Die Judenbuche - 4

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Johannes Niemand, der arme, unbeachtete Johannes, am gleichen Tage mit
ihm. -- --
[Illustration]
Eine schöne lange Zeit war verflossen, achtundzwanzig Jahre, fast die
Hälfte eines Menschenlebens; der Gutsherr war sehr alt und grau
geworden, sein gutmütiger Gehilfe Kapp längst begraben. Menschen, Tiere
und Pflanzen waren entstanden, gereift, vergangen, nur Schloß B. sah
immer gleich grau und vornehm auf die Hütten herab, die wie alte
hektische Leute immer fallen zu wollen schienen und immer standen. Es
war am Vorabende des Weihnachtfestes, den 24. Dezember 1788. Tiefer
Schnee lag in den Hohlwegen, wohl an zwölf Fuß hoch, und eine
durchdringende Frostluft machte die Fensterscheiben in der geheizten
Stube gefrieren. Mitternacht war nahe, dennoch flimmerten überall matte
Lichtchen aus den Schneehügeln, und in jedem Hause lagen die Einwohner
auf den Knien, um den Eintritt des heiligen Christfestes mit Gebet zu
erwarten, wie dies in katholischen Ländern Sitte ist oder wenigstens
damals allgemein war. Da bewegte sich von der Breder Höhe herab eine
Gestalt langsam gegen das Dorf; der Wanderer schien sehr matt oder
krank; er stöhnte schwer und schleppte sich äußerst mühsam durch den
Schnee.
An der Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen
Krückenstab und starrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still
überall, so tot und kalt, man mußte an Irrlichter auf Kirchhöfen denken.
Nun schlug es zwölf im Turm; der letzte Schlag verdröhnte langsam, und
im nächsten Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause zu Hause
schwellend, sich über das ganze Dorf zog:
Ein Kindelein so löbelich
Ist uns geboren heute,
Von einer Jungfrau säuberlich,
Des freun sich alle Leute;
Und wär das Kindelein nicht geborn,
So wären wir alle zusammen verlorn:
Das Heil ist unser aller.
O du mein liebster Jesu Christ,
Der du als Mensch geboren bist,
Erlös uns von der Hölle!
Der Mann am Hange war in die Knie gesunken und versuchte mit zitternder
Stimme einzufallen; es ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und
schwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee. Die zweite Strophe begann;
er betete leise mit; dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt,
und die Lichter in den Häusern begannen sich zu bewegen. Da richtete der
Mann sich mühselig auf und schlich langsam hinab in das Dorf. An
mehreren Häusern keuchte er vorüber, dann stand er vor einem still und
pochte leise an.
»Was ist denn das?« sagte drinnen eine Frauenstimme, »die Türe klappert,
und der Wind geht doch nicht.« -- Er pochte stärker. -- »Um Gottes
willen, laßt einen halberfrorenen Menschen ein, der aus der türkischen
Sklaverei kommt!« -- Geflüster in der Küche. -- »Geht ins Wirtshaus,«
antwortete eine andere Stimme, »das fünfte Haus von hier!« -- »Um Gottes
Barmherzigkeit willen, laßt mich ein! ich habe kein Geld.« -- Nach
einigem Zögern ward die Tür geöffnet, und ein Mann leuchtete mit der
Lampe hinaus. -- »Kommt nur herein,« sagte er dann, »Ihr werdet uns den
Hals nicht abschneiden.«
[Illustration]
In der Küche befanden sich außer dem Manne eine Frau in den mittlern
Jahren, eine alte Mutter und fünf Kinder. Alle drängten sich um den
Eintretenden her und musterten ihn mit scheuer Neugier. Eine armselige
Figur! mit schiefem Halse, gekrümmtem Rücken, die ganze Gestalt
gebrochen und kraftlos; langes schneeweißes Haar hing um sein Gesicht,
das den verzogenen Ausdruck langen Leidens trug. Die Frau ging
schweigend an den Herd und legte frisches Reisig zu. -- »Ein Bett können
wir Euch nicht geben,« sagte sie; »aber ich will hier eine gute Streu
machen; Ihr müßt Euch schon so helfen.« -- »Gotts Lohn!« versetzte der
Fremde; »ich bins wohl schlechter gewohnt.« -- Der Heimgekehrte ward als
Johannes Niemand erkannt, und er selbst bestätigte, daß er derselbe sei,
der einst mit Friedrich Mergel entflohen.
[Illustration]
Das Dorf war am folgenden Tage voll von den Abenteuern des so lange
Verschollenen.
Jeder wollte den Mann aus der Türkei sehen, und man wunderte sich
beinahe, daß er noch aussehe wie andere Menschen. Das junge Volk hatte
zwar keine Erinnerungen von ihm, aber die Alten fanden seine Züge noch
ganz wohl heraus, so erbärmlich entstellt er auch war.
»Johannes, Johannes, was seid Ihr grau geworden!« sagte eine alte Frau.
»Und woher habt Ihr den schiefen Hals?« -- »Vom Holz- und Wassertragen
in der Sklaverei«, versetzte er. --
»Und was ist aus Mergel geworden? Ihr seid doch zusammen fortgelaufen?«
--
»Freilich wohl; aber ich weiß nicht, wo er ist, wir sind voneinander
gekommen. Wenn Ihr an ihn denkt, betet für ihn,« fügte er hinzu, »er
wird es wohl nötig haben.«
Man fragte ihn, warum Friedrich sich denn aus dem Staube gemacht, da er
den Juden doch nicht erschlagen? -- »Nicht?« sagte Johannes und horchte
gespannt auf, als man ihm erzählte, was der Gutsherr geflissentlich
verbreitet hatte, um den Fleck von Mergels Namen zu löschen. »Also ganz
umsonst,« sagte er nachdenkend, »ganz umsonst so viel ausgestanden!« Er
seufzte tief und fragte nun seinerseits nach manchem. Simon war lange
tot, aber zuvor noch ganz verarmt, durch Prozesse und böse Schuldner,
die er nicht gerichtlich belangen durfte, weil es, wie man sagte,
zwischen ihnen keine reine Sache war. Er hatte zuletzt Bettelbrot
gegessen und war in einem fremden Schuppen auf dem Stroh gestorben.
Margret hatte länger gelebt, aber in völliger Geistesstumpfheit. Die
Leute im Dorf waren es bald müde geworden, ihr beizustehen, da sie alles
verkommen ließ, was man ihr gab, wie es denn die Art der Menschen ist,
gerade die Hilflosesten zu verlassen, solche, bei denen der Beistand
nicht nachhaltig wirkt und die der Hilfe immer gleich bedürftig bleiben.
Dennoch hatte sie nicht eigentlich Not gelitten; die Gutsherrschaft
sorgte sehr für sie, schickte täglich das Essen und ließ ihr auch
ärztliche Behandlung zukommen, als ihr kümmerlicher Zustand in völlige
Abzehrung übergegangen war. In ihrem Hause wohnte jetzt der Sohn des
ehemaligen Schweinehirten, der an jenem Abende Friedrichs Uhr so sehr
bewundert hatte. --
»Alles hin, alles tot!« seufzte Johannes.
Am Abend, als es dunkel geworden war und der Mond schien, sah man ihn im
Schnee auf dem Kirchhofe umherhumpeln; er betete bei keinem Grabe, ging
auch an keines dicht hinan, aber auf einige schien er aus der Ferne
starre Blicke zu heften. So fand ihn der Förster Brandis, der Sohn des
Erschlagenen, den die Gutsherrschaft abgeschickt hatte, ihn ins Schloß
zu holen.
Beim Eintritt in das Wohnzimmer sah er scheu umher, wie vom Licht
geblendet, und dann auf den Baron, der sehr zusammengefallen in seinem
Lehnstuhl saß, aber noch immer mit den hellen Augen und dem roten
Käppchen auf dem Kopfe wie vor achtundzwanzig Jahren; neben ihm die
gnädige Frau, auch alt, sehr alt geworden.
»Nun, Johannes,« sagte der Gutsherr, »erzähl mir einmal recht ordentlich
von deinen Abenteuern. Aber,« er musterte ihn durch die Brille, »du bist
ja erbärmlich mitgenommen in der Türkei!« --
[Illustration]
Johannes begann: wie Mergel ihn nachts von der Herde abgerufen und
gesagt, er müsse mit ihm fort. -- »Aber warum lief der dumme Junge denn?
Du weißt doch, daß er unschuldig war?« -- Johannes sah vor sich nieder:
»Ich weiß nicht recht, mich dünkt, es war wegen Holzgeschichten. Simon
hatte so allerlei Geschäfte; mir sagte man nichts davon, aber ich
glaube nicht, daß alles war, wie es sein sollte.« -- »Was hat denn
Friedrich dir gesagt?« -- »Nichts, als daß wir laufen müßten, sie wären
hinter uns her. So liefen wir bis Heerse; da war es noch dunkel, und wir
versteckten uns hinter das große Kreuz am Kirchhofe, bis es etwas heller
würde, weil wir uns vor den Steinbrüchen am Zellerfelde fürchteten; und
wie wir eine Weile gesessen hatten, hörten wir mit einem Male über uns
schnauben und stampfen und sahen lange Feuerstrahlen in der Luft, gerade
über dem Heerser Kirchturm.
Wir sprangen auf und liefen, was wir konnten, in Gottes Namen geradeaus,
und wie es dämmerte, waren wir wirklich auf dem rechten Wege nach P.«
Johannes schien noch vor der Erinnerung zu schaudern, und der Gutsherr
dachte an seinen seligen Kapp und dessen Abenteuer am Heerser Hange. --
»Sonderbar!« lachte er, »so nah wart ihr einander! aber fahr fort.« --
Johannes erzählte nun, wie sie glücklich durch P. und über die Grenze
gekommen.
Von da an hatten sie sich als wandernde Handwerksbursche durchgebettelt
bis Freiburg im Breisgau. »Ich hatte meinen Brotsack bei mir,« sagte er,
»und Friedrich ein Bündelchen; so glaubte man uns.« -- In Freiburg
hatten sie sich von den Österreichern anwerben lassen: ihn hatte man
nicht gewollt, aber Friedrich bestand darauf. So kam er unter den Train.
»Den Winter über blieben wir in Freiburg,« fuhr er fort, »und es ging
uns ziemlich gut; mir auch, weil Friedrich mich oft erinnerte und mir
half, wenn ich etwas verkehrt machte. Im Frühling mußten wir
marschieren, nach Ungarn, und im Herbst ging der Krieg mit den Türken
los. Ich kann nicht viel davon nachsagen, denn ich wurde gleich in der
ersten Affäre gefangen und bin seitdem sechsundzwanzig Jahre in der
türkischen Sklaverei gewesen!« -- »Gott im Himmel! das ist doch
schrecklich!« sagte Frau von S. -- »Schlimm genug; die Türken halten uns
Christen nicht besser als Hunde; das schlimmste war, daß meine Kräfte
unter der harten Arbeit vergingen; ich ward auch älter und sollte noch
immer tun wie vor Jahren.«
Er schwieg eine Weile.
»Ja,« sagte er dann, »es ging über Menschenkräfte und Menschengeduld;
ich hielt es auch nicht aus. -- Von da kam ich auf ein holländisches
Schiff.« -- »Wie kamst du denn dahin?« fragte der Gutsherr. -- »Sie
fischten mich auf, aus dem Bosporus«, versetzte Johannes. Der Baron sah
ihn befremdet an und hob den Finger warnend auf; aber Johannes erzählte
weiter.
Auf dem Schiffe war es ihm nicht viel besser gegangen. »Der Skorbut riß
ein; wer nicht ganz elend war, mußte über Macht arbeiten, und das
Schiffstau regierte ebenso streng wie die türkische Peitsche.«
»Endlich,« schloß er, »als wir nach Holland kamen, nach Amsterdam, ließ
man mich frei, weil ich unbrauchbar war, und der Kaufmann, dem das
Schiff gehörte, hatte auch Mitleiden mit mir und wollte mich zu seinem
Pförtner machen. Aber« -- er schüttelte den Kopf -- »ich bettelte mich
lieber durch bis hieher.« -- »Das war dumm genug«, sagte der Gutsherr.
Johannes seufzte tief: »O Herr, ich habe mein Leben zwischen Türken und
Ketzern zubringen müssen, soll ich nicht wenigstens auf einem
katholischen Kirchhofe liegen?« Der Gutsherr hatte seine Börse gezogen:
»Da, Johannes, nun geh und komm bald wieder. Du mußt mir das alles noch
ausführlicher erzählen; heute ging es etwas konfus durcheinander. Du
bist wohl noch sehr müde?« -- »Sehr müde«, versetzte Johannes; »und«, er
deutete auf seine Stirn, »meine Gedanken sind zuweilen so kurios, ich
kann nicht recht sagen, wie es so ist.« -- »Ich weiß schon,« sagte der
Baron, »von alter Zeit her. Jetzt geh. Hülsmeyers behalten dich wohl
noch die Nacht über, morgen komm wieder.«
[Illustration]
Herr von S. hatte das innigste Mitleiden mit dem armen Schelm; bis zum
folgenden Tage war überlegt worden, wo man ihn einmieten könne; essen
sollte er täglich im Schlosse, und für Kleidung fand sich auch wohl Rat.
»Herr,« sagte Johannes, »ich kann auch noch wohl etwas tun; ich kann
hölzerne Löffel machen, und Ihr könnt mich auch als Boten schicken.«
Herr von S. schüttelte mitleidig den Kopf: »Das würde doch nicht
sonderlich ausfallen.« -- »O doch, Herr, wenn ich erst im Gange bin --
es geht nicht schnell, aber hin komme ich doch, und es wird mir auch
nicht so sauer, wie man denken sollte.« -- »Nun,« sagte der Baron
zweifelnd, »willst du's versuchen? Hier ist ein Brief nach P. Es hat
keine sonderliche Eile.«
Am folgenden Tage bezog Johannes sein Kämmerchen bei einer Witwe im
Dorfe.
Er schnitzelte Löffel, aß auf dem Schlosse und machte Botengänge für
den gnädigen Herrn. Im ganzen gings ihm leidlich; die Herrschaft war
sehr gütig, und Herr von S. unterhielt sich oft lange mit ihm über die
Türkei, den österreichischen Dienst und die See. --
»Der Johannes könnte viel erzählen,« sagte er zu seiner Frau, »wenn er
nicht so grundeinfältig wäre.« -- »Mehr tiefsinnig als einfältig,«
versetzte sie; »ich fürchte immer, er schnappt noch über.« »Ei bewahre,«
antwortete der Baron, »er war sein Leben lang ein Simpel; simple Leute
werden nie verrückt.«
Nach einiger Zeit blieb Johannes auf einem Botengange über Gebühr lange
aus. Die gute Frau von S. war sehr besorgt um ihn und wollte schon Leute
aussenden, als man ihn die Treppe heraufstelzen hörte. --
»Du bist lange ausgeblieben, Johannes,« sagte sie; »ich dachte schon, du
hättest dich im Brederholz verirrt.« -- »Ich bin durch den Föhrengrund
gegangen.« --
»Das ist ja ein weiter Umweg; warum gingst du nicht durchs Brederholz?«
--
Er sah trübe zu ihr auf: »Die Leute sagten mir, der Wald sei gefällt,
und jetzt seien so viele Kreuz- und Querwege darin, da fürchtete ich,
nicht wieder hinauszukommen. Ich werde alt und duselig«, fügte er
langsam hinzu. -- »Sahst du wohl,« sagte Frau von S. nachher zu ihrem
Manne, »wie wunderlich und quer er aus den Augen sah? Ich sage dir,
Ernst, das nimmt noch ein schlimmes Ende.«
Indessen nahte der September heran. Die Felder waren leer, das Laub
begann abzufallen, und mancher Hektische fühlte die Schere an seinem
Lebensfaden. Auch Johannes schien unter dem Einflusse des nahen
Äquinoktiums zu leiden; die ihn in diesen Tagen sahen, sagten, er habe
auffallend verstört ausgesehen und unaufhörlich leise mit sich selber
geredet, was er auch sonst mitunter tat, aber selten. Endlich kam er
eines Abends nicht nach Hause. Man dachte, die Herrschaft habe ihn
verschickt; am zweiten auch nicht; am dritten ward seine Hausfrau
ängstlich. Sie ging ins Schloß und fragte nach. -- »Gott bewahre,« sagte
der Gutsherr, »ich weiß nichts von ihm; aber geschwind den Jäger gerufen
und Försters Wilhelm! Wenn der armselige Krüppel«, setzte er bewegt
hinzu, »auch nur in einen trocknen Graben gefallen ist, so kann er nicht
wieder heraus. Wer weiß, ob er nicht gar eines von seinen schiefen
Beinen gebrochen hat! -- Nehmt die Hunde mit«, rief er den abziehenden
Jägern nach, »und sucht vor allem in den Gräben; seht in die
Steinbrüche!« rief er lauter.
[Illustration]
Die Jäger kehrten nach einigen Stunden heim; sie hatten keine Spur
gefunden. Herr von S. war in großer Unruhe. »Wenn ich mir denke, daß
einer so liegen muß wie ein Stein, und kann sich nicht helfen! Aber er
kann noch leben; drei Tage hälts ein Mensch wohl ohne Nahrung aus.« --
Er machte sich selbst auf den Weg; in allen Häusern wurde nachgefragt,
überall in die Hörner geblasen, gerufen, die Hunde zum Suchen angehetzt
-- umsonst! -- Ein Kind hatte ihn gesehen, wie er am Rande des
Brederholzes saß und an einem Löffel schnitzelte; »er schnitt ihn aber
ganz entzwei«, sagte das kleine Mädchen. Das war vor zwei Tagen gewesen.
Nachmittags fand sich wieder eine Spur: abermals ein Kind, das ihn an
der andern Seite des Waldes bemerkt hatte, wo er im Gebüsch gesessen,
das Gesicht auf den Knien, als ob er schliefe. Das war noch am vorigen
Tage. Es schien, er hatte sich immer um das Brederholz herumgetrieben.
»Wenn nur das verdammte Buschwerk nicht so dicht wäre! da kann keine
Seele hindurch«, sagte der Gutsherr. Man trieb die Hunde in den jungen
Schlag; man blies und hallote und kehrte endlich mißvergnügt heim, als
man sich überzeugt, daß die Tiere den ganzen Wald abgesucht hatten. --
»Laßt nicht nach! laßt nicht nach!« bat Frau von S.; »besser ein paar
Schritte umsonst, als daß etwas versäumt wird.« -- Der Baron war fast
ebenso beängstigt wie sie. Seine Unruhe trieb ihn sogar nach Johannes'
Wohnung, obwohl er sicher war, ihn dort nicht zu finden. Er ließ sich
die Kammer des Verschollenen aufschließen. Da stand sein Bett noch
ungemacht, wie er es verlassen hatte; dort hing sein guter Rock, den ihm
die gnädige Frau aus dem alten Jagdkleide des Herrn hatte machen lassen;
auf dem Tische ein Napf, sechs neue hölzerne Löffel und eine Schachtel.
Der Gutsherr öffnete sie; fünf Groschen lagen darin, sauber in Papier
gewickelt, und vier silberne Westenknöpfe; der Gutsherr betrachtete sie
aufmerksam. »Ein Andenken von Mergel«, murmelte er und trat hinaus,
denn ihm ward ganz beengt in dem dumpfen, engen Kämmerchen.
[Illustration]
Die Nachsuchungen wurden fortgesetzt, bis man sich überzeugt hatte,
Johannes sei nicht mehr in der Gegend, wenigstens nicht lebendig. So war
er denn zum zweitenmal verschwunden; ob man ihn wiederfinden würde --
vielleicht einmal nach Jahren seine Knochen in einem trockenen Graben?
Ihn lebend wiederzusehen, dazu war wenig Hoffnung, und jedenfalls nach
achtundzwanzig Jahren gewiß nicht.
Vierzehn Tage später kehrte der junge Brandis morgens von einer
Besichtigung seines Reviers durch das Brederholz heim. Es war ein für
die Jahreszeit ungewöhnlich heißer Tag; die Luft zitterte, kein Vogel
sang, nur die Raben krächzten langweilig aus den Ästen und hielten ihre
offenen Schnäbel der Luft entgegen. Brandis war sehr ermüdet. Bald nahm
er seine von der Sonne durchglühte Kappe ab, bald setzte er sie wieder
auf. Es war alles gleich unerträglich, das Arbeiten durch den kniehohen
Schlag sehr beschwerlich. Ringsumher kein Baum außer der Judenbuche.
Dahin strebte er denn auch aus allen Kräften und ließ sich todmatt auf
das beschattete Moos darunter nieder. Die Kühle zog so angenehm durch
seine Glieder, daß er die Augen schloß.
»Schändliche Pilze!« murmelte er halb im Schlaf. Es gibt nämlich in
jener Gegend eine Art sehr saftiger Pilze, die nur ein paar Tage stehen,
dann einfallen und einen unerträglichen Geruch verbreiten. Brandis
glaubte solche unangenehme Nachbarn zu spüren, er wandte sich ein
paarmal hin und her, mochte aber doch nicht aufstehen; sein Hund sprang
unterdessen umher, kratzte am Stamm der Buche und bellte hinauf. -- »Was
hast du da, Bello? eine Katze?« murmelte Brandis. Er öffnete die Wimper
halb, und die Judenschrift fiel ihm ins Auge, sehr ausgewachsen, aber
doch noch ganz erkenntlich. Er schloß die Augen wieder; der Hund fuhr
fort zu bellen und legte endlich seinem Herrn die kalte Schnauze ans
Gesicht. -- »Laß mich in Ruh! was hast du denn?« Hiebei sah Brandis, wie
er so auf dem Rücken lag, in die Höhe, sprang dann mit einem Satze auf
und wie besessen ins Gestrüpp hinein.
Totenbleich kam er auf dem Schlosse an: in der Judenbuche hänge ein
Mensch; er habe die Beine gerade über seinem Gesichte hängen sehen. --
»Und du hast ihn nicht abgeschnitten, Esel?« rief der Baron. --
»Herr,« keuchte Brandis, »wenn Euer Gnaden dagewesen wären, so wüßten
Sie wohl, daß der Mensch nicht mehr lebt. Ich glaubte anfangs, es seien
die Pilze!« Dennoch trieb der Gutsherr zur größten Eile und zog selbst
mit hinaus.
Sie waren unter der Buche angelangt. »Ich sehe nichts«, sagte Herr von
S. -- »Hierher müssen Sie treten, hierher, an diese Stelle.« --
Wirklich, dem war so: der Gutsherr erkannte seine eigenen abgetragenen
Schuhe. --
»Gott, es ist Johannes! -- Setzt die Leiter an! -- so -- nun herunter! --
sacht, sacht! laßt ihn nicht fallen! -- Lieber Himmel, die Würmer sind
schon daran! Macht dennoch die Schlinge auf und die Halsbinde.« -- Eine
breite Narbe ward sichtbar; der Gutsherr fuhr zurück. --
»Mein Gott!« sagte er; er beugte sich wieder über die Leiche,
betrachtete die Narbe mit großer Aufmerksamkeit und schwieg eine Weile
in tiefer Erschütterung.
Dann wandte er sich zu den Förstern: »Es ist nicht recht, daß der
Unschuldige für den Schuldigen leide; sagt es nur allen Leuten: der da«
-- er deutete auf den Toten -- »war Friedrich Mergel.« --
Die Leiche ward auf dem Schindanger verscharrt.
Dies hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September
des Jahrs 1789. --
Die hebräische Schrift an dem Baume heißt:
»Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir
getan hast.«
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