Die Judenbuche - 1

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Annette von Droste-Hülshoff
Die Judenbuche
Mit 37 Zeichnungen von
Max Unold
[Illustration]
Im Insel-Verlag zu Leipzig

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig


[Illustration]
Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren
Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,
So fest, daß ohne Zittern sie den Stein
Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?
Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,
Zu wägen jedes Wort, das unvergessen
In junge Brust die zähen Wurzeln trieb,
Des Vorurteils geheimen Seelendieb?
Du Glücklicher, geboren und gehegt
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,
Leg hin die Wagschal, nimmer dir erlaubt!
Laß ruhn den Stein -- er trifft dein eignes Haupt!


[Illustration]
Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten
Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B., das, so
schlecht gebaut und rauchig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden
fesselt durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der grünen
Waldschlucht eines bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges.
Das Ländchen, dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen
Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein
fremdes Gesicht Aufsehen erregte und eine Reise von dreißig Meilen
selbst den Vornehmeren zum Ulysses seiner Gegend machte -- kurz, ein
Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den
Mängeln und Tugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie
nur in solchen Zuständen gedeihen.
[Illustration]
Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die
Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung
geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites
Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und
der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer,
denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach
ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene tat, was
ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich schien,
und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubigten
Urkunden nachzuschlagen. -- Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins
Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmütig
getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zu viel
teure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene sie nicht begreift. So
viel darf man indessen behaupten, daß die Form schwächer, der Kern
fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer
nach seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann
nie ganz zugrunde gehen, wogegen nichts seelentötender wirkt, als gegen
das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch nehmen.
Ein Menschenschlag, unruhiger und unternehmender als alle seine
Nachbarn, ließ in dem kleinen Staate, von dem wir reden, manches weit
greller hervortreten als anderswo unter gleichen Umständen. Holz- und
Jagdfrevel waren an der Tagesordnung, und bei den häufig vorfallenden
Schlägereien hatte sich jeder selbst seines zerschlagenen Kopfes zu
trösten. Da jedoch große und ergiebige Waldungen den Hauptreichtum des
Landes ausmachten, ward allerdings scharf über die Forsten gewacht, aber
weniger auf gesetzlichem Wege als in stets erneuten Versuchen, Gewalt
und List mit gleichen Waffen zu überbieten.
[Illustration]
Das Dorf B. galt für die hochmütigste, schlauste und kühnste Gemeinde
des ganzen Fürstentums. Seine Lage inmitten tiefer und stolzer
Waldeinsamkeit mochte schon früh den angeborenen Starrsinn der Gemüter
nähren; die Nähe eines Flusses, der in die See mündete und bedeckte
Fahrzeuge trug, groß genug, um Schiffbauholz bequem und sicher außer
Land zu führen, trug sehr dazu bei, die natürliche Kühnheit der
Holzfrevler zu ermutigen, und der Umstand, daß alles umher von Förstern
wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig
vorkommenden Scharmützeln der Vorteil meist auf seiten der Bauern blieb.
Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus in den schönen Mondnächten mit
ungefähr doppelt so viel Mannschaft jedes Alters, vom halbwüchsigen
Knaben bis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahrener
Leitbock den Zug mit gleich stolzem Bewußtsein anführte, wie er seinen
Sitz in der Gerichtsstube einnahm. Die Zurückgebliebenen horchten
sorglos dem allmählichen Verhallen des Knarrens und Stoßens der Räder
in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher Schuß,
ein schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder Braut
auffahren; kein anderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrauen kehrte
der Zug ebenso schweigend heim, die Gesichter glühend wie Erz, hier und
dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam, und
nach ein paar Stunden war die Umgegend voll von dem Mißgeschick eines
oder mehrerer Forstbeamten, die aus dem Walde getragen wurden,
zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig,
ihrem Berufe nachzukommen.
[Illustration]
In diesen Umgebungen ward Friedrich Mergel geboren, in einem Hause, das
durch die stolze Zugabe eines Rauchfangs und minder kleiner Glasscheiben
die Ansprüche seines Erbauers, sowie durch seine gegenwärtige
Verkommenheit die kümmerlichen Umstände des jetzigen Besitzers bezeugte.
Das frühere Geländer um Hof und Garten war einem vernachlässigten Zaune
gewichen, das Dach schadhaft, fremdes Vieh weidete auf den Triften,
fremdes Korn wuchs auf dem Acker zunächst am Hofe, und der Garten
enthielt außer ein paar holzigten Rosenstöcken aus besserer Zeit mehr
Unkraut als Kraut. Freilich hatten Unglücksfälle manches hiervon
herbeigeführt; doch war auch viel Unordnung und böse Wirtschaft im
Spiel. Friedrichs Vater, der alte Hermann Mergel, war in seinem
Junggesellenstande ein sogenannter ordentlicher Säufer, das heißt einer,
der nur an Sonn- und Festtagen in der Rinne lag und die Woche hindurch
so manierlich war wie ein anderer. So war denn auch seine Bewerbung um
ein recht hübsches und wohlhabendes Mädchen ihm nicht erschwert. Auf der
Hochzeit gings lustig zu. Mergel war gar nicht zu arg betrunken, und die
Eltern der Braut gingen abends vergnügt heim; aber am nächsten Sonntage
sah man die junge Frau schreiend und blutrünstig durchs Dorf zu den
Ihrigen rennen, alle ihre guten Kleider und neues Hausgerät im Stich
lassend. Das war freilich ein großer Skandal und Ärger für Mergel, der
allerdings Trostes bedurfte. So war denn auch am Nachmittage keine
Scheibe an seinem Hause mehr ganz, und man sah ihn noch bis spät in die
Nacht vor der Türschwelle liegen, einen abgebrochenen Flaschenhals von
Zeit zu Zeit zum Munde führend und sich Gesicht und Hände jämmerlich
zerschneidend. Die junge Frau blieb bei ihren Eltern, wo sie bald
verkümmerte und starb. Ob nun den Mergel Reue quälte oder Scham, genug,
er schien der Trostmittel immer bedürftiger und fing bald an, den
gänzlich verkommenen Subjekten zugezählt zu werden.
[Illustration]
Die Wirtschaft verfiel; fremde Mägde brachten Schimpf und Schaden; so
verging Jahr auf Jahr. Mergel war und blieb ein verlegener, zuletzt
ziemlich armseliger Witwer, bis er mit einem Male wieder als Bräutigam
auftrat. War die Sache an und für sich unerwartet, so trug die
Persönlichkeit der Braut noch dazu bei, die Verwunderung zu erhöhen.
Margret Semmler war eine brave, anständige Person, so in den Vierzigen,
in ihrer Jugend eine Dorfschönheit und noch jetzt als sehr klug und
wirtlich geachtet, dabei nicht unvermögend; und so mußte es jedem
unbegreiflich sein, was sie zu diesem Schritte getrieben. Wir glauben
den Grund eben in dieser ihrer selbstbewußten Vollkommenheit zu finden.
Am Abend vor der Hochzeit soll sie gesagt haben: »Eine Frau, die von
ihrem Manne übel behandelt wird, ist dumm oder taugt nicht: wenns mir
schlecht geht, so sagt, es liege an mir.« Der Erfolg zeigte leider, daß
sie ihre Kräfte überschätzt hatte. Anfangs imponierte sie ihrem Manne;
er kam nicht nach Haus oder kroch in die Scheune, wenn er sich
übernommen hatte; aber das Joch war zu drückend, um lange getragen zu
werden, und bald sah man ihn oft genug quer über die Gasse ins Haus
taumeln, hörte drinnen sein wüstes Lärmen und sah Margret eilends Tür
und Fenster schließen. An einem solchen Tage -- keinem Sonntage mehr --
sah man sie abends aus dem Hause stürzen, ohne Haube und Halstuch, das
Haar wild um den Kopf hängend, sich im Garten neben ein Krautbeet
niederwerfen und die Erde mit den Händen aufwühlen, dann ängstlich um
sich schauen, rasch ein Bündel Kräuter brechen und damit langsam wieder
dem Hause zugehen, aber nicht hinein, sondern in die Scheune. Es hieß,
an diesem Tage habe Mergel zuerst Hand an sie gelegt, obwohl das
Bekenntnis nie über ihre Lippen kam. -- Das zweite Jahr dieser
unglücklichen Ehe ward mit einem Sohne, man kann nicht sagen erfreut,
denn Margret soll sehr geweint haben, als man ihr das Kind reichte.
Dennoch, obwohl unter einem Herzen voll Gram getragen, war Friedrich ein
gesundes, hübsches Kind, das in der frischen Luft kräftig gedieh. Der
Vater hatte ihn sehr lieb, kam nie nach Hause, ohne ihm ein Stückchen
Wecken oder dergleichen mitzubringen, und man meinte sogar, er sei seit
der Geburt des Knaben ordentlicher geworden; wenigstens ward der Lärmen
im Hause geringer.
[Illustration]
Friedrich stand in seinem neunten Jahre. Es war um das Fest der heiligen
drei Könige, eine harte, stürmische Winternacht. Hermann war zu einer
Hochzeit gegangen und hatte sich schon beizeiten auf den Weg gemacht, da
das Brauthaus dreiviertel Meilen entfernt lag. Obgleich er versprochen
hatte, abends wiederzukommen, rechnete Frau Mergel doch um so weniger
darauf, da sich nach Sonnenuntergang dichtes Schneegestöber eingestellt
hatte. Gegen zehn Uhr schürte sie die Asche am Herde zusammen und machte
sich zum Schlafengehen bereit. Friedrich stand neben ihr, schon halb
entkleidet, und horchte auf das Geheul des Windes und das Klappen der
Bodenfenster.
»Mutter, kommt der Vater heute nicht?« fragte er. --
»Nein, Kind, morgen.« -- »Aber warum nicht, Mutter? Er hats doch
versprochen.« --
[Illustration]
»Ach Gott, wenn der alles hielte, was er verspricht! Mach, mach voran,
daß du fertig wirst.«
Sie hatten sich kaum niedergelegt, so erhob sich eine Windsbraut, als ob
sie das Haus mitnehmen wollte. Die Bettstatt bebte, und im Schornstein
rasselte es wie ein Kobold. -- »Mutter -- es pocht draußen!« -- »Still,
Fritzchen, das ist das lockere Brett im Giebel, das der Wind jagt.« --
»Nein, Mutter, an der Tür!« -- »Sie schließt nicht; die Klinke ist
zerbrochen. Gott, schlaf doch! bring mich nicht um das armselige
bißchen Nachtruhe.« -- »Aber wenn nun der Vater kommt?« -- Die Mutter
drehte sich heftig im Bett um. -- »Den hält der Teufel fest genug!« --
»Wo ist der Teufel, Mutter?« -- »Wart, du Unrast! er steht vor der Tür
und will dich holen, wenn du nicht ruhig bist!«
Friedrich ward still; er horchte noch ein Weilchen und schlief dann ein.
Nach einigen Stunden erwachte er. Der Wind hatte sich gewendet und
zischte jetzt wie eine Schlange durch die Fensterritze an seinem Ohr.
Seine Schulter war erstarrt; er kroch tief unters Deckbett und lag aus
Furcht ganz still. Nach einer Weile bemerkte er, daß die Mutter auch
nicht schlief. Er hörte sie weinen und mitunter: »Gegrüßt seist du,
Maria!« und »Bitte für uns arme Sünder!« Die Kügelchen des Rosenkranzes
glitten an seinem Gesicht hin. -- Ein unwillkürlicher Seufzer entfuhr
ihm. -- »Friedrich, bist du wach?« -- »Ja, Mutter.« -- »Kind, bete ein
wenig -- du kannst ja schon das halbe Vaterunser --, daß Gott uns
bewahre vor Wasser- und Feuersnot.«
Friedrich dachte an den Teufel, wie der wohl aussehen möge. Das
mannigfache Geräusch und Getöse im Hause kam ihm wunderlich vor. Er
meinte, es müsse etwas Lebendiges drinnen sein und draußen auch. »Hör,
Mutter, gewiß, da sind Leute, die pochen.« -- »Ach nein, Kind; aber es
ist kein altes Brett im Hause, das nicht klappert.« -- »Hör! hörst du
nicht? es ruft! hör doch!«
Die Mutter richtete sich auf; das Toben des Sturms ließ einen Augenblick
nach. Man hörte deutlich an den Fensterläden pochen und mehrere Stimmen:
»Margret! Frau Margret, heda, aufgemacht!« -- Margret stieß einen
heftigen Laut aus: »Da bringen sie mir das Schwein wieder!«
Der Rosenkranz flog klappernd auf den Brettstuhl, die Kleider wurden
herbeigerissen. Sie fuhr zum Herde, und bald darauf hörte Friedrich sie
mit trotzigen Schritten über die Tenne gehen. Margret kam gar nicht
wieder; aber in der Küche war viel Gemurmel und fremde Stimmen. Zweimal
kam ein fremder Mann in die Kammer und schien ängstlich etwas zu suchen.
Mit einem Male ward eine Lampe hereingebracht. Zwei Männer führten die
Mutter. Sie war weiß wie Kreide und hatte die Augen geschlossen.
Friedrich meinte, sie sei tot; er erhob ein fürchterliches Geschrei,
worauf ihm jemand eine Ohrfeige gab, was ihn zur Ruhe brachte, und nun
begriff er nach und nach aus den Reden der Umstehenden, daß der Vater
vom Ohm Franz Semmler und dem Hülsmeyer tot im Holze gefunden sei und
jetzt in der Küche liege.
Sobald Margret wieder zur Besinnung kam, suchte sie die fremden Leute
loszuwerden. Der Bruder blieb bei ihr, und Friedrich, dem bei strenger
Strafe im Bett zu bleiben geboten war, hörte die ganze Nacht hindurch
das Feuer in der Küche knistern und ein Geräusch wie von Hin- und
Herrutschen und Bürsten. Gesprochen ward wenig und leise, aber zuweilen
drangen Seufzer herüber, die dem Knaben, so jung er war, durch Mark und
Bein gingen. Einmal verstand er, daß der Oheim sagte: »Margret, zieh dir
das nicht zu Gemüt; wir wollen jeder drei Messen lesen lassen, und um
Ostern gehen wir zusammen eine Bittfahrt zur Mutter Gottes von Werl.«
Als nach zwei Tagen die Leiche fortgetragen wurde, saß Margret am Herde,
das Gesicht mit der Schürze verhüllend. Nach einigen Minuten, als alles
still geworden war, sagte sie in sich hinein: »Zehn Jahre, zehn Kreuze.
Wir haben sie doch zusammen getragen, und jetzt bin ich allein!« dann
lauter: »Fritzchen, komm her!« --
[Illustration]
Friedrich kam scheu heran; die Mutter war ihm ganz unheimlich geworden
mit den schwarzen Bändern und den verstörten Zügen. »Fritzchen,« sagte
sie, »willst du jetzt auch fromm sein, daß ich Freude an dir habe, oder
willst du unartig sein und lügen, oder saufen und stehlen?« -- »Mutter,
Hülsmeyer stiehlt.« -- »Hülsmeyer? Gott bewahre! Soll ich dir auf den
Rücken kommen? Wer sagt dir so schlechtes Zeug?« -- »Er hat neulich den
Aaron geprügelt und ihm sechs Groschen genommen.« -- »Hat er dem Aaron
Geld genommen, so hat ihn der verfluchte Jude gewiß zuvor darum
betrogen. Hülsmeyer ist ein ordentlicher, angesessener Mann, und die
Juden sind alle Schelme.« »Aber, Mutter, Brandis sagt auch, daß er Holz
und Rehe stiehlt.« -- »Kind, Brandis ist ein Förster.« -- »Mutter, lügen
die Förster?«
Margret schwieg eine Weile; dann sagte sie: »Höre, Fritz, das Holz läßt
unser Herrgott frei wachsen, und das Wild wechselt aus eines Herren
Lande in das andere; die können niemandem gehören. Doch das verstehst du
noch nicht; jetzt geh in den Schuppen und hole mir Reisig.«
Friedrich hatte seinen Vater auf dem Stroh gesehen, wo er, wie man sagt,
blau und fürchterlich ausgesehen haben soll. Aber davon erzählte er nie
und schien ungern daran zu denken. Überhaupt hatte die Erinnerung an
seinen Vater eine mit Grausen gemischte Zärtlichkeit in ihm
zurückgelassen, wie denn nichts so fesselt wie die Liebe und Sorgfalt
eines Wesens, das gegen alles übrige verhärtet scheint, und bei
Friedrich wuchs dieses Gefühl mit den Jahren, durch das Gefühl mancher
Zurücksetzung von seiten anderer. Es war ihm äußerst empfindlich, wenn,
solange er Kind war, jemand des Verstorbenen nicht allzu löblich
gedachte; ein Kummer, den ihm das Zartgefühl der Nachbarn nicht
ersparte. Es ist gewöhnlich in jenen Gegenden, den Verunglückten die
Ruhe im Grabe abzusprechen. Der alte Mergel war das Gespenst des
Brederholzes geworden; einen Betrunkenen führte er als Irrlicht bei
einem Haar in den Zellerkolk (Teich); die Hirtenknaben, wenn sie nachts
bei ihren Feuern kauerten und die Eulen in den Gründen schrien, hörten
zuweilen in abgebrochenen Tönen ganz deutlich dazwischen sein »Hör mal
an, feins Lieseken«, und ein unprivilegierter Holzhauer, der unter der
breiten Eiche eingeschlafen und dem es darüber Nacht geworden war, hatte
beim Erwachen sein geschwollenes blaues Gesicht durch die Zweige
lauschen sehen. Friedrich mußte von andern Knaben vieles darüber hören;
dann heulte er, schlug um sich, stach auch einmal mit seinem Messerchen
und wurde bei dieser Gelegenheit jämmerlich geprügelt. Seitdem trieb er
seiner Mutter Kühe allein an das andere Ende des Tales, wo man ihn oft
stundenlang in derselben Stellung im Grase liegen und den Thymian aus
dem Boden rupfen sah.
[Illustration]
Er war zwölf Jahre alt, als seine Mutter einen Besuch von ihrem jüngern
Bruder erhielt, der in Brede wohnte und seit der törichten Heirat seiner
Schwester ihre Schwelle nicht betreten hatte.
Simon Semmler war ein kleiner, unruhiger, magerer Mann mit vor dem Kopf
liegenden Fischaugen und überhaupt einem Gesicht wie ein Hecht, ein
unheimlicher Geselle, bei dem dicktuende Verschlossenheit oft mit ebenso
gesuchter Treuherzigkeit wechselte, der gern einen aufgeklärten Kopf
vorgestellt hätte und statt dessen für einen fatalen, Händel suchenden
Kerl galt, dem jeder um so lieber aus dem Wege ging, je mehr er in das
Alter trat, wo ohnehin beschränkte Menschen leicht an Ansprüchen
gewinnen, was sie an Brauchbarkeit verlieren. Dennoch freute sich die
arme Margret, die sonst keinen der Ihrigen mehr am Leben hatte.
»Simon, bist du da?« sagte sie und zitterte, daß sie sich am Stuhle
halten mußte. »Willst du sehen, wie es mir geht und meinem schmutzigen
Jungen?« -- Simon betrachtete sie ernst und reichte ihr die Hand: »Du
bist alt geworden, Margret!« -- Margret seufzte: »Es ist mir derweil oft
bitterlich gegangen mit allerlei Schicksalen.« -- »Ja, Mädchen, zu spät
gefreit, hat immer gereut! Jetzt bist du alt, und das Kind ist klein.
Jedes Ding hat seine Zeit. Aber wenn ein altes Haus brennt, dann hilft
kein Löschen.« -- Über Margrets vergrämtes Gesicht flog eine Flamme, so
rot wie Blut.
»Aber ich höre, dein Junge ist schlau und gewichst«, fuhr Simon fort.
-- »Ei nun, so ziemlich, und dabei fromm.« -- »Hum, 's hat mal einer eine
Kuh gestohlen, der hieß auch Fromm. Aber er ist still und nachdenklich,
nicht wahr? er läuft nicht mit den andern Buben?« -- »Er ist ein eigenes
Kind,« sagte Margret wie für sich; »es ist nicht gut.« -- Simon lachte
hellauf: »Dein Junge ist scheu, weil ihn die andern ein paarmal gut
durchgedroschen haben. Das wird ihnen der Bursche schon wieder bezahlen.
Hülsmeyer war neulich bei mir; der sagte, es ist ein Junge wie 'n Reh.«
[Illustration]
Welcher Mutter geht das Herz nicht auf, wenn sie ihr Kind loben hört?
Der armen Margret ward selten so wohl, jedermann nannte ihren Jungen
tückisch und verschlossen. Die Tränen traten ihr in die Augen. »Ja,
gottlob! er hat gerade Glieder.« -- »Wie sieht er aus?« fuhr Simon fort.
-- »Er hat viel von dir, Simon, viel.« -- Simon lachte: »Ei, das muß ein
rarer Kerl sein, ich werde alle Tage schöner. An der Schule soll er sich
wohl nicht verbrennen. Du läßt ihn die Kühe hüten? Ebenso gut. Es ist
doch nicht halb wahr, was der Magister sagt. Aber wo hütet er? Im
Telgengrund? im Roderholze? im Teutoburger Wald? auch des Nachts und
früh?« -- »Die ganzen Nächte durch; aber wie meinst du das?«
Simon schien dies zu überhören; er reckte den Hals zur Türe hinaus: »Ei,
da kommt der Gesell! Vaterssohn! er schlenkert geradeso mit den Armen
wie dein seliger Mann. Und schau mal an! wahrhaftig, der Junge hat meine
blonden Haare!«
In der Mutter Züge kam ein heimliches, stolzes Lächeln; ihres Friedrichs
blonde Locken und Simons rötliche Borsten! Ohne zu antworten, brach sie
einen Zweig von der nächsten Hecke und ging ihrem Sohne entgegen,
scheinbar eine träge Kuh anzutreiben, im Grunde aber, ihm einige rasche,
halb drohende Worte zuzuraunen; denn sie kannte seine störrische Natur,
und Simons Weise war ihr heute einschüchternder vorgekommen als je. Doch
ging alles über Erwarten gut; Friedrich zeigte sich weder verstockt noch
frech, vielmehr etwas blöde und sehr bemüht, dem Ohm zu gefallen. So kam
es denn dahin, daß nach einer halbstündigen Unterredung Simon eine Art
Adoption des Knaben in Vorschlag brachte, vermöge deren er denselben
zwar nicht gänzlich seiner Mutter entziehen, aber doch über den größten
Teil seiner Zeit verfügen wollte, wofür ihm dann am Ende des alten
Junggesellen Erbe zufallen solle, das ihm freilich ohnedies nicht
entgehen konnte. Margret ließ sich geduldig auseinandersetzen, wie groß
der Vorteil, wie gering die Entbehrung ihrerseits bei dem Handel sei.
Sie wußte am besten, was eine kränkliche Witwe an der Hilfe eines
zwölfjährigen Knaben entbehrt, den sie bereits gewöhnt hat, die Stelle
einer Tochter zu ersetzen. Doch sie schwieg und gab sich in alles. Nur
bat sie den Bruder, streng, doch nicht hart gegen den Knaben zu sein.
»Er ist gut,« sagte sie, »aber ich bin eine einsame Frau; mein Kind ist
nicht wie einer, über den Vaterhand regiert hat.« Simon nickte schlau
mit dem Kopf: »Laß mich nur gewähren, wir wollen uns schon vertragen,
und weißt du was? gib mir den Jungen gleich mit, ich habe zwei Säcke aus
der Mühle zu holen; der kleinste ist ihm grad recht, und so lernt er mir
zur Hand gehen. Komm, Fritzchen, zieh deine Holzschuh an!« -- Und bald
sah Margret den beiden nach, wie sie fortschritten, Simon voran, mit
seinem Gesicht die Luft durchschneidend, während ihm die Schöße des
roten Rocks wie Feuerflammen nachzogen. So hatte er ziemlich das Ansehen
eines feurigen Mannes, der unter dem gestohlenen Sacke büßt; Friedrich
ihm nach, fein und schlank für sein Alter, mit zarten, fast edlen Zügen
und langen blonden Locken, die besser gepflegt waren, als sein übriges
Äußere erwarten ließ; übrigens zerlumpt, sonneverbrannt und mit dem
Ausdruck der Vernachlässigung und einer gewissen rohen Melancholie in
den Zügen. Dennoch war eine große Familienähnlichkeit beider nicht zu
verkennen, und wie Friedrich so langsam seinem Führer nachtrat, die
Blicke fest auf denselben geheftet, der ihn gerade durch das Seltsame
seiner Erscheinung anzog, erinnerte er unwillkürlich an jemand, der in
einem Zauberspiegel das Bild seiner Zukunft mit verstörter
Aufmerksamkeit betrachtet.
Jetzt nahten die beiden sich der Stelle des Teutoburger Waldes, wo das
Brederholz den Abhang des Gebirges niedersteigt und einen sehr dunkeln
Grund ausfüllt. Bis jetzt war wenig gesprochen worden. Simon schien
nachdenkend, der Knabe zerstreut, und beide keuchten unter ihren
Säcken. Plötzlich fragte Simon: »Trinkst du gern Branntwein?« -- Der
Knabe antwortete nicht. »Ich frage, trinkst du gern Branntwein? gibt dir
die Mutter zuweilen welchen?« -- »Die Mutter hat selbst keinen«, sagte
Friedrich. -- »So, so, desto besser! -- Kennst du das Holz da vor uns?«
-- »Das ist das Brederholz.« -- »Weißt du auch, was darin vorgefallen
ist?« -- Friedrich schwieg. Indessen kamen sie der düstern Schlucht
immer näher.
[Illustration]
»Betet die Mutter noch so viel?« hob Simon wieder an. -- »Ja, jeden Abend
zwei Rosenkränze.« -- »So? und du betest mit?« -- Der Knabe lachte halb
verlegen mit einem durchtriebenen Seitenblick. -- »Die Mutter betet in
der Dämmerung vor dem Essen den einen Rosenkranz, dann bin ich meist
noch nicht wieder da mit den Kühen, und den andern im Bette, dann schlaf
ich gewöhnlich ein.« -- »So, so, Geselle!« --
Diese letzten Worte wurden unter dem Schirme einer weiten Buche
gesprochen, die den Eingang der Schlucht überwölbte. Es war jetzt ganz
finster; das erste Mondviertel stand am Himmel, aber seine schwachen
Schimmer dienten nur dazu, den Gegenständen, die sie zuweilen durch eine
Lücke der Zweige berührten, ein fremdartiges Ansehen zu geben. Friedrich
hielt sich dicht hinter seinem Ohm; sein Odem ging schnell, und wer
seine Züge hätte unterscheiden können, würde den Ausdruck einer
ungeheuren, doch mehr phantastischen als furchtsamen Spannung darin
wahrgenommen haben. So schritten beide rüstig voran, Simon mit dem
festen Schritt des abgehärteten Wanderers, Friedrich schwankend und wie
im Traum. Es kam ihm vor, als ob alles sich bewegte und die Bäume in den
einzelnen Mondstrahlen bald zusammen, bald voneinander schwankten.
Baumwurzeln und schlüpfrige Stellen, wo sich das Wegwasser gesammelt,
machten seinen Schritt unsicher; er war einige Male nahe daran, zu
fallen. Jetzt schien sich in einiger Entfernung das Dunkel zu brechen,
und bald traten beide in eine ziemlich große Lichtung. Der Mond schien
klar hinein und zeigte, daß hier noch vor kurzem die Axt unbarmherzig
gewütet hatte. Überall ragten Baumstümpfe hervor, manche mehrere Fuß
über der Erde, wie sie gerade in der Eile am bequemsten zu
durchschneiden gewesen waren; die verpönte Arbeit mußte unversehens
unterbrochen worden sein, denn eine Buche lag quer über dem Pfad, in
vollem Laube, ihre Zweige hoch über sich streckend und im Nachtwinde mit
den noch frischen Blättern zitternd. Simon blieb einen Augenblick stehen
und betrachtete den gefällten Stamm mit Aufmerksamkeit. In der Mitte der
Lichtung stand eine alte Eiche, mehr breit als hoch; ein blasser Strahl,
der durch die Zweige auf ihren Stamm fiel, zeigte, daß er hohl sei, was
ihn wahrscheinlich vor der allgemeinen Zerstörung geschützt hatte. Hier
ergriff Simon plötzlich des Knaben Arm.
»Friedrich, kennst du den Baum? Das ist die breite Eiche.« -- Friedrich
fuhr zusammen und klammerte sich mit kalten Händen an seinen Ohm.
»Sieh,« fuhr Simon fort, »hier haben Ohm Franz und der Hülsmeyer deinen
Vater gefunden, als er in der Betrunkenheit ohne Buße und Ölung zum
Teufel gefahren war.« -- »Ohm, Ohm!« keuchte Friedrich. -- »Was fällt
dir ein? Du wirst dich doch nicht fürchten? Satan von einem Jungen, du
kneipst mir den Arm! Laß los, los!« -- Er suchte den Knaben
abzuschütteln. -- »Dein Vater war übrigens eine gute Seele; Gott wirds
nicht so genau mit ihm nehmen. Ich hatte ihn so lieb wie meinen eigenen
Bruder.« -- Friedrich ließ den Arm seines Ohms los; beide legten
schweigend den übrigen Teil des Waldes zurück, und das Dorf Brede lag
vor ihnen mit seinen Lehmhütten und den einzelnen bessern Wohnungen von
Ziegelsteinen, zu denen auch Simons Haus gehörte.
Am nächsten Abend saß Margret schon seit einer Stunde mit ihrem Rocken
vor der Tür und wartete auf ihren Knaben. Es war die erste Nacht, die
sie zugebracht hatte, ohne den Atem ihres Kindes neben sich zu hören,
und Friedrich kam noch immer nicht. Sie war ärgerlich und ängstlich und
wußte, daß sie beides ohne Grund war. Die Uhr im Turm schlug sieben, das
Vieh kehrte heim; er war noch immer nicht da, und sie mußte aufstehen,
um nach den Kühen zu schauen. Als sie wieder in die dunkle Küche trat,
stand Friedrich am Herde; er hatte sich vornübergebeugt und wärmte die
Hände an den Kohlen. Der Schein spielte auf seinen Zügen und gab ihnen
ein widriges Ansehen von Magerkeit und ängstlichem Zucken. Margret
blieb in der Tennentür stehen, so seltsam verändert kam ihr das Kind
vor.
»Friedrich, wie gehts dem Ohm?« -- Der Knabe murmelte einige
unverständliche Worte und drängte sich dicht an die Feuermauer. --
»Friedrich, hast du das Reden verlernt? Junge, tu das Maul auf! du weißt
ja doch, daß ich auf dem rechten Ohr nicht gut höre.« -- Das Kind erhob
seine Stimme und geriet dermaßen in Stammeln, daß Margret es um nichts
mehr begriff. -- »Was sagst du? einen Gruß von Meister Semmler? wieder
fort? wohin? die Kühe sind schon zu Hause. Verfluchter Junge, ich kann
dich nicht verstehen. Wart, ich muß einmal sehen, ob du keine Zunge im
Munde hast!« -- Sie trat heftig einige Schritte vor. Das Kind sah zu ihr
auf mit dem Jammerblick eines armen, halbwüchsigen Hundes, der
Schildwacht stehen lernt, und begann in der Angst mit den Füßen zu
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