, nahm von den meinigen
noch etwas hinzu und trug es selbst hinüber in die Zelle des Gefangenen,
wozu ich vorhin von dem Inspektor die Erlaubnis erhalten hatte.--So
konnten wir, als nun die Nacht herankam, hoffen, daß im warmen Bette und
auf dem besten Ruhekissen, das es in der Welt gibt, auch unsern alten
Freund in seiner öden Kammer ein sanfter Schlaf erquicken werde.
Am andern Vormittage, als ich eben, um zum Herrn Kriminalkommissarius zu
gehen, auf die Straße trat, kam von drüben der Inspektor in seinen
Morgenpantoffeln auf mich zugeschritten. "Ihr habt recht gehabt, Paulsen",
sagte er mit seiner gläsernen Stimme, "für diesmal ist's kein Spitzbube
gewesen; den Richtigen haben sie soeben eingebracht; Euer Alter wird noch
heut entlassen werden."
Und richtig, nach einigen Stunden öffnete sich die Tür des Gefangenhauses,
und der alte Tendler wurde von der kommandierenden Stimme des Inspektors
zu uns hinübergewiesen. Da das Mittagessen eben aufgetragen war, so ruhte
die Meisterin nicht, bis auch er seinen Platz am Tische eingenommen hatte;
aber er berührte die guten Speisen kaum, und wie sie sich auch um ihn
bemühen mochte, er blieb wortkarg und in sich gekehrt neben seiner Tochter
sitzen; nur mitunter bemerkte ich, wie er deren Hand nahm und sie zärtlich
streichelte. Da hörte ich draußen vom Tore her ein Glöckchen bimmeln; ich
kannte es ganz genau, aber es läutete mir weither aus meiner Kinderzeit.
"Lisei!" sagte ich leise.
"Ja, Paul, ich hör es wohl."
Und bald standen wir beide draußen vor der Haustür. Siehe, da kam es die
Straße herab, das Wägelchen mit den beiden hohen Kisten, wie ich daheim es
mir so oft gewünscht hatte. Ein Bauernbursche ging nebenher mit Zügel und
Peitsche in der Hand; aber das Glöckchen bimmelte jetzt am Halse eines
kleinen Schimmels.
"Wo ist das Braunchen geblieben?" fragte ich Lisei.
"Das Braunchen", erwiderte sie, "das ist uns eines Tags vorm Wagen
hingefallen; der Vater hat sogleich den Tierarzt aus dem Dorfe geholt;
aber es hat nimmer leben können."
Bei diesen Worten stürzten ihr die Tränen aus den Augen.
"Was fehlt dir, Lisei?" fragte ich, "es ist ja nun doch alles wieder gut!"
Sie schüttelte den Kopf. "Mein Vaterl gefallt mir nit! Er ist so still;
die Schand, er verwind't es nit."--Und Lisei hatte mit ihren treuen
Tochteraugen recht gesehen. Als kaum die beiden in einem kleinen Gasthofe
untergebracht waren und der Alte schon seine Pläne zur Weiterfahrt
entwarf--denn hier wollte er jetzt nicht vor die Leute treten--, da zwang
ihn ein Fieber, im Bett zu bleiben. Bald mußten wir einen Arzt holen, und
es entwickelte sich ein längeres Krankenlager. In Besorgnis, daß sie
dadurch in Not geraten könnten, bot ich Lisei meine Geldmittel zur Hülfe
an; aber sie sagte: "I nimm's ja gern von dir; doch sorg nur nit, wir sind
nit gar so karg." Da blieb mir denn nichts anderes zu tun, als in der
Nachtwache mit ihr zu wechseln oder, als es dem Kranken besser ging, am
Feierabend ein Stündchen an seinem Bett zu plaudern.
So war die Zeit meiner Abreise herangenaht, und mir wurde das Herz immer
schwerer. Es tat mir fast weh, das Lisei anzusehen; denn bald fuhr es ja
auch mit seinem Vater von hier wieder in die weite Welt hinaus. Wenn sie
nur eine Heimat gehabt hätten! Aber wo waren sie zu finden, wenn ich Gruß
und Nachricht zu ihnen senden wollte! Ich dachte an die zwölf Jahre seit
unserem ersten Abschied;--sollte wieder so lange Zeit vergehen oder am
Ende gar das ganze Leben?
"Und grüß mir aa dein Vaterhaus, wenn du heimkommst!" sagte Lisei, da sie
am letzten Abend mich an die Haustür begleitet hatte. "I seh's mit mein'
Augen, das Bänkerl vor der Tür, die Lind im Gart'l; ach, i vergiß es
nimmer; so lieb hab ich's nit wieder g'funden in der Welt!"
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