Die Judenbuche - 2

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stampfen und den Rücken an der Feuermauer zu reiben.
Margret stand still; ihre Blicke wurden ängstlich. Der Knabe erschien
ihr wie zusammengeschrumpft, auch seine Kleider waren nicht dieselben,
nein, das war ihr Kind nicht! und dennoch -- »Friedrich, Friedrich!«
rief sie.
In der Schlafkammer klappte eine Schranktür, und der Gerufene trat
hervor, in der einen Hand eine sogenannte Holzschenvioline, das heißt
einen alten Holzschuh, mit drei bis vier zerschabten Geigensaiten
überspannt, in der andern einen Bogen, ganz des Instruments würdig. So
ging er gerade auf sein verkümmertes Spiegelbild zu, seinerseits mit
einer Haltung bewußter Würde und Selbständigkeit, die in diesem
Augenblicke den Unterschied zwischen beiden sonst merkwürdig ähnlichen
Knaben stark hervortreten ließ.
»Da, Johannes!« sagte er und reichte ihm mit einer Gönnermiene das
Kunstwerk; »da ist die Violine, die ich dir versprochen habe. Mein
Spielen ist vorbei, ich muß jetzt Geld verdienen.« -- Johannes warf noch
einmal einen scheuen Blick auf Margret, streckte dann langsam seine Hand
aus, bis er das Dargebotene fest ergriffen hatte, und brachte es wie
verstohlen unter die Flügel seines armseligen Jäckchens.
Margret stand ganz still und ließ die Kinder gewähren. Ihre Gedanken
hatten eine andere, sehr ernste Richtung genommen, und sie blickte mit
unruhigem Auge von einem auf den andern. Der fremde Knabe hatte sich
wieder über die Kohlen gebeugt mit einem Ausdruck augenblicklichen
Wohlbehagens, der an Albernheit grenzte, während in Friedrichs Zügen der
Wechsel eines offenbar mehr selbstischen als gutmütigen Mitgefühls
spielte und sein Auge in fast glasartiger Klarheit zum ersten Male
bestimmt den Ausdruck jenes ungebändigten Ehrgeizes und Hanges zum
Großtun zeigte, der nachher als so starkes Motiv seiner meisten
Handlungen hervortrat.
Der Ruf seiner Mutter störte ihn aus Gedanken, die ihm ebenso neu als
angenehm waren. Sie saß wieder am Spinnrade.
»Friedrich,« sagte sie zögernd, »sag einmal --« und schwieg dann.
Friedrich sah auf und wandte sich, da er nichts weiter vernahm, wieder
zu seinem Schützling. -- »Nein, höre --« und dann leiser, »was ist das
für ein Junge? wie heißt er?« -- Friedrich antwortete ebenso leise: »Das
ist des Ohms Simon Schweinehirt, der eine Botschaft an den Hülsmeyer
hat. Der Ohm hat mir ein Paar Schuhe und eine Weste von Drillich
gegeben; die hat mir der Junge unterwegs getragen; dafür hab ich ihm
meine Violine versprochen; er ist ja doch ein armes Kind; Johannes heißt
er.« -- »Nun --?« sagte Margret. -- »Was willst du, Mutter?« -- »Wie
heißt er weiter?« -- »Ja -- weiter nicht -- oder warte -- doch: Niemand,
Johannes Niemand heißt er. -- Er hat keinen Vater«, fügte er leiser
hinzu.
Margret stand auf und ging in die Kammer. Nach einer Weile kam sie
heraus mit einem harten, finstern Ausdruck in den Mienen. »So,
Friedrich,« sagte sie, »laß den Jungen gehen, daß er seine Bestellung
machen kann. -- Junge, was liegst du da in der Asche? hast du zu Hause
nichts zu tun?« --
Der Knabe raffte sich mit der Miene eines Verfolgten so eilfertig auf,
daß ihm alle Glieder im Wege standen und die Holzschenvioline bei einem
Haar ins Feuer gefallen wäre.
»Warte, Johannes,« sagte Friedrich stolz, »ich will dir mein halbes
Butterbrot geben, es ist mir doch zu groß, die Mutter schneidet allemal
übers ganze Brot.« -- »Laß doch,« sagte Margret, »er geht ja nach
Hause.« -- »Ja, aber er bekommt nichts mehr; Ohm Simon ißt um sieben
Uhr.« Margret wandte sich zu dem Knaben: »Hebt man dir nichts auf?
Sprich, wer sorgt für dich!« -- »Niemand«, stotterte das Kind. --
»Niemand?« wiederholte sie; »da nimm, nimm!« fügte sie heftig hinzu; »du
heißt Niemand, und niemand sorgt für dich! Das sei Gott geklagt! Und nun
mach dich fort! Friedrich, geh nicht mit ihm, hörst du, geht nicht
zusammen durchs Dorf.« -- »Ich will ja nur Holz holen aus dem Schuppen«,
antwortete Friedrich. -- Als beide Knaben fort waren, warf sich Margret
auf einen Stuhl und schlug die Hände mit dem Ausdruck des tiefsten
Jammers zusammen. Ihr Gesicht war bleich wie ein Tuch. »Ein falscher
Eid, ein falscher Eid!« stöhnte sie. »Was ists? Simon, Simon, wie willst
du vor Gott bestehen!«
[Illustration]
So saß sie eine Weile, starr mit geklemmten Lippen, wie in völliger
Geistesabwesenheit. Friedrich stand vor ihr und hatte sie schon zweimal
angeredet. »Was ists? was willst du?« rief sie auffahrend. -- »Ich
bringe Euch Geld«, sagte er, mehr erstaunt als erschreckt. -- »Geld?
wo?« Sie regte sich, und die kleine Münze fiel klingend auf den Boden.
Friedrich hob sie auf. »Geld vom Ohm Simon, weil ich ihm habe arbeiten
helfen. Ich kann mir nun selber was verdienen.« -- »Geld vom Simon?
wirfs fort, fort! -- nein, gibs den Armen. Doch nein, behalts,«
flüsterte sie kaum hörbar; »wir sind selber arm. Wer weiß, ob wir bei
dem Betteln vorbeikommen!« -- »Ich soll Montag wieder zum Ohm und ihm
bei der Einsaat helfen.« -- »Du wieder zu ihm? nein, nein, nimmermehr!«
-- Sie umfaßte ihr Kind mit Heftigkeit. -- »Doch,« fügte sie hinzu, und
ein Tränenstrom stürzte ihr plötzlich über die eingefallenen Wangen;
»geh, er ist mein einziger Bruder, und die Verleumdung ist groß! Aber
halt Gott vor Augen und vergiß das tägliche Gebet nicht!«
Margret legte das Gesicht an die Mauer und weinte laut. Sie hatte manche
harte Last getragen, ihres Mannes üble Behandlung, noch schwerer seinen
Tod, und es war eine bittere Stunde, als die Witwe das letzte Stück
Ackerland einem Gläubiger zur Nutznießung überlassen mußte und der Pflug
vor ihrem Hause stillestand. Aber so war ihr nie zumute gewesen;
dennoch, nachdem sie einen Abend durchgeweint, eine Nacht durchwacht
hatte, war sie dahin gekommen, zu denken, ihr Bruder Simon könne so
gottlos nicht sein, der Knabe gehöre gewiß nicht ihm. Ähnlichkeiten
wollen nichts beweisen. Hatte sie doch selbst vor vierzig Jahren ein
Schwesterchen verloren, das genau dem fremden Hechelkrämer glich. Was
glaubt man nicht gern, wenn man so wenig hat und durch Unglauben dies
wenige verlieren soll!
Von dieser Zeit an war Friedrich selten mehr zu Hause. Simon schien alle
wärmern Gefühle, deren er fähig war, dem Schwestersohn zugewendet zu
haben; wenigstens vermißte er ihn sehr und ließ nicht nach mit
Botschaften, wenn ein häusliches Geschäft ihn auf einige Zeit bei der
Mutter hielt. Der Knabe war seitdem wie verwandelt, das träumerische
Wesen gänzlich von ihm gewichen, er trat fest auf, fing an, sein Äußeres
zu beachten und bald in den Ruf eines hübschen, gewandten Burschen zu
kommen. Sein Ohm, der nicht wohl ohne Projekte leben konnte, unternahm
mitunter ziemlich bedeutende öffentliche Arbeiten, zum Beispiel beim
Wegbau, wobei Friedrich für einen seiner besten Arbeiter und überall
als seine rechte Hand galt; denn obgleich dessen Körperkräfte noch nicht
ihr volles Maß erreicht hatten, kam ihm doch nicht leicht jemand an
Ausdauer gleich. Margret hatte bisher ihren Sohn nur geliebt, jetzt fing
sie an, stolz auf ihn zu werden und sogar eine Art Hochachtung vor ihm
zu fühlen, da sie den jungen Menschen so ganz ohne ihr Zutun sich
entwickeln sah, sogar ohne ihren Rat, den sie, wie die meisten Menschen,
für unschätzbar hielt, und deshalb die Fähigkeiten nicht hoch genug
anzuschlagen wußte, die eines so kostbaren Förderungsmittels entbehren
konnten.
[Illustration]
In seinem achtzehnten Jahre hatte Friedrich sich bereits einen
bedeutenden Ruf in der jungen Dorfwelt gesichert durch den Ausgang einer
Wette, infolge deren er einen erlegten Eber über zwei Meilen weit auf
seinem Rücken trug, ohne abzusetzen. Indessen war der Mitgenuß des Ruhms
auch so ziemlich der einzige Vorteil, den Margret aus diesen günstigen
Umständen zog, da Friedrich immer mehr auf sein Äußeres verwandte und
allmählich anfing, es schwer zu verdauen, wenn Geldmangel ihn zwang,
irgend jemand im Dorf darin nachzustehen. Zudem waren alle seine Kräfte
auf den auswärtigen Erwerb gerichtet; zu Hause schien ihm, ganz im
Widerspiel mit seinem sonstigen Rufe, jede anhaltende Beschäftigung
lästig, und er unterzog sich lieber einer harten, aber kurzen
Anstrengung, die ihm bald erlaubte, seinem frühern Hirtenamte wieder
nachzugehen, was bereits begann, seinem Alter unpassend zu werden, und
ihm gelegentlichen Spott zuzog, vor dem er sich aber durch ein paar
derbe Zurechtweisungen mit der Faust Ruhe verschaffte. So gewöhnte man
sich daran, ihn bald geputzt und fröhlich als anerkannten Dorfelegant an
der Spitze des jungen Volks zu sehen, bald wieder als zerlumpten
Hirtenbuben einsam und träumerisch hinter den Kühen herschleichend, oder
in einer Waldlichtung liegend, scheinbar gedankenlos und das Moos von
den Bäumen rupfend.
[Illustration]
Um diese Zeit wurden die schlummernden Gesetze doch einigermaßen
aufgerüttelt durch eine Bande von Holzfrevlern, die unter dem Namen der
Blaukittel alle ihre Vorgänger so weit an List und Frechheit übertraf,
daß es dem Langmütigsten zuviel werden mußte. Ganz gegen den
gewöhnlichen Stand der Dinge, wo man die stärksten Böcke der Herde mit
dem Finger bezeichnen konnte, war es hier trotz aller Wachsamkeit bisher
nicht möglich gewesen, auch nur ein Individuum namhaft zu machen. Ihre
Benennung erhielten sie von der ganz gleichförmigen Tracht, durch die
sie das Erkennen erschwerten, wenn etwa ein Förster noch einzelne
Nachzügler im Dickicht verschwinden sah. Sie verheerten alles wie die
Wanderraupe, ganze Waldstrecken wurden in einer Nacht gefällt und auf
der Stelle fortgeschafft, so daß man am andern Morgen nichts fand als
Späne und wüste Haufen von Topholz, und der Umstand, daß nie Wagenspuren
einem Dorfe zuführten, sondern immer vom Flusse her und dorthin zurück,
bewies, daß man unter dem Schutz und vielleicht mit dem Beistande der
Schiffeigentümer handelte. In der Bande mußten sehr gewandte Spione
sein, denn die Förster konnten wochenlang umsonst wachen; in der ersten
Nacht, gleichviel ob stürmisch oder mondhell, wo sie vor Übermüdung
nachließen, brach die Zerstörung ein. Seltsam war es, daß das Landvolk
umher ebenso unwissend und gespannt schien als die Förster selber.
Von einigen Dörfern ward mit Bestimmtheit gesagt, daß sie nicht zu den
Blaukitteln gehörten, aber keines konnte als dringend verdächtig
bezeichnet werden, seit man das verdächtigste von allen, das Dorf B.,
freisprechen mußte. Ein Zufall hatte dies bewirkt, eine Hochzeit, auf
der fast alle Bewohner dieses Dorfes notorisch die Nacht zugebracht
hatten, während zu ebendieser Zeit die Blaukittel eine ihrer stärksten
Expeditionen ausführten.
[Illustration]
Der Schaden in den Forsten war indes allzu groß, deshalb wurden die
Maßregeln dagegen auf eine bisher unerhörte Weise gesteigert; Tag und
Nacht wurde patrouilliert, Ackerknechte, Hausbediente mit Gewehren
versehen und den Forstbeamten zugesellt. Dennoch war der Erfolg nur
gering, und die Wächter hatten oft kaum das eine Ende des Forstes
verlassen, wenn die Blaukittel schon zum andern einzogen. Das währte
länger als ein volles Jahr, Wächter und Blaukittel, Blaukittel und
Wächter, wie Sonne und Mond, immer abwechselnd im Besitz des Terrains
und nie zusammentreffend.
[Illustration]
Es war im Juli 1756 früh um drei; der Mond stand klar am Himmel, aber
sein Glanz fing an zu ermatten, und im Osten zeigte sich bereits ein
schmaler gelber Streif, der den Horizont besäumte und den Eingang einer
engen Talschlucht wie mit einem Goldbande schloß. Friedrich lag im
Grase, nach seiner gewohnten Weise, und schnitzelte an einem
Weidenstabe, dessen knotigem Ende er die Gestalt eines ungeschlachten
Tieres zu geben versuchte. Er sah übermüdet aus, gähnte, ließ mitunter
seinen Kopf an einem verwitterten Stammknorren ruhen und Blicke,
dämmeriger als der Horizont, über den mit Gestrüpp und Aufschlag fast
verwachsenen Eingang des Grundes streifen. Ein paarmal belebten sich
seine Augen und nahmen den ihnen eigentümlichen glasartigen Glanz an,
aber gleich nachher schloß er sie wieder halb und gähnte und dehnte
sich, wie es nur faulen Hirten erlaubt ist. Sein Hund lag in einiger
Entfernung nah bei den Kühen, die, unbekümmert um die Forstgesetze,
ebensooft den jungen Baumspitzen als dem Grase zusprachen und in die
frische Morgenluft schnaubten.
Aus dem Walde drang von Zeit zu Zeit ein dumpfer, krachender Schall;
der Ton hielt nur einige Sekunden an, begleitet von einem langen Echo an
den Bergwänden, und wiederholte sich etwa alle fünf bis acht Minuten.
Friedrich achtete nicht darauf; nur zuweilen, wenn das Getöse
ungewöhnlich stark oder anhaltend war, hob er den Kopf und ließ seine
Blicke langsam über die verschiedenen Pfade gleiten, die ihren Ausgang
in dem Talgrunde fanden.
[Illustration]
Es fing bereits stark zu dämmern an; die Vögel begannen leise zu
zwitschern, und der Tau stieg fühlbar aus dem Grunde. Friedrich war an
dem Stamm hinabgeglitten und starrte, die Arme über den Kopf
verschlungen, in das leise einschleichende Morgenrot. Plötzlich fuhr er
auf: über sein Gesicht fuhr ein Blitz, er horchte einige Sekunden mit
vorgebeugtem Oberleib wie ein Jagdhund, dem die Luft Witterung zuträgt.
Dann schob er schnell zwei Finger in den Mund und pfiff gellend und
anhaltend. -- »Fidel, du verfluchtes Tier!« -- Ein Steinwurf traf die
Seite des unbesorgten Hundes, der, vom Schlafe aufgeschreckt, zuerst um
sich biß und dann heulend auf drei Beinen dort Trost suchte, von wo das
Übel ausgegangen war.
In demselben Augenblicke wurden die Zweige eines nahen Gebüsches fast
ohne Geräusch zurückgeschoben, und ein Mann trat heraus, im grünen
Jagdrock, den silbernen Wappenschild am Arm, die gespannte Büchse in der
Hand. Er ließ schnell seine Blicke über die Schlucht fahren und sie dann
mit besonderer Schärfe auf dem Knaben verweilen, trat dann vor, winkte
nach dem Gebüsch, und allmählich wurden sieben bis acht Männer sichtbar,
alle in ähnlicher Kleidung, Weidmesser im Gürtel und die gespannten
Gewehre in der Hand.
»Friedrich, was war das?« fragte der zuerst Erschienene. -- »Ich wollte,
daß der Racker auf der Stelle krepierte. Seinetwegen können die Kühe mir
die Ohren vom Kopf fressen.« -- »Die Kanaille hat uns gesehen«, sagte
ein anderer. --
»Morgen sollst du auf die Reise mit einem Stein am Halse«, fuhr
Friedrich fort und stieß nach dem Hunde. -- »Friedrich, stell dich nicht
an wie ein Narr! Du kennst mich und du verstehst mich auch!« -- Ein
Blick begleitete diese Worte, der schnell wirkte. -- »Herr Brandis,
denkt an meine Mutter!« -- »Das tu ich. Hast du nichts im Walde gehört?«
-- »Im Walde?« -- Der Knabe warf einen raschen Blick auf des Försters
Gesicht. -- »Eure Holzfäller, sonst nichts.« -- »Meine Holzfäller!«
Die ohnehin dunkle Gesichtsfarbe des Försters ging in tiefes Braunrot
über. »Wie viele sind ihrer, und wo treiben sie ihr Wesen?« -- »Wohin
Ihr sie geschickt habt; ich weiß es nicht.« -- Brandis wandte sich zu
seinen Gefährten: »Geht voran; ich komme gleich nach.«
[Illustration]
Als einer nach dem andern im Dickicht verschwunden war, trat Brandis
dicht vor den Knaben: »Friedrich,« sagte er mit dem Ton unterdrückter
Wut, »meine Geduld ist zu Ende; ich möchte dich prügeln wie einen Hund,
und mehr seid ihr auch nicht wert. Ihr Lumpenpack, dem kein Ziegel auf
dem Dach gehört! Bis zum Betteln habt ihr es, gottlob! bald gebracht,
und an meiner Tür soll deine Mutter, die alte Hexe, keine verschimmelte
Brotrinde bekommen. Aber vorher sollt ihr mir noch beide ins Hundeloch.«
Friedrich griff krampfhaft nach einem Aste. Er war totenbleich, und
seine Augen schienen wie Kristallkugeln aus dem Kopfe schießen zu
wollen. Doch nur einen Augenblick. Dann kehrte die größte, an
Erschlaffung grenzende Ruhe zurück. -- »Herr,« sagte er fest, mit fast
sanfter Stimme, »Ihr habt gesagt, was Ihr nicht verantworten könnt, und
ich vielleicht auch. Wir wollen es gegeneinander aufgehen lassen, und
nun will ich Euch sagen, was Ihr verlangt. Wenn Ihr die Holzfäller nicht
selbst bestellt habt, so müssen es die Blaukittel sein, denn aus dem
Dorfe ist kein Wagen gekommen; ich habe den Weg ja vor mir, und vier
Wagen sind es. Ich habe sie nicht gesehen, aber den Hohlweg hinauffahren
hören.« -- Er stockte einen Augenblick. --
»Könnt Ihr sagen, daß ich je einen Baum in Eurem Revier gefällt habe?
überhaupt, daß ich je anderwärts gehauen habe als auf Bestellung? Denkt
nach, ob Ihr das sagen könnt?«
Ein verlegenes Murmeln war die ganze Antwort des Försters, der nach Art
der meisten rauhen Menschen leicht bereute. Er wandte sich unwirsch und
schritt dem Gebüsche zu -- »Nein, Herr,« rief Friedrich, »wenn Ihr zu
den andern Förstern wollt, die sind dort an der Buche hinaufgegangen.«
-- »An der Buche?« sagte Brandis zweifelhaft, »nein, dort hinüber, nach
dem Mastergrunde.« -- »Ich sage Euch, an der Buche; des langen Heinrich
Flintenriemen blieb noch am krummen Ast dort hängen; ich habs ja
gesehen!«
[Illustration]
Der Förster schlug den bezeichneten Weg ein. Friedrich hatte die ganze
Zeit hindurch seine Stellung nicht verlassen; halb liegend, den Arm um
einen dürren Ast geschlungen, sah er dem Fortgehenden unverrückt nach,
wie er durch den halbverwachsenen Steig glitt, mit den vorsichtigen
weiten Schritten seines Metiers, so geräuschlos, wie ein Fuchs die
Hühnerstiege erklimmt. Hier sank ein Zweig hinter ihm, dort einer; die
Umrisse seiner Gestalt schwanden immer mehr. Da blitzte es noch einmal
durchs Laub. Es war ein Stahlknopf seines Jagdrocks; nun war er fort.
Friedrichs Gesicht hatte während dieses allmählichen Verschwindens den
Ausdruck seiner Kälte verloren, und seine Züge schienen zuletzt unruhig
bewegt. Gereute es ihn vielleicht, den Förster nicht um Verschweigung
seiner Angaben gebeten zu haben? Er ging einige Schritte voran, blieb
dann stehen. »Es ist zu spät«, sagte er vor sich hin und griff nach
seinem Hute. Ein leises Picken im Gebüsche, nicht zwanzig Schritte von
ihm. Es war der Förster, der den Flintenstein schärfte. Friedrich
horchte. -- »Nein!« sagte er dann mit entschlossenem Tone, raffte seine
Siebensachen zusammen und trieb das Vieh eilfertig die Schlucht entlang.
Um Mittag saß Frau Margret am Herd und kochte Tee. -- Friedrich war krank
heimgekommen, er klagte über heftige Kopfschmerzen und hatte auf ihre
besorgte Nachfrage erzählt, wie er sich schwer geärgert über den
Förster, kurz, den ganzen eben beschriebenen Vorgang, mit Ausnahme
einiger Kleinigkeiten, die er besser fand, für sich zu behalten. Margret
sah schweigend und trübe in das siedende Wasser. Sie war es wohl
gewohnt, ihren Sohn mitunter klagen zu hören, aber heute kam er ihr so
angegriffen vor wie sonst nie. Sollte wohl eine Krankheit im Anzuge
sein? Sie seufzte tief und ließ einen eben ergriffenen Holzblock fallen.
»Mutter!« rief Friedrich aus der Kammer. -- »Was willst du?« -- »War das
ein Schuß?« -- »Ach nein, ich weiß nicht, was du meinst.« -- »Es pocht
mir wohl nur so im Kopfe«, versetzte er. Die Nachbarin trat herein und
erzählte mit leisem Flüstern irgendeine unbedeutende Klatscherei, die
Margret ohne Teilnahme anhörte. Dann ging sie. --
»Mutter!« rief Friedrich. Margret ging zu ihm hinein. »Was erzählte die
Hülsmeyer?« -- »Ach gar nichts, Lügen, Wind!« -- Friedrich richtete sich
auf. -- »Von der Gretchen Siemers; du weißt ja wohl die alte Geschichte;
und ist doch nichts Wahres dran.« -- Friedrich legte sich wieder hin.
»Ich will sehen ob ich schlafen kann«, sagte er.
Margret saß am Herde; sie spann und dachte wenig Erfreuliches. Im Dorfe
schlug es halb zwölf; die Türe klinkte, und der Gerichtsschreiber Kapp
trat herein. --
»Guten Tag, Frau Mergel,« sagte er; »könnt Ihr mir einen Trunk Milch
geben? ich komme von M.« -- Als Frau Mergel das Verlangte brachte,
fragte er: »Wo ist Friedrich?« Sie war gerade beschäftigt, einen Teller
hervorzulangen, und überhörte die Frage. Er trank zögernd und in kurzen
Absätzen. »Wißt Ihr wohl,« sagte er dann, »daß die Blaukittel in dieser
Nacht wieder im Masterholze eine ganze Strecke so kahl gefegt haben wie
meine Hand!« -- »Ei, du frommer Gott!« versetzte sie gleichgültig. --
»Die Schandbuben«, fuhr der Schreiber fort, »ruinieren alles; wenn sie
noch Rücksicht nähmen auf das junge Holz, aber Eichenstämmchen wie mein
Arm dick, wo nicht einmal eine Ruderstange drin steckt! Es ist, als ob
ihnen andrer Leute Schaden ebenso lieb wäre wie ihr Profit!« -- »Es ist
schade!« sagte Margret. Der Amtsschreiber hatte getrunken und ging noch
immer nicht. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben. »Habt Ihr nichts
von Brandis gehört?« fragte er plötzlich. -- »Nichts; er kommt niemals
hier ins Haus.« -- »So wißt Ihr nicht, was ihm begegnet ist?« -- »Was
denn?« fragte Margret gespannt. -- »Er ist tot!« -- »Tot!« rief sie,
»was, tot? Um Gottes willen! er ging ja noch heute morgen ganz gesund
hier vorüber mit der Flinte auf dem Rücken!« -- »Er ist tot,«
wiederholte der Schreiber, sie scharf fixierend; »von den Blaukitteln
erschlagen. Vor einer Viertelstunde wurde die Leiche ins Dorf gebracht.«
Margret schlug die Hände zusammen. -- »Gott im Himmel, geh nicht mit ihm
ins Gericht! er wußte nicht, was er tat!« -- »Mit ihm!« rief der
Amtsschreiber, »mit dem verfluchten Mörder, meint Ihr?« Aus der Kammer
drang ein schweres Stöhnen. Margret eilte hin, und der Schreiber folgte
ihr. Friedrich saß aufrecht im Bette, das Gesicht in die Hände gedrückt,
und ächzte wie ein Sterbender. -- »Friedrich, wie ist dir?« sagte die
Mutter. -- »Wie ist dir?« wiederholte der Amtsschreiber. -- »O mein
Leib, mein Kopf!« jammerte er. -- »Was fehlt ihm?« -- »Ach, Gott weiß
es,« versetzte sie, »er ist schon um vier mit den Kühen heimgekommen,
weil ihm so übel war. -- Friedrich, Friedrich, antworte doch, soll ich
zum Doktor?« -- »Nein, nein,« ächzte er, »es ist nur Kolik, es wird
schon besser.«
Er legte sich zurück, sein Gesicht zuckte krampfhaft vor Schmerz; dann
kehrte die Farbe wieder. -- »Geht,« sagte er matt; »ich muß schlafen,
dann gehts vorüber.« --
»Frau Mergel,« sagte der Amtsschreiber ernst, »ist es gewiß, daß
Friedrich um vier zu Hause kam und nicht wieder fortging?« -- Sie sah
ihn starr an. -- »Fragt jedes Kind auf der Straße. Und fortgehen? --
wollte Gott, er könnt es!« -- »Hat er Euch nichts von Brandis erzählt?«
-- »In Gottes Namen, ja, daß er ihn im Walde geschimpft und unsere Armut
vorgeworfen hat, der Lump! -- Doch Gott verzeih mir, er ist tot! --
Geht!« fuhr sie heftig fort; »seid Ihr gekommen, um ehrliche Leute zu
beschimpfen? Geht!« -- Sie wandte sich wieder zu ihrem Sohne; der
Schreiber ging. -- »Friedrich, wie ist dir?« sagte die Mutter; »hast du
wohl gehört? schrecklich, schrecklich! ohne Beichte und Absolution!« --
»Mutter, Mutter, um Gottes willen laß mich schlafen; ich kann nicht
mehr!«
In diesem Augenblick trat Johannes Niemand in die Kammer; dünn und lang
wie eine Hopfenstange, aber zerlumpt und scheu, wie wir ihn vor fünf
Jahren gesehen. Sein Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich.
»Friedrich,« stotterte er, »du sollst sogleich zum Ohm kommen; er hat
Arbeit für dich; aber sogleich.« -- Friedrich drehte sich gegen die
Wand. -- »Ich komme nicht,« sagte er barsch, »ich bin krank.« -- »Du
mußt aber kommen,« keuchte Johannes; »er hat gesagt, ich müßte dich
mitbringen.« --
Friedrich lachte höhnisch auf: »Das will ich doch sehen!« -- »Laß ihn in
Ruhe, er kann nicht,« seufzte Margret, »du siehst ja, wie es steht.« --
Sie ging auf einige Minuten hinaus; als sie zurückkam, war Friedrich
bereits angekleidet. -- »Was fällt dir ein?« rief sie, »du kannst, du
sollst nicht gehen!« -- »Was sein muß, schickt sich wohl«, versetzte er
und war schon zur Türe hinaus mit Johannes. -- »Ach Gott,« seufzte die
Mutter, »wenn die Kinder klein sind, treten sie uns in den Schoß, und
wenn sie groß sind, ins Herz!«
[Illustration]
Die gerichtliche Untersuchung hatte ihren Anfang genommen, die Tat lag
klar am Tage; über den Täter aber waren die Anzeichen so schwach, daß,
obschon alle Umstände die Blaukittel dringend verdächtigten, man doch
nicht mehr als Mutmaßungen wagen konnte. Eine Spur schien Licht geben zu
wollen: doch rechnete man aus Gründen wenig darauf. Die Abwesenheit des
Gutsherrn hatte den Gerichtsschreiber genötigt, auf eigene Hand die
Sache einzuleiten. Er saß am Tische; die Stube war gedrängt voll von
Bauern, teils neugierigen, teils solchen, von denen man in Ermangelung
eigentlicher Zeugen einigen Aufschluß zu erhalten hoffte. Hirten, die in
derselben Nacht gehütet, Knechte, die den Acker in der Nähe bestellt,
alle standen stramm und fest, die Hände in den Taschen, gleichsam als
stillschweigende Erklärung, daß sie nicht einzuschreiten gesonnen seien.
Acht Forstbeamte wurden vernommen. Ihre Aussagen waren völlig
gleichlautend: Brandis habe sie am Zehnten abends zur Runde bestellt, da
ihm von einem Vorhaben der Blaukittel müsse Kunde zugekommen sein; doch
habe er sich nur unbestimmt darüber geäußert. Um zwei Uhr in der Nacht
seien sie ausgezogen und auf manche Spuren der Zerstörung gestoßen, die
den Oberförster sehr übel gestimmt; sonst sei alles still gewesen. Gegen
vier Uhr habe Brandis gesagt: »Wir sind angeführt, laßt uns heimgehen.«
-- Als sie nun um den Bremerberg gewendet und zugleich der Wind
umgeschlagen, habe man deutlich im Masterholz fällen gehört und aus der
schnellen Folge der Schläge geschlossen, daß die Blaukittel am Werk
seien. Man habe nun eine Weile beratschlagt, ob es tunlich sei, mit so
geringer Macht die kühne Bande anzugreifen, und sich dann ohne
bestimmten Entschluß dem Schalle langsam genähert. Nun folgte der
Auftritt mit Friedrich. Ferner: nachdem Brandis sie ohne Weisung
fortgeschickt, seien sie eine Weile vorangeschritten und dann, als sie
bemerkt, daß das Getöse im noch ziemlich weit entfernten Walde gänzlich
aufgehört, stillegestanden, um den Oberförster zu erwarten.
[Illustration]
Die Zögerung habe sie verdrossen, und nach etwa zehn Minuten seien sie
weitergegangen und so bis an den Ort der Verwüstung. Alles sei vorüber
gewesen, kein Laut mehr im Walde, von zwanzig gefällten Stämmen noch
acht vorhanden, die übrigen bereits fortgeschafft. Es sei ihnen
unbegreiflich, wie man dieses ins Werk gestellt, da keine Wagenspuren zu
finden gewesen. Auch habe die Dürre der Jahreszeit und der mit
Fichtennadeln bestreute Boden keine Fußstapfen unterscheiden lassen,
obgleich der Grund ringsumher wie festgestampft war. Da man nun
überlegt, daß es zu nichts nützen könne, den Oberförster zu erwarten,
sei man rasch der andern Seite des Waldes zugeschritten in der Hoffnung,
vielleicht noch einen Blick von den Frevlern zu erhaschen. Hier habe
sich einem von ihnen beim Ausgange des Waldes die Flaschenschnur in
Brombeerranken verstrickt, und als er umgeschaut, habe er etwas im
Gestrüpp blitzen sehen; es war die Gurtschnalle des Oberförsters, den
man nun hinter den Ranken liegend fand, grad ausgestreckt, die rechte
Hand um den Flintenlauf geklemmt, die andere geballt, und die Stirn von
einer Axt gespalten.
Dies waren die Aussagen der Förster; nun kamen die Bauern an die Reihe,
aus denen jedoch nichts zu bringen war. Manche behaupteten, um vier Uhr
noch zu Hause oder anderswo beschäftigt gewesen zu sein, und keiner
wollte etwas bemerkt haben. Was war zu machen? sie waren sämtlich
angesessene, unverdächtige Leute. Man mußte sich mit ihren negativen
Zeugnissen begnügen.
Friedrich ward hereingerufen. Er trat ein mit einem Wesen, das sich
durchaus nicht von seinem gewöhnlichen unterschied, weder gespannt noch
keck. Das Verhör währte ziemlich lange, und die Fragen waren mitunter
ziemlich schlau gestellt; er beantwortete sie jedoch alle offen und
bestimmt und erzählte den Vorgang zwischen ihm und dem Oberförster
ziemlich der Wahrheit gemäß, bis auf das Ende, das er geratener fand,
für sich zu behalten. Sein Alibi zur Zeit des Mordes war leicht
erwiesen. Der Förster lag am Ausgange des Masterholzes, über dreiviertel
Stunden Weges von der Schlucht, in der er Friedrich um vier Uhr
angeredet und aus der dieser seine Herde schon zehn Minuten später ins
Dorf getrieben. Jedermann hatte dies gesehen; alle anwesenden Bauern
beeiferten sich, es zu bezeugen; mit diesem hatte er geredet, jenem
zugenickt.
[Illustration]
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