Pole Poppenspäler: Novelle - 1

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POLE POPPENSPÄLER
von THEODOR STORM
Novelle (1874)


Ich hatte in meiner Jugend einige Fertigkeit im Drechseln und beschäftigte
mich sogar wohl etwas mehr damit, als meinen gelehrten Studien zuträglich
war; wenigstens geschah es, daß mich eines Tags der Subrektor bei Rückgabe
eines nicht eben fehlerlosen Exerzitiums seltsamerweise fragte, ob ich
vielleicht wieder eine Nähschraube zu meiner Schwester Geburtstag
gedrechselt hätte. Solch kleine Nachteile wurden indessen mehr als
aufgewogen durch die Bekanntschaft mit einem trefflichen Manne, die mir
infolge jener Beschäftigung zuteil wurde. Dieser Mann war der
Kunstdrechsler und Mechanikus Paul Paulsen, auch deputierter Bürger
unserer Stadt. Auf die Bitte meines Vaters, der für alles, was er
michunternehmen sah, eine gewisse Gründlichkeit forderte, verstand er sich
dazu, mir die für meine kleinen Arbeiten erforderlichen Handgriffe
beizubringen.
Paulsen besaß mannigfache Kenntnisse und war dabei nicht nur von
anerkannter Tüchtigkeit in seinem eignen Handwerk, sondern er hatte auch
eine Einsicht in die künftige Entwicklung der Gewerke überhaupt, so daß
bei manchem, was jetzt als neue Wahrheit verkündigt wird, mir plötzlich
einfällt: das hat dein alter Paulsen ja schon vor vierzig Jahren gesagt.
--Es gelang mir bald, seine Zuneigung zu erwerben, und er sah es gern,
wenn ich noch außer den festgesetzten Stunden am Feierabend einmal zu ihm
kam. Dann saßen wir entweder in der Werkstätte oder sommers--denn unser
Verkehr hat jahrelang gedauert--auf der Bank unter der großen Linde seines
Gärtchens. In den Gesprächen, die wir dabei führten, oder vielmehr,
welche mein älterer Freund dabei mit mir führte, lernte ich Dinge kennen
und auf Dinge meine Gedanken richten, von denen, so wichtig sie im Leben
sind, ich später selbst in meinen Primaner-Schulbüchern keine Spur
gefunden habe.
Paulsen war seiner Abkunft nach ein Friese und der Charakter dieses
Volksstammes aufs schönste in seinem Antlitz ausgeprägt; unter dem
schlichten blonden Haar die denkende Stirn und die blauen sinnenden Augen;
dabei hatte, vom Vater ererbt, seine Stimme noch etwas von dem weichen
Gesang seiner Heimatsprache.
Die Frau dieses nordischen Mannes war braun und von zartem Gliederbau,
ihre Sprache von unverkennbar süddeutschem Klange. Meine Mutter pflegte
von ihr zu sagen, ihre schwarzen Augen könnten einen See ausbrennen, in
ihrer Jugend aber sei sie von seltener Anmut gewesen.--Trotz der silbernen
Fädchen, die schon ihr Haar durchzogen, war auch jetzt die Lieblichkeit
dieser Züge noch nicht verschwunden, und das der Jugend angeborene Gefühl
für Schönheit veranlaßte mich bald, ihr, wo ich immer konnte, mit kleinen
Diensten und Gefälligkeiten an die Hand zu gehen.
"Da schau mir nur das Buberl", sagte sie dann wohl zu ihrem Mann; "Wirst
doch nit eifersüchtig werden, Paul?"
Dann lächelte Paul. Und aus ihren Scherzworten und aus seinem Lächeln
sprach das Bewußtsein innigsten Zusammengehörens.
Sie hatten außer einem Sohne, der damals in der Fremde war, keine Kinder,
und vielleicht war ich den beiden zum Teil deshalb so willkommen, zumal
Frau Paulsen mir wiederholt versicherte, ich habe grad ein so lustigs
Naserl wie ihr Joseph. Nicht verschweigen will ich, daß letztere auch
eine mir sehr zusagende, in unserer Stadt aber sonst gänzlich unbekannte
Mehlspeise zu bereiten verstand und auch nicht unterließ, mich dann und
wann zu Gast zu bitten.--So waren denn dort der Anziehungskräfte für mich
genug. Von meinem Vater aber wurde mein Verkehr in dem tüchtigen
Bürgerhause gern gesehen. "Sorge nur, daß du nicht lästig fällst!" war
das einzige, woran er in dieser Beziehung zuweilen mich erinnerte. Ich
glaube indessen nicht, daß ich meinen Freunden je zu oft gekommen bin.
Da geschah es eines Tages, daß in meinem elterlichen Hause einem alten
Herrn aus unserer Stadt das neueste und wirklich ziemlich gelungene Werk
meiner Hände vorgezeigt wurde.
Als dieser seine Bewunderung zu erkennen gab, bemerkte mein Vater dagegen,
daß ich ja aber auch schon seit fast einem Jahr bei Meister Paulsen in der
Lehre sei.
"So, so", erwiderte der alte Herr; "bei Pole Poppenspäler!"
Ich hatte nie gehört, daß mein Freund einen solchen Beinamen führe, und
fragte, vielleicht ein wenig naseweis, was das bedeuten solle.
Aber der alte Herr lächelte nur ganz hinterhältig und wollte keine weitere
Auskunft geben.-Zum kommenden Sonntag war ich von den Paulsenschen
Eheleuten auf den Abend eingeladen, um ihnen ihren Hochzeitstag feiern zu
helfen. Es war im Spätsommer, und da ich mich frühzeitig auf den Weg
gemacht und die Hausfrau noch in der Küche zu wirtschaften hatte, so ging
Paulsen mit mir in den Garten, wo wir uns zusammen unter der großen Linde
auf die Bank setzten. Mir war das "Pole Poppenspäler" wieder eingefallen,
und es ging mir so im Kopf herum, daß ich kaum auf seine Reden Antwort gab;
endlich, da er mich fast ein wenig ernst wegen meiner Zerstreutheit
zurechtgewiesen hatte, fragte ich ihn gradezu, was jener Beiname zu
bedeuten habe.
Er wurde sehr zornig. "Wer hat dich das dumme Wort gelehrt?" rief er,
indem er von seinem Sitze aufsprang. Aber bevor ich noch zu antworten
vermochte, saß er schon wieder neben mir. "Laß, laß!" sagte er, sich
besinnend, "es bedeutet ja eigentlich das Beste, was das Leben mir gegeben
hat.--Ich will es dir erzählen; wir haben wohl noch Zeit dazu."--
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In diesem Haus und Garten bin ich aufgewachsen, meine braven Eltern wohnten
hier, und hoffentlich wird einst mein Sohn hier wohnen!--Daß ich ein Knabe
war, ist nun schon lange her; aber gewisse Dinge aus jener Zeit stehen noch,
wie mit farbigem Stift gezeichnet, vor meinen Augen.
Neben unserer Haustür stand damals eine kleine weiße Bank mit grünen
Stäben in den Rück- und Seitenlehnen, von der man nach der einen Seite die
lange Straße hinab bis an die Kirche, nach der andern aus der Stadt hinaus
bis in die Felder sehen konnte. An Sommerabenden saßen meine Eltern hier,
der Ruhe nach der Arbeit pflegend; in den Stunden vorher aber pflegte ich
sie in Beschlag zu nehmen und hier in der freien Luft und unter
erquickendem Ausblick nach Ost und West meine Schularbeiten anzufertigen.
So saß ich auch eines Nachmittags--ich weiß noch gar wohl, es war im
September, eben nach unserem Michaelis-Jahrmarkte--und schrieb für den
Rechenmeister meine Algebra-Exempel auf die Tafel, als ich unten von der
Straße ein seltsames Gefährt heraufkommen sah. Es war ein zweirädriger
Karren, der von einem kleinen rauhen Pferde gezogen wurde. Zwischen zwei
ziemlich hohen Kisten, mit denen er beladen war, saß eine große blonde
Frau mit steifen hölzernen Gesichtszügen und ein etwa neunjähriges Mädchen,
das sein schwarzhaariges Köpfchen lebhaft von einer Seite nach der andern
drehte; nebenher ging, den Zügel in der Hand, ein kleiner, lustig
blickender Mann, dem unter seiner grünen Schirmmütze die kurzen schwarzen
Haare wie Spieße vom Kopfe abstanden.
So, unter dem Gebimmel eines Glöckchens, das unter dem Halse des Pferdes
hing, kamen sie heran. Als sie die Straße vor unserem Hause erreicht
hatten, machte der Karren halt. "Du Bub", rief die Frau zu mir herüber,
"wo ist denn die Schneiderherberg?"
Mein Griffel hatte schon lange geruht; nun sprang ich eilfertig auf und
trat an den Wagen. "Ihr seid grad davor", sagte ich und wies auf das alte
Haus mit der viereckig geschorenen Linde, das, wie du weißt, noch jetzt
hier gegenüber liegt.
Das feine Dirnchen war zwischen den Kisten aufgestanden, streckte das
Köpfchen aus der Kapuze ihres verschossenen Mäntelchens und sah mit ihren
großen Augen auf mich herab; der Mann aber, mit einem "Sitz ruhig, Diendl!"
und "Schönen Dank, Bub!" peitschte auf den kleinen Gaul und fuhr vor die
Tür des bezeichneten Hauses, aus dem auch schon der dicke Herbergsvater in
seiner grünen Schürze ihm entgegentrat.
Daß die Ankömmlinge nicht zu den zunftberechtigten Gästen des Hauses
gehörten, mußte mir freilich klar sein; aber es pflegten dort--was mir
jetzt, wenn ich es bedenke, mit der Reputation des wohlehrsamen Handwerks
sich keineswegs reimen will--auch andere, mir viel angenehmere Leute
einzukehren. Droben im zweiten Stock, wo noch heute statt der Fenster nur
einfache Holzluken auf die Straße gehen, war das hergebrachte Quartier
aller fahrenden Musikanten, Seiltänzer oder Tierbändiger, welche in
unserer Stadt ihre Kunst zum besten gaben.
Und richtig, als ich am andern Morgen oben in meiner Kammer vor dem
Fenster stand und meinen Schulsack schnürte, wurde drüben eine der Luken
aufgestoßen; der kleine Mann mit den schwarzen Haarspießen steckte seinen
Kopf ins Freie und dehnte sich mit beiden Armen in die frische Luft hinaus;
dann wandte er den Kopf hinter sich nach dem dunkeln Raum zurück, und ich
hörte ihn "Lisei! Lisei!" rufen.--Da drängte sich unter seinem Arm ein
rosiges Gesichtlein vor, um das wie eine Mähne das schwarze Haar herabfiel.
Der Vater wies mit dem Finger nach mir herüber, lachte und zupfte sie
ein paarmal an ihren seidenen Strähnen. Was er zu ihr sprach, habe ich
nicht verstehen können; aber es mag wohl ungefähr gelautet haben. "Schau
dir ihn an, Lisei! Kennst ihn noch, den Bubn von gestern?--Der arme Narr,
da muß er nun gleich mit dem Ranzen in die Schule traben!--Was du für ein
glückliches Diendl bist, die du allweg nur mit unserem Braunen landab,
landauf zu fahren brauchst!"--Wenigstens sah die Kleine ganz mitleidig zu
mir herüber, und als ich es wagte, ihr freundlich zuzunicken, nickte sie
sehr ernsthaft wieder.
Bald aber zog der Vater seinen Kopf zurück und verschwand im Hintergrund
seines Bodenraumes. Statt seiner trat jetzt die große blonde Frau zu dem
Kinde; sie bemächtigte sich ihres Kopfes und begann ihr das Haar zu
strählen. Das Geschäft schien schweigend vollzogen zu werden, und das
Lisei durfte offenbar nicht mucksen, obgleich es mehrmals, wenn ihr der
Kamm so in den Nacken hinabfuhr, die eckigsten Figuren mit ihrem roten
Mäulchen bildete. Nur einmal hob sie den Arm und ließ ein langes Haar
über die Linde draußen in die Morgenluft hinausfliegen. Ich konnte von
meinem Fenster aus es glänzen sehen; denn die Sonne war eben durch den
Herbstnebel gedrungen und schien drüben auf den oberen Teil des
Herbergshauses.
Auch in den vorhin undurchdringlich dunkeln Bodenraum konnte ich jetzt
hineinsehen. Ganz deutlich erblickte ich in einem dämmerigen Winkel den
Mann an einem Tische sitzen; in seiner Hand blinkte etwas wie Gold oder
Silber; dann wieder war's wie ein Gesicht mit einer ungeheueren Nase; aber
sosehr ich meine Augen anstrengte, ich vermochte nicht klug daraus zu
werden.
Plötzlich hörte ich, als wenn etwas Hölzernes in einen Kasten geworfen
würde, und nun stand der Mann auf und lehnte aus einer zweiten Luke sich
wieder auf die Straße hinaus.
Die Frau hatte indessen der kleinen schwarzen Dirne ein verschossenes
rotes Kleidchen angezogen und ihr die Haarflechten wie einen Kranz um das
runde Köpfchen gelegt.
Ich sah noch immer hinüber. "Einmal" dachte ich, "könnte sie doch wieder
nicken."--"Paul, Paul!" hörte ich plötzlich unten aus unserem Hause die
Stimme meiner Mutter rufen.
"Ja, ja, Mutter!"
Es war mir ordentlich wie ein Schrecken in die Glieder geschlagen.
"Nun", rief sie wieder, "der Rechenmeister wird dir schön die Zeit
verdeutschen! Weißt du denn nicht, daß es lang schon sieben geschlagen
hat?"
Wie rasch polterte ich die Treppe hinunter!
Aber ich hatte Glück; der Rechenmeister war grad dabei, seine Bergamotten
abzunehmen, und die halbe Schule befand sich in seinem Garten, um mit
Händen und Mäulern ihm dabei zu helfen. Erst um neun Uhr saßen wir alle
mit heißen Backen und lustigen Gesichtern an Tafel und Rechenbuch auf
unseren Bänken.
Als ich um elf, die Taschen noch von Birnen starrend, aus dem Schulhofe
trat, kam eben der dicke Stadtausrufer die Straße herauf. Er schlug mit
dem Schlüssel an sein blankes Messingbecken und rief mit seiner Bierstimme:
"Der Mechanikus und Puppenspieler Herr Joseph Tendler aus der
Residenzstadt München ist gestern hier angekommen und wird heute abend im
Schützenhofsaale seine erste Vorstellung geben. Vorgestellt wird:
Pfalzgraf Siegfried und die heilige Genoveva, Puppenspiel mit Gesang in
vier Aufzügen."
Dann räusperte er sich und schritt würdevoll in der meinem Heimwege
entgegengesetzten Richtung weiter. Ich folgte ihm von Straße zu Straße,
um wieder und wieder die entzückende Verkündigung zu hören; denn niemals
hatte ich eine Komödie, geschweige denn ein Puppenspiel gesehen.--Als ich
endlich umkehrte, sah ich ein rotes Kleidchen mir entgegenkommen; und
wirklich, es war die kleine Puppenspielerin; trotz ihres verschossenen
Anzugs schien sie mir von einem Märchenglanz umgeben.
Ich faßte mir ein Herz und redete sie an: "Willst du spazierengehen,
Lisei?"
Sie sah mich mißtrauisch aus ihren schwarzen Augen an. "Spazieren?"
wiederholte sie gedehnt. "Ach du--du bist g'scheit!"
"Wohin willst du denn?"
--"Zum Ellenkramer will i!"
"Willst du dir ein neues Kleid kaufen?" fragte ich tölpelhaft genug.
Sie lachte laut auf. "Geh! laß mi aus!--Nein; nur so Fetz'ln!"
"Fetz'ln, Lisei?"
--"Freili! Halt nur so Resteln zu G'wandl für die Pupp'n; 's kost't immer
nit viel!"
Ein glücklicher Gedanke fuhr mir durch den Kopf. Ein alter Onkel von mir
hatte damals am Markte hier eine Ellenwarenhandlung, und sein alter
Ladendiener war mein guter Freund. "Komm mit mir", sagte ich kühn, "es
soll dir gar nichts kosten, Lisei!"
"Meinst?" fragte sie noch; dann liefen wir beide nach dem Markt und in das
Haus des Onkels. Der alte Gabriel stand wie immer in seinem pfeffer- und
salzfarbenen Rock hinter dem Ladentisch, und als ich ihm unser Anliegen
deutlich gemacht hatte, kramte er gutmütig einen Haufen "Rester" auf den
Tisch zusammen.
"Schau, das hübsch Brinnrot!" sagte Lisei und nickte begehrlich nach einem
Stückchen französischen Kattuns hinüber.
"Kannst es brauchen?" fragte Gabriel.--Ob sie es brauchen konnte! Der
Ritter Siegfried sollte ja auf den Abend noch eine neue Weste geschneidert
bekommen.
"Aber da gehören auch die Tressen noch dazu", sagte der Alte und brachte
allerlei Endchen Gold- und Silberflitter. Bald kamen noch grüne und gelbe
Seidenläppchen und Bänder, endlich ein ziemlich großes Stück braunen
Plüsches. "Nimm's nur, Kind!" sagte Gabriel. "Das gibt ein Tierfell für
euere Genoveva, wenn das alte vielleicht verschossen wäre!" Dann packte er
die ganze Herrlichkeit zusammen und legte sie der Kleinen in den Arm.
"Und es kost't nix?" fragte sie beklommen.
Nein, es kostete nichts. Ihre Augen leuchteten. "Schön' Dank, guter Mann!
Ach, wird der Vater schauen!"
Hand in Hand, Lisei mit ihrem Päckchen unter dem Arm, verließen wir den
Laden; als wir aber in die Nähe unserer Wohnung kamen, ließ sie mich los
und rannte über die Straße nach der Schneiderherberge, daß ihr die
schwarzen Flechten in den Nacken flogen.--Nach dem Mittagessen stand ich
vor unserer Haustür und erwog unter Herzklopfen das Wagnis, schon heute
zur ersten Vorstellung meinen Vater um das Eintrittsgeld anzugehen; ich
war ja mit der Galerie zufrieden, und sie sollte für uns Jungens nur einen
Doppeltschilling kosten. Da, bevor ich's noch bei mir ins reine gebracht
hatte, kam das Lisei über die Straße zu mir hergeflogen. "Der Vater
schickt's!" sagte sie, und eh ich mich's versah, war sie wieder fort; aber
in meiner Hand hielt ich eine rote Karte, darauf stand mit großen
Buchstaben: Erster Platz.
Als ich aufblickte, winkte auch von drüben der kleine schwarze Mann mit
beiden Armen aus der Bodenluke zu mir herüber. Ich nickte ihm zu; was
mußten das für nette Leute sein, diese Puppenspieler! "Also heute abend",
sagte ich zu mir selber, "heute abend und--Erster Platz!"
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Du kennst unsern Schützenhof in der
Süderstraße; auf der Haustür sah man damals noch einen schön gemalten
Schützen in Lebensgröße, mit Federhut und Büchse; im übrigen war aber der
alte Kasten damals noch baufälliger, als er heute ist. Die Gesellschaft
war bis auf drei Mitglieder herabgesunken; die vor Jahrhunderten von den
alten Landesherzögen geschenkten silbernen Pokale, Pulverhörner und
Ehrenketten waren nach und nach verschleudert; den großen Garten, der, wie
du weißt, auf den Bürgersteig hinausläuft, hatte man zur Schaf- und
Ziegengräsung verpachtet. Das alte zweistöckige Haus wurde von niemandem
weder bewohnt noch gebraucht; windrissig und verfallen stand es da
zwischen den munteren Nachbarhäusern; nur in dem öden weißgekalkten Saale,
der fast das ganze obere Stockwerk einnahm, produzierten mitunter starke
Männer oder durchreisende Taschenspieler ihre Künste. Dann wurde unten
die große Haustür mit dem gemalten Schützenbruder knarrend aufgeschlossen.
--Langsam war es Abend geworden; und--das Ende trug die Last, denn mein
Vater wollte mich erst fünf Minuten vor dem angesetzten Glockenschlage
laufen lassen; er meinte, eine Übung in der Geduld sei sehr vonnöten,
damit ich im Theater stillesitze.
Endlich war ich an Ort und Stelle. Die große Tür stand offen, und
allerlei Leute wanderten hinein; denn derzeit ging man noch gern zu
solchen Vergnügungen; nach Hamburg war eine weite Reise, und nur wenige
hatten sich die kleinen Dinge zu Hause durch die dort zu schauenden
Herrlichkeiten leid machen können.--Als ich die eichene Wendeltreppe
hinaufgestiegen war, fand ich Liseis Mutter am Eingange des Saales an der
Kasse sitzen. Ich näherte mich ihr ganz vertraulich und dachte, sie würde
mich so recht als einen alten Bekannten begrüßen; aber sie saß stumm und
starr und nahm mir meine Karte ab, als wenn ich nicht die geringste
Beziehung zu ihrer Familie hätte.--Etwas gedemütigt trat ich in den Saal;
der kommenden Dinge harrend, plauderte alles mit halber Stimme
durcheinander; dazu fiedelte unser Stadtmusikus mit drei seiner Gesellen.
Das erste, worauf meine Augen fielen, war in der Tiefe des Saales ein
roter Vorhang oberhalb der Musikantenplätze. Die Malerei in der Mitte
desselben stellte zwei lange Trompeten vor, die kreuzweise über einer
goldenen Leier lagen; und, was mir damals sehr sonderbar erschien, an dem
Mundstück einer jeden hing, wie mit den leeren Augen daraufgeschoben, hier
eine finster, dort eine lachend ausgeprägte Maske.--Die drei vordersten
Plätze waren schon besetzt; ich drängte mich in die vierte Bank, wo ich
einen Schulkameraden bemerkt hatte, der dort neben seinen Eltern saß.
Hinter uns bauten sich die Plätze schräg ansteigend in die Höhe, so daß
der letzte, die sogenannte Galerie, welche nur zum Stehen war, sich fast
mannshoch über dem Fußboden befinden mochte. Auch dort schien es
wohlgefüllt zu sein; genau vermochte ich es nicht zu sehen, denn die
wenigen Talglichter, welche in Blechlampetten an den beiden Seitenwänden
brannten, verbreiteten nur eine schwache Helligkeit; auch dunkelte die
schwere Balkendecke des Saales. Mein Nachbar wollte mir eine
Schulgeschichte erzählen; ich begriff nicht, wie er an so etwas denken
konnte, ich schaute nur auf den Vorhang, der von den Lampen des Podiums
und der Musikantenpulte feierlich beleuchtet war. Und jetzt ging ein
Wehen über seine Fläche, die geheimnisvolle Welt hinter ihm begann sich
schon zu regen; noch einen Augenblick, da erscholl das Läuten eines
Glöckchens, und während unter den Zuschauern das summende Geplauder wie
mit einem Schlage verstummte, flog der Vorhang in die Höhe.--Ein Blick auf
die Bühne versetzte mich um tausend Jahre rückwärts. Ich sah in einen
mittelalterlichen Burghof mit Turm und Zugbrücke; zwei kleine ellenlange
Leute standen in der Mitte und redeten lebhaft miteinander. Der eine mit
dem schwarzen Barte, dem silbernen Federhelm und dem goldgestickten Mantel
über dem roten Unterkleide war der Pfalzgraf Siegfried; er wollte gegen
die heidnischen Mohren in den Krieg reiten und befahl seinem jungen
Hausmeister Golo, der in blauem silbergesticktem Wamse neben ihm stand,
zum Schutze der Pfalzgräfin Genoveva in der Burg zurückzubleiben. Der
treulose Golo aber tat gewaltig wild, daß er seinen guten Herrn so allein
in das grimme Schwerterspiel sollte reiten lassen. Sie drehten bei diesen
Wechselreden die Köpfe hin und her und fochten heftig und ruckweise mit
den Armen.--Da tönten kleine langgezogene Trompetentöne von draußen hinter
der Zugbrücke, und zugleich kam auch die schöne Genoveva in himmelblauem
Schleppkleide hinter dem Turm hervorgestürzt und schlug beide Arme über
des Gemahls Schultern: "Oh, mein herzallerliebster Siegfried, wenn dich
die grausamen Heiden nur nicht massakrieren!" Aber es half ihr nichts;
noch einmal ertönten die Trompeten, und der Graf schritt steif und
würdevoll über die Zugbrücke aus dem Hofe; man hörte deutlich draußen den
Abzug des gewappneten Trupps. Der böse Golo war jetzt Herr der Burg.-Und
nun spielte das Stück sich weiter, wie es in deinem Lesebuch gedruckt
steht.--Ich war auf meiner Bank ganz wie verzaubert; diese seltsamen
Bewegungen, diese feinen oder schnurrenden Puppenstimmchen, die denn doch
wirklich aus ihrem Munde kamen--es war ein unheimliches Leben in diesen
kleinen Figuren, das gleichwohl meine Augen wie magnetisch auf sich zog.
Im zweiten Aufzuge aber sollte es noch besser kommen.--Da war unter den
Dienern auf der Burg einer im gelben Nankinganzug, der hieß Kasperl. Wenn
dieser Bursche nicht lebendig war, so war noch niemals etwas lebendig
gewesen; er machte die ungeheuersten Witze, so daß der ganze Saal vor
Lachen bebte; in seiner Nase, die so groß wie eine Wurst war, mußte er
jedenfalls ein Gelenk haben; denn wenn er so sein dumm-pfiffiges Lachen
herausschüttelte, so schlenkerte der Nasenzipfel hin und her, als wenn
auch er sich vor Lustigkeit nicht zu lassen wüßte; dabei riß der Kerl
seinen großen Mund auf und knackte, wie eine alte Eule, mit den
Kinnbacksknochen. "Pardauz!" schrie es; so kam er immer auf die Bühne
gesprungen; dann stellte er sich hin und sprach erst bloß mit seinem
großen Daumen; den konnte er so ausdrucksvoll hin und wider drehen, daß es
ordentlich ging wie "Hier nix und da nix! Kriegst du nix, so hast du nix!"
Und dann sein Schielen;--das war so verführerisch, daß im Augenblick dem
ganzen Publikum die Augen verquer im Kopfe standen. Ich war ganz vernarrt
in den lieben Kerl!
Endlich war das Spiel zu Ende, und ich saß wieder zu Hause in unserer
Wohnstube und verzehrte schweigend das Aufgebratene, das meine gute Mutter
mir warm gestellt hatte. Mein Vater saß im Lehnstuhl und rauchte seine
Abendpfeife. "Nun, Junge", rief er, "waren sie lebendig?"
"Ich weiß nicht, Vater", sagte ich und arbeitete weiter in meiner Schüssel;
mir war noch ganz verwirrt zu Sinne.
Er sah mir eine Weile mit seinem klugen Lächeln zu. "Höre, Paul", sagte
er dann, "du darfst nicht zu oft in diesen Puppenkasten; die Dinger
könnten dir am Ende in die Schule nachlaufen."
Mein Vater hatte nicht unrecht. Die Algebraaufgaben gerieten mir in den
beiden nächsten Tagen so mäßig, daß der Rechenmeister mich von meinem
ersten Platz herabzusetzen drohte.--Wenn ich in meinem Kopfe rechnen
wollte: "a + b gleich x = c", so hörte ich statt dessen vor meinen Ohren
die feine Vogelstimme der schönen Genoveva: "Ach, mein herzallerliebster
Siegfried, wenn dich die bösen Heiden nur nicht massakrieren!"
Einmal--aber es hat niemand gesehen--schrieb ich sogar "x + Genoveva" auf
die Tafel.--Des Nachts in meiner Schlafkammer rief es einmal ganz laut
"Pardauz", und mit einem Satz kam der liebe Kasperl in seinem Nankinganzug
zu mir ins Bett gesprungen, stemmte seine Arme zu beiden Seiten meines
Kopfes in das Kissen und rief, grinsend auf mich herabnickend: "Ach, du
liebs Brüderl! Ach, du hertausig liebs Brüderl!" Dabei hackte er mir mit
seiner langen roten Nase in die meine, daß ich davon erwachte. Da sah ich
denn freilich, daß es nur ein Traum gewesen war.
Ich verschloß das alles in meinem Herzen und wagte zu Hause kaum den Mund
aufzutun von der Puppenkomödie. Als aber am nächsten Sonntag der Ausrufer
wieder durch die Straßen ging, an sein Becken schlug und laut verkündigte:
"Heute abend auf dem Schützenhof: Doktor Fausts Höllenfahrt, Puppenspiel
in vier Aufzügen!"--da war es doch nicht länger auszuhalten. Wie die
Katze um den heißen Brei, so schlich ich um meinen Vater herum, und
endlich hatte er meinen stummen Blick verstanden.--"Pole", sagte er, "es
könnte dir ein Tropfen Blut vom Herzen gehen; vielleicht ist's die beste
Kur, dich einmal gründlich satt zu machen." Damit langte er in die
Westentasche und gab mir einen Doppeltschilling.
Ich rannte sofort aus dem Hause; erst auf der Straße wurde es mir klar,
daß ja noch acht lange Stunden bis zum Anfang der Komödie abzuleben waren.
So lief ich denn hinter den Gärten auf den Bürgersteig. Als ich an den
offenen Grasgarten des Schützenhofs gekommen war, zog es mich
unwillkürlich hinein; vielleicht, daß gar einige Puppen dort oben aus den
Fenstern guckten; denn die Bühne lag ja an der Rückseite des Hauses. Aber
ich mußte dann erst durch den oberen Teil des Gartens, der mit Linden- und
Kastanienbäumen dicht bestanden war. Mir wurde etwas zag zumute; ich
wagte doch nicht weiter vorzudringen. Plötzlich erhielt ich von einem
großen, hier angepflockten Ziegenbock einen Stoß in den Rücken, daß ich um
zwanzig Schritte weiter flog. Das half; als ich mich umsah, stand ich
schon unter den Bäumen.
Es war ein trüber Herbsttag; einzelne gelbe Blätter sanken schon zur Erde;
über mir in der Luft schrien ein paar Strandvögel, die ans Haff
hinausflogen; kein Mensch war zu sehen noch zu hören. Langsam schritt ich
durch das Unkraut, das auf den Steigen wucherte, bis ich einen schmalen
Steinhof erreicht hatte, der den Garten von dem Hause trennte.--Richtig!
Dort von oben schauten zwei große Fenster in den Hof herab; aber hinter
den kleinen in Blei gefaßten Scheiben war es schwarz und leer, keine Puppe
war zu sehen. Ich stand eine Weile, mir wurde ganz unheimlich in der mich
rings umgebenden Stille.
Da sah ich, wie unten die schwere Hoftür von innen eine Handbreit geöffnet
wurde, und zugleich lugte auch ein schwarzes Köpfchen daraus hervor.
"Lisei!" rief ich.
Sie sah mich groß mit ihren dunklen Augen an. "B'hüt Gott!" sagte sie,
"hab i doch nit gewußt, was da außa rumkraxln tät! Wo kommst denn du
daher?"
"Ich?--Ich geh spazieren, Lisei!--Aber sag mir, spielt ihr denn schon
jetzt Komödie?"
Sie schüttelte lachend den Kopf.
"Aber, was machst du denn hier?" fragte ich weiter, indem ich über den
Steinhof zu ihr trat.
"I wart auf den Vater", sagte sie, "er ist ins Quartier, um Band und Nagel
zu holen, er macht's halt firti für heut abend."
"Bist du denn ganz allein hier, Lisei?"
--"O nei; du bist ja aa no da!"
"Ich meine", sagte ich, "ob nicht deine Mutter oben auf dem Saal ist?"
Nein, die Mutter saß in der Herberge und besserte die Puppenkleider aus;
das Lisei war hier ganz allein.
"Hör", begann ich wieder, "du könntest mir einen Gefallen tun; es ist
unter eueren Puppen einer, der heißt Kasperl; den möcht ich gar zu gern
einmal in der Nähe sehen."
"Den Wurstl meinst?" sagte Lisei und schien sich eine Weile zu bedenken.
"Nu, es ging scho; aber g'schwind mußt sein, eh denn der Vater wieder da
ist!"
Mit diesen Worten waren wir schon ins Haus getreten und liefen eilig die
steile Wendeltreppe hinauf.--Es war fast dunkel in dem großen Saale; denn
die Fenster, welche sämtlich nach dem Hofe hinaus lagen, waren von der
Bühne verdeckt; nur einzelne Lichtstreifen fielen durch die Spalten des
Vorhangs.
"Komm!" sagte Lisei und hob seitwärts an der Wand die dort aus einem
Teppich bestehende Verkleidung in die Höhe; wir schlüpften hindurch, und
da stand ich in dem Wundertempel.--Aber von der Rückseite betrachtet und
hier in der Tageshelle sah er ziemlich kläglich aus; ein Gerüst aus Latten
und Brettern, worüber einige buntbekleckste Leinwandstücke hingen; das war
der Schauplatz, auf welchem das Leben der heiligen Genoveva so täuschend
an mir vorübergegangen war.
Doch ich hatte mich zu früh beklagt; dort, an einem Eisendrahte, der von
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