Auf der Universität Lore - 3

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dichtverwachsenen Hagebuchen führte. Da hier vorne auch hinter den
Zäunen nur bebautes harmloses Gartenland lag, so verhinderte mich
die einbrechende Dunkelheit nicht, die neben mir wandelnde
Mädchengestalt zu betrachten. Mich schauerte, daß sie jetzt
wirklich in solcher Einsamkeit mir nahe war.
Kein Mensch außer uns schien in dem alten Park zu sein; es war so
still, daß wir jeden unsrer Tritte auf dem Sande hörten.
"Willst du mich nicht anfassen?" fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
"Warum nicht?"
"Nein--wenn jemand käme!"
Wir hatten den gewölbten Buchengang erreicht. Es war sehr dunkel
hier; denn in geringer Entfernung zu beiden Seiten waren ähnliche
Laubengänge, und auf den dazwischen befindlichen Rasenflecken
lagerten undurchdringliche Schatten. Ich wußte nur noch, daß Lore
neben mit ging; denn ich hörte ihren Atem und ihren leichten
Schritt; zu sehen vermochte ich sie nicht. Wie neckend schoß es
mir durch den Kopf, daß ich am Nachmittag auf einen Sommervogel
ausgegangen war. "Nun bist doch gefangen!" sagte ich, und durch
die Dunkelheit ermutigt, ergriff ich ihre herabhängende Hand und
hielt sie fest. Sie duldete es; aber ich fühlte, wie sie zitterte,
und auch mir schlug mein Knabenherz bis in den Hals hinauf.
So gingen wir langsam weiter. Von der Stadt her kam der gedämpfte
Ton der Drehorgeln und das noch immer fortdauernde Getöse des
Jahrmarkttreibens; vor uns am Ende der Allee in unerreichbarer
Ferne stand noch ein Stückchen goldenen Abendhimmels. Ich legte
ihre Hand in meinen Arm und faßte sie dann wieder. In diesem
Augenblick trollte vor uns etwas über den Weg; es mag ein Igel
gewesen sein, der auf die Mäusejagd ging.--Sie schrak ein wenig
zusammen und drängte sich zu mir hin, und als ich, unabsichtlich
fast, den Arm um sie legte, fühlte ich, wie ihr Köpfchen auf meine
Schulter glitt.
Als aber dann, nur eine flüchtige Sekunde lang, ein junger Mund den
andern berührt hatte, da trieb es uns wie töricht aus den
schützenden Baumschatten ins Freie. So hatten wir bald, während
ich nur noch ihre Hand gefaßt hielt, das Ende der Allee erreicht
und traten durch eine Pforte auf einen Feldweg hinaus, der
seitwärts auf die letzten Häuser der Stadt zuführte. Wir gingen
eilig nebeneinander her, als könnten wir das Ende unsers
Beisammenseins nicht rasch genug herbeiführen.
"Mein Vater wird mich suchen; es ist gewiß schon spät!" sagte Lore,
ohne aufzusehen.
"Ich glaube wohl!" erwiderte ich. Und wir gingen noch eiliger als
zuvor.
Schon standen wir am Ausgang des Weges, den letzten Häusern der
Stadt gegenüber. In dem Lichtschein, der unter der Linde aus dem
Fenster des Schneiderhäuschens fiel, sah ich unweit davon ein
Mädchen an einem Brunnen stehen. Ich durfte nicht weiter mit. Als
aber Lore den Fuß auf das Straßenpflaster hinaussetzte, war mir,
als dürfe ich sie so nicht von mir gehen lassen.
"Lore", sagte ich beklommen, "ich wollte dir noch etwas sagen."
Sie trat einen Schritt zurück. "Was denn?" fragte sie.
"Warte noch eine Weile!"
Sie wandte sich um und blieb ruhig vor mir stehen. Ich hörte, wie
sie mit den Händen über ihr Haar strich, wie sie ihr Tüchelchen
fester um den Hals knüpfte; aber ich suchte lange vergebens des
Gedankens habhaft zu werden, der wie ein dunkler Nebel vor meinen
Augen schwamm. "Lore", sagte ich endlich, "bist du noch bös mit
mir?"
Sie blickte zu Boden und schüttelte den Kopf.
"Willst du morgen wieder hier sein?"
Sie zögerte einen Augenblick. "Ich darf des Abends sonst nicht
ausgehen", sagte sie dann.
"Lore, du lügst; das ist es nicht, sag mir die Wahrheit!"
Ich hatte ihre Hand gefaßt; aber sie entzog sie mir wieder.
"So sprich doch, Lore!--Willst du nicht sprechen?"
Noch eine Weile stand sie schweigend vor mir; dann schlug sie die
Augen auf und sah mich an. "Ich weiß es wohl", sagte sie leise,
"du heiratest doch einmal nur eine von den feinen Damen."
Ich verstummte. Auf diesen Einwurf war ich nicht gefaßt; an so
ungeheure Dinge hatte ich nie gedacht und wußte nichts darauf zu
antworten.
Und ehe ich mich dessen versah, hörte ich ein leises "Gute Nacht"
des Mädchens; und bald sah ich sie drüben in dem Schatten der
Häuser verschwinden. Ich vernahm noch das vorsichtige Aufdrücken
einer Haustür, das leise Anschlagen der Türschelle; dann wandte ich
mich und ging langsam durch den Schloßgarten zurück.
Ohne erst zum Abendessen in die Wohnstube meiner Eltern zu gehen,
schlich ich die Treppe hinauf in meine Kammer. Wie trunken warf
ich mich in die Kissen. Nach einer Viertelstunde hörte ich die
Stubentür gehen, und durch die halb geöffneten Augenlider sah ich
meine Mutter mit einer Lampe an mein Bett treten. Sie beugte sich
über mich; aber ich schloß die Augen und träumte weiter. Trotz des
wenig verheißenden Abschieds war mir doch, als hätte meine Hand
eine volle Rosengirlande gefaßt, an welcher nun in alle Zukunft
hinein der Lebensweg entlang gehen müsse.
So sehr ich aber an diesem Abend den Drang, allein zu sein,
empfunden, ebensosehr trieb es mich am andern Morgen unter
Menschen. Ich hatte ein neues Gefühl der Freiheit und Überlegenheit
in mir, das ich nun auch andern gegenüber empfinden wollte.
Sobald ich gefrühstückt und den etwas unbequemen Fragen meiner
Mutter notdürftig genuggetan hatte, ging ich in die Werkstatt
meines Freundes Christoph. Er war eifrig beschäftigt, kleine
Mahagonifurniere auszuwählen und zu schneiden. "Was machst denn du
da für Schönes?" fragte ich.
"Ein Nähkästchen", sagte er, ohne aufzublicken.
"Für Lenore Beauregard; meine Schwester will's ihr zum Geburtstag
schenken."
Ich sah ihn von der Seite an; ein übermütiges Lächeln stieg in mir
auf. "Die Lore ist wohl dein Schatz, Christoph?"
Der eckige Kopf des guten Jungen wurde bis unter die Stirnhaare wie
mit Blut übergossen bei dieser treulosen Frage. Er schien selbst
über seine Verlegenheit in Zorn zu geraten. "Ihr hättet sie nur
aus eurer lateinischen Tanzschule fortlassen sollen!" sagte er,
indem er mit seinem Messer grimmig in die Furnierblättchen
hineinfuhr.
"Du bist wohl eifersüchtig, Christoph?" fragte ich.
Aber er antwortete nicht; er brummte nur halb für sich: "Das hätte
meine Schwester sein sollen!"--
Dieser Triumph sollte indessen mein einzigster bleiben; denn ich
mühte mich vergebens, wieder allein mit Lore zusammenzutreffen.
Ein paarmal zwar im Laufe des Sommers begegnete sie mir an
Sonntagnachmittagen hinter den Gärten auf dem Bürgersteige; aber
Christoph und seine Schwester begleiteten sie, und der gute Junge
ging so trotzig neben ihr, als wenn er sie einer ganzen Welt von
Lateinern hätte streitig machen wollen; auch suchte sie selbst,
wenn ich ein Gespräch mit ihnen begann, augenscheinlich die andern
zum Weitergehen zu veranlassen.
Als späterhin bei Beginn des Michaelismarktes das Karussell wieder
aufgeschlagen wurde, wagte ich noch einmal zu hoffen. Einen Abend
nach dem andern, sobald die Dämmerung anbrach, fand ich mich auf
dem Platze ein; zum großen Verdrusse meines Freundes Fritz, von dem
ich mich unter immer neuen Vorwänden loszumachen suchte. Aber
ebenso oft spähte ich vergebens unter den jungen Reiterinnen, die
sich zuweilen einfanden, die schlanke Braune zu entdecken, um
derentwillen ich allein gekommen war. Einsam wanderte ich durch
die dunklen Gänge des Schloßgartens und zehrte trübselig von der
Erinnerung eines entflohenen Glückes.
Dies alles nahm ein plötzliches Ende, als ich zu Anfang des
Winters nach dem Willen meines Vaters die Gelehrtenschule
unsrer Heimat verließ und zu meiner weitern Ausbildung auf ein
Gymnasium des mittleren Deutschlands geschickt wurde.--Ob mein
Schmetterlingskescher noch in dem blühenden Baum am Rande der Heide
hängt?--Ich weiß es nicht; ich bin nicht wieder dort gewesen;
auch den Brombeerfalter habe ich bis auf heute noch nicht gefangen.

Jahre waren seitdem vergangen.
Als ich den Zwang der klösterlichen Schulanstalt hinter mir hatte,
brachte ich zum erstenmal wieder einige Herbstwochen im elterlichen
Hause zu. Von allen meinen Kameraden fand ich nur noch Christoph
im heimatlichen Neste; die übrigen, auch Fritz, waren alle schon
ausgeflogen; ins lustige Studentenleben, aufs weite Meer hinaus, in
die dunkle Schreibstube eines Kaufmanns, oder wohin sonst Wahl und
Verhältnisse sie geführt hatten. Auch Christoph, der zum
stattlichen, etwas untersetzten jungen Mann herangewachsen war,
rüstete sich zum Abzug; er war Gesell geworden und wollte wandern.
Aber zuvor arbeiteten wir noch einmal gemeinschaftlich in der
Werkstatt seines Vaters, und ein ungeheurer Tabakskasten, der mit
mir die Universität beziehen sollte, war das Resultat unsrer
Bemühungen.--Von meiner Mutter erfuhr ich, daß die rüstige Frau
Beauregard vor Jahresfrist eines plötzlichen Todes verblichen und
ihre Tochter bald darauf nach der kleinen Landesuniversitätsstadt
zu einer alten unverheirateten Tante gezogen sei, die sie
testamentarisch zur Universalerbin ihres kleinen Vermögens
eingesetzt hatte. Das schmale Häuschen mit der Linde war nach dem
Tode der Mutter schuldenhalber verkauft worden, und der
französische Schneider hatte froh sein müssen, bei einem der andern
Meister als Gesell ein Unterkommen gefunden zu haben. Ich traf ihn
am Sonntagnachmittage in einer Ecke des Kirchhofs auf der Bank
sitzend. Seine Haut über den scharfen Backenknochen war noch
gelber geworden, und sein schwarzes Haar war stark ergraut; er
hustete, aber die Sonne schien ihm wohlzutun. "Ah, Monsieur
Philipp!" rief er, da er mich erkannte, und streckte mir zwei
Finger seiner langen knöchernen Hand entgegen, während die andern
die alte wohlbekannte Porzellandose umklammert hielten. "Damals--
das waren andre Zeiten, Monsieur Philipp!" fuhr er seufzend fort.
"Meine Alte, sie hat sich mit ihrer Menage unter die schwarzen
Kreuze dort begeben; und das Kind, die Lore"--er schluckte ein
paarmal und nahm eine starke Prise--, "Sie werden es ja gehört
haben!--Sie wollte nicht, sie wollte ihren armen Vater nicht
allein lassen, ich mußte mit Gewalt ihre kleinen Hände von mir
losreißen; aber was hilft es denn! Das Kind mußte doch sein Glück
machen!" Er ließ den Kopf sinken und legte schlaff seine Hände auf
die Knie. "Ich werde Ihnen ihre Briefe zeigen!" begann er dann
wieder. "Sie werden sehen, Monsieur Philipp, Sie sind ja ein
Gelehrter! Die allerliebsten Buchstaben, und all die lieben guten
Worte; eine Marquise könnte es nicht besser."--
--So sprach er noch eine Weile fort, bis ich ihn verließ.
Ich habe den französischen Schneider nicht wiedergesehen; denn
einige Tage darauf reiste ich ab, um zunächst auf einer
ausländischen Universität meine juristischen Studien zu beginnen,
und schon nach einem halben Jahre schrieb mir meine Mutter, der ich
diese Begegnung erzählt hatte, daß auch Monsieur Beauregard, der
Enkel des Ofenheizers vom Hofe Ludwigs des Sechzehnten, unter den
schwarzen Kreuzen eine Stelle gefunden habe.

Drei Jahre später befand ich mich auf der Landesuniversität, um vor
dem Examen noch das gesetzlich vorgeschriebene Jahr hier zu
absolvieren. Fritz, mit dem ich das letzte Semester in Heidelberg
zusammen gewohnt, wollte erst im nächsten Herbst zurückkehren.
Aber mein Freund Christoph hatte die Universität bezogen; er war
erster Arbeiter in einem großen Möbelmagazin. Ich trag ihn eines
Nachmittags in einem öffentlichen Garten, wo er allein vor seinem
Seidel Lagerbier saß und, scheinbar in Sinnen verloren, den Rauch
seiner Zigarre vor sich hinblies. Sein starker blonder Backenbart
und seine feine bürgerliche Kleidung ließen mich ihn erst in
nächster Nähe erkennen. Als ich schweigend meine Hand auf seine
Schulter legte, warf er den Kopf rasch und trotzig nach mir herum;
denn, wenn ich jetzt auch keine farbige Mütze trug, so gehörte ich
doch unverkennbar genug zu den mutmaßlich noch immer nicht von ihm
geliebten Lateinern. Allein kaum hatte er mich angesehen, als auch
sogleich die freudigste Überraschung aus seinen Augen leuchtete.
"Philipp, du bist es?" sagte er, indem er mit einer fast
mädchenhaften Bescheidenheit meine dargebotene Hand nahm und sie
dann desto kräftiger drückte.--Wir sprachen lange zusammen; über
unsre Heimat, über Eltern und Altersgenossen; als ich mich dann der
verhängnisvollen Eisfahrt erinnerte, fragte ich auch nach unsrer
gemeinschaftlichen Knabenliebe.
Lenore lebte noch im Hause ihrer Verwandten, einer alten
Schneiderin, mit der sie zum Nähen in die Häuser der vornehmen
Einwohner ging. Aber Christoph wurde bei den Antworten auf diese
Fragen immer wortkarger und suchte endlich mit einer gewissen Hast
das Gespräch auf andre Dinge zu bringen. Er schien in seinem
treuen Gemüte noch immer die Fesseln des schönen Mädchens zu
tragen, die ich mit dem Staub der Heimat schon längst von mir
abgeschüttelt zu haben glaubte.
Ich mochte mich darin indessen irren.--Einige Zeit darauf hatte
ich mit befreundeten Damen jenseits der Meeresbucht, an welcher die
Stadt liegt, einen damals beliebten Vergnügungsort besucht. Der
Nachmittag war zu Ende, und wir gingen an den Strand hinab, um nach
einem Fahrzeug für die Heimkehr auszuschauen.--Zwei Boote, beide
schon fast besetzt, lagen zur Abfahrt bereit. Neben dem einen, das
etwa dreißig Schritte von uns entfernt sein mochte, stand an der
Seite einer ältlichen lahmen Nähterin, die ich mitunter im
Wohnzimmer meines Hauswirts gesehen hatte, eine auffallend schöne
Mädchengestalt. Sie hatte schon den Fuß auf den Rand des Bootes
gesetzt und schien im Begriff, hineinzusteigen; aber sie zögerte
plötzlich, da sie den Kopf nach uns zurückwandte. Zwei schwarze
fremdartige Augen, wie ich sie lange nicht, aber wie sich sie einst
gesehen, trafen in die meinen; ich wußte jetzt, daß es Lenore
Beauregard sei. Sie war größer geworden, und unter den braunen
Wangen schimmerte das Rot der vollsten Jungfräulichkeit; aber noch
immer war ihr in der Haltung jene graziöse Lässigkeit eigen, die
mir unbewußt, schon einst mein Knabenherz entführt hatte. Es
wallte heiß in mir auf, und ich hatte der Damen neben mir fast ganz
vergessen. Denn jene dunkeln Augen schienen mich bittend
anzublicken; ich hörte, wie die alte Nähterin ihr zusprach, wie der
Schiffer sie nicht eben in den höflichsten Worten zum Einsteigen
drängte; aber noch immer stand die schlanke Mädchengestalt
unbeweglich, wie im Traum, die Augen nach mir hingewandt.
Schon hatte ich, wie von dunkler Naturgewalt getrieben, ein paar
Schritte nach dem Boote zu getan; aber ich bezwang mich; ich dachte
an Christoph; seine ehrlichen Augen schienen mich plötzlich
anzusehen. "Es wird nicht Platz dort für uns alle sein", sagte ich
zu den Damen. Dann gingen wir seitwärts nach dem andern Fahrzeug
am Wasser entlang.--Doch noch einmal mußte ich nach Lore
zurückblicken. Sie hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen und
stieg eben langsam über den Bord in das Innere des Bootes, das im
Gold der Abendsonne auf dem regungslosen Wasser lag.
Bei der Heimfahrt saß ich am Steuer, wortkarg und innerlich erregt;
meine Augen mochten wohl mitunter auf dem andern in ziemlicher
Entfernung vor uns rudernden Boote ruhen, während die jungen Damen
mich vergebens in ihre Plaudereien zu ziehen suchten.
"Aber Sie sind heute nicht zu gebrauchen!" sagte die eine; "unsre
schöne Nähterin scheint Sie stumm gemacht zu haben!"
"Ist Lore Ihre Nähterin?" fragte ich noch halb in Gedanken.
"Lore! Woher wissen Sie, daß sie Lore heißt?"
"Wir sind aus einer Stadt; ich habe in der Tanzschule meine erste
Mazurka mit ihr getanzt."
"So!--Sie soll auch jetzt noch gern mit Studenten tanzen."
Unser Gespräch über Lore war zu Ende; aber ich wußte jetzt, weshalb
Christoph nicht hatte reden mögen.
Dennoch sah ich ihn später im Laufe des Winters mehrmals an
öffentlichen Orten mit Lore zusammen, meistens in Gesellschaft der
lahmen Marie oder einer älteren Person, welche niemand anders als
die Erbtante sein konnte, die dem armen Schneider noch so kurz vor
seinem Ende das Kleinod seines Herzens entführt hatte.
Eines Abends, es mochte einige Wochen nach Neujahr sein, hörte ich
von meinem Zimmer aus einen Tumult auf der Straße. Als ich das
Fenster öffnete, bemerkte ich unter dem vorbeiziehenden Haufen hie
und da rote Studentenmützen; endlich erkannte ich beim Schein der
Straßenlaterne auch einen unsrer Pedelle.
"Was gibt's, Dose?" rief ich hinunter.
"Holz hat's gegeben, Herr Doktor."--Dose nannte mich aus einem nur
uns beiden bekannten Grunde allezeit Herr Doktor.
"So? Und wohl wieder auf dem Ballhaus?" fragte ich.
"Nun, wo denn anders?"
Das Ballhaus war ein öffentliches Tanzlokal, wo die altherkömmliche
Feindschaft zwischen Studenten und Handwerksgesellen sich zuzeiten
Luft zu machen pflegte. Es schien diesmal indessen arg geworden zu
sein; denn Dose machte andeutungsweise eine höchst kräftige
Bewegung mit der Faust.
"Wer hat's denn gekriegt?" fragte ich noch.
Der Alte hielt die Hand vor den Mund und flüsterte mir zu: "Es ist
auf die rechte Stelle gekommen, Herr Doktor." Ein Bekannter, der
unser Gespräch hörte, rief im Vorübergehen: "Es ist der Raugraf;
die Knoten haben ihm auf Abschlag gezahlt."
Der sogenannte "Raugraf" war ein ebenso schöner als wüster junger
Mann, der in den Hörsälen der Professoren selten, dagegen häufig
auf der Mensur und regelmäßig auf der Kneipe zu finden war; einer
von denen, die auf Universitäten eine Rolle spielen, um dann im
späteren Leben spurlos zu verschwinden. Von den jungen Handwerkern,
denen er ihre Mädchen abspenstig machte, wurde er ebensosehr
gehaßt, wie er für die größere Anzahl der jüngern Studenten der
Gegenstand einer scheuen Bewunderung war. Nachdem er eine Reihe
andrer Universitäten besucht und, teilweise durch Relegation
gezwungen, wieder verlassen hatte, fand er für gut, auch die
unsrige zu versuchen, und bald gingen von seinem großen Wechsel und
dann von seinen noch größeren Schulden die mannigfaltigsten
Gerüchte im Schwange. Der Titel "Raugraf", den er mitbrachte,
paßte insofern für ihn, als er an die Zeiten des Faustrechts
erinnert und allerdings die Weise der alten Junker, die ja die
Schwächeren rücksichtslos für ihre Leidenschaften zu verbrauchen
pflegten, sich vollständig auf ihn vererbt zu haben schien.
Da ich den Raugrafen weder genau kannte noch ein Interesse an
seiner Person nahm, so schloß ich das Fenster und begab mich zur
Ruhe, ohne des Vorfalles weiter zu gedenken.
Am Nachmittage darauf sollte ich indessen aufs neue daran erinnert
werden.--Ich hatte eben meinen Kaffee getrunken und saß im Sofa
über einer Pandektenkontroverse, als an die Stubentür gepocht wurde.
Auf mein "Herein!" trat die stattliche Gestalt meines Freundes
Christoph vorsichtig und etwas zögernd in das Zimmer.
"Bist du allein?" fragte er.
"Wie du siehst, Christoph."
Er schwieg einen Augenblick. "Ich muß fort von hier, Philipp",
sagte er dann, "Noch heute abend; weit fort, an den Rhein zu meinem
Mutterbruder; er ist schwächlich und braucht einen Gesellen, der
nach dem Rechten sehen kann. Aber ich fürchte, meine Barschaft
reicht nicht für die Reise, und Fechten, das ist nicht meine Sache."
Ich war schon an mein Pult gegangen und hatte eine kleine Geldsumme
auf den Tisch gezählt. "Reicht das, Christoph?"
"Ich danke dir, Philipp." Und er steckte das Geld sorgsam in seine
Börse, die schon einen kleinen Schatz am Gold- und Silbermünzen
enthielt. Erst jetzt sah ich, daß er in seiner schwarzen
Sonntagskleidung vor mir stand.
"Aber du bist ja in vollem Wichs", fragte ich; "wo bist du denn
gewesen?"
"Nun", sagte er und rieb sich nachdenklich mit der Hand seine
breite Stirn, "ich komme eben von der Polizei!"
"Du hast schon deinen Paß geholt?"
"Jawohl; meinen Laufpaß."
Ich sah ihn fragend an.
"Es ist wegen der dummen Geschichte auf dem Ballhaus."
Mir ging ein Licht auf. "So! Also du bist es gewesen?" sagte ich.
Daß mir das nicht sogleich eingefallen ist!"
"Freilich bin ich dort gewesen, Philipp."
"Lenore war wohl mit dir?"
Er nickte.
"Und da hast du den Raugrafen durchgeprügelt?"
Ein Lächeln befriedigten Hasses legte sich um seinen Mund. "Sie
sagen ja, daß ich's gewesen sei", erwiderte er.
Der alte Feind der Gymnasiasten sprach dies in solchem Tone der
Genugtuung, daß ich über den Sachverhalt nicht mehr zweifelhaft
sein konnte.
Ich mußte laut auflachen. "So erzähl mir doch! Wie kam denn die
Geschichte?"
"Nun, Philipp--du weißt doch, da ich mit der Lore gehe?"
"Seid ihr denn einig miteinander?"
"Es ist wohl so was", erwiderte er.--"Sie ist eine anstellige
Person; und nach dem Tode der alten Tante bekommt sie auch noch
eine Kleinigkeit."
Ich sah ihn lächelnd an. "Nun, Christoph, sie ist auch sonst so
übel nicht; du hättest so überzeugend sonst auch schwerlich
zugeschlagen!"
Er blickte einen Augenblick vor sich hin. "Ich weiß es kaum",
sagte er, "wir standen in der Reihe, Lore und ich--es geschah nur
ihr zu Gefallen, daß ich hingegangen war--, da kam der lange
blasse Kerl, der schon immer auf sie gemustert und dabei mit einem
andern getuschelt hatte, und wollte extra mit ihr tanzen."
"War er denn unverschämt gegen deine Dame?"
"Unverschämt?--Sein Gesicht ist unverschämt genug!"
"Und Lore?" sagte ich, meinen Freund scharf fixierend. "Sie hätte
wohl gern mit dem schmucken Kavalier getanzt?"
Er zog die Stirnfalten zusammen, und ich sah, wie sich eine trübe
Wolke über seinen Augen lagerte.
"Ich weiß es nicht", sagte er leise.--"Es war nicht gut, daß ihr
das Mädchen damals in eurer Lateinischen Tanzschule den Notknecht
spielen ließet."
Er reichte mir die Hand. "Leb wohl, Philipp", sagte er, "das Geld
schicke ich dir; sonst wirst du wohl nicht viel von mir zu hören
bekommen; aber um Jahresfrist, so Gott will, bin ich wieder hier,
oder bei uns daheim."
Er ging.--Ich suchte vergebens mich wieder in meine
unterbrochenen Arbeiten zu vertiefen; eine unbestimmte Sorge um die
Zukunft des Jugendgespielen hatte mein Herz beschlichen. Ich wußte
nur zu wohl, was seine Worte nicht verraten sollten, daß seine
Phantasie von jenem Mädchen ganz erfüllt war und daß alle Kräfte
dieses tüchtigen Kopfes darauf hinarbeiteten, sein Leben mit dem
ihren zu vereinigen.
Bald darauf ging ich in die Wohnung meiner Hauswirte hinab, bei
denen ich damals meinen Mittagstisch hatte. Es mochte etwas
frühzeitig sein; denn von den Hausgenossen hatte sich niemand
eingestellt; aber in der Nebenstube traf ich die kleine Nähterin,
die "lahme Marie", welche stumm und einsam inmitten einer Wolke
weißer Stoffe mit der Nadel hantierte.--Da ich sie oft in
Gesellschaft der beiden Menschen gesehen hatte, deren Geschick mich
jetzt beschäftigte, so erzählte ich ihr den gestrigen Vorfall, in
der Hoffnung, über die Ursache desselben Näheres zu erfahren.
"Ich hab' es kommen sehen!" sagte sie, die dünnen Lippen
zusammenkneifend; "der Tischler ist wohl sonst ein ganzer Kerl;
aber gegen das Mädchen ist er zu gutwillig; was wollte er mit ihr
auf dem Ballhaus!"
Ich fragte näher nach.
Sie räumte eine Partie Zeuge von einem Stuhl, damit ich mich
setzen könne.--"Sie kennen vielleicht das kleine Haus in der
Pfaffengasse", begann sie dann, als ich ihrem Wink gefolgt war;
"die alte Schmieden, die Tante von der Lore, hat es vor Jahren von
dem Pferdeverleiher nebenan gekauft; aber den Hof dahinter, weil er
zu seinem Geschäft doch großen Raum braucht, hat der Verkäufer sich
vorbehalten, so daß er mit seinem nun in eins zusammengeht; nur in
der Mitte auf einem Stückchen Rasen darf die Alte ihre Waschsachen
trocknen und bleichen, soweit es damit reichen will. Sie ist
Geschwisterkind mit meiner seligen Mutter, und seit ich konfirmiert
war, bin ich oft mit ihr zum Nähen ausgegangen.
"Ich denk, es war kurz vor Martini vorigen Jahrs; ich machte mich
gleich nach Mittag zu der Schmieden; denn wir hatten eine große
Seidenwäsche zusammen. Unterwegs begegne ich dem Tischler, der
damals schon mit der Lore ging. Wir sprechen ein Wort zusammen,
und im Weggehen ruft er mir noch lachend zu: 'Bei Feierabend
komm ich und helf euch die Klammern aufsetzen!' Ich sagt's
auch der Lore; aber sie schien nicht groß darauf zu achten.
"Spätnachmittags, da wir drinnen fertig waren, gingen wir hinaus, um
die Leine zwischen den Pfählen aufzuscheren, die draußen auf dem
Grasrondell stehen. Lore, das Kleid über ihren Halbstiefelchen
aufgeschürzt, ging mit dem kleinen hölzernen Tritt von einem zum
andern. Die Alte hatte sich drinnen in ihren Lehnstuhl schlafen
gesetzt; ich--ich bin die Größte nicht und konnte ihr eben nicht
viel dabei helfen."
Und die Erzählerin suchte ihren dürftigen Körper möglichst
gradezurichten.
"Ich hatte mich neben dem Waschkorb auf einen Prellstein gesetzt
und sah mir's an, wie vor dem Stall der Knecht des Nachbars einen
Goldfuchs striegelte.--Ich hab' die Pferde gern, wissen Sie, denn
mein Vater ist auch ein Fuhrmann gewesen.--Es war gar ein schönes
Tier; und wenn es so den Kopf aus dem Schatten in die Sonne
hinauswarf, glänzten die Haare wie Metall; aber an dem feinen
Beinwerk merkte ich wohl, daß es keines von des Nachbars
Mietgäulen sei.--'Wem gehört das Pferd?' fragte ich Lore, die
eben ihr Holztreppchen hart neben mir an den letzten Pfahl
gerückt hatte.--'Das Pferd?' sagte sie, indem sie sich auf
den Fußspitzen hebt und die Leine um das Querholz schlingt; 'das
gehört dem fremden Studenten; ich weiß nicht, wie er heißt.'
--Ich sah zu ihr hinauf; aber sie wandte nicht den Kopf und
wickelte noch immer fort mit der Leine. Als ich eben ungeduldig
werden wollte, sagte hinter mir eine Stimme: 'Es ist genug,
Fräulein Lorchen!'
"Ich sehe noch, wie sie die Arme sinken läßt und hastig das
aufgeschürzte Kleid herunterzupft, und da ich den Kopf wende, steht
der blasse vornehme Student vor mir, und Lore, ohne ein Wort zu
sagen, springt von ihrem Tritt herunter und stellt sich neben mich.
--Der junge Herr steht auch nur und macht scharfe Augen auf die
Lore, als wenn er das Anschauen ganz umsonst hätte. Daß dich!
dachte ich und fing aufs Geratewohl einen lauten Diskurs über
den Goldfuchs an, und red'te so lang, bis ich Antwort hatte,
und ehe ich mich's versehen, waren wir alle drei auf den Hof
hinübergetreten. Das Pferd scharrte mit den Hufen und sah seinen
Herrn mit den klugen Augen an; Lore stand daneben, und recht, als
trüge sie Verlangen nach dem Tier, ließ sie ihre flache Hand
an dem spiegelblanken Hals herabgleiten. 'Er ist lammfromm',
sagte der junge Herr; 'was meinen Sie, Fräulein Lore, drinnen
im Stall hängt noch ein Damensattel!'--Sie schüttelte den
Kopf; aber ich hörte, wie ihr der Atem versetzte, und ihre Augen
blitzten ordentlich vor Lust. Der Herr Graf hatte das wohl auch
verstanden; denn auf seinen Wink wurde der Sattel aufgeschnallt und
ein leichter Zaum angelegt. Lore sah darauf hin, als wenn ihr die
Augen verhext wären. Als aber der Knecht ihr das Holztreppchen zum
Aufstieg hinstellte, warf es der junge Herr beiseite. 'Pfui
doch, Johann!' rief er; und als wenn sich's nur von selbst
verstände, faßte er das junge Mädchen unterm Arm. 'Treten
Sie fest!' sagte er und hielt die andre Hand vor sie hin,
indem er mit seinen durchdringenden Augen zu ihr aufsah. Und Lore,
als müsse sie nur immer tun, wie der es wollte, setzte ihr Füßchen
in seine Hand. Ich merkte wohl, er zögerte; aber es war nur ein
Augenblick; dann hob er sie mit einem raschen Schwung hinauf.
"Sie sah ganz verwirrt aus und schlug die Augen nieder, als sie
droben saß, und ließ sich geduldig den Zaum zwischen den Fingern
von ihm zurechtlegen. Der Fuchs schüttelte den Kopf und stieß ein
lautes Wiehern aus. Sein Herr strich ihm ein paarmal liebkosend
über das seidene Fell; dann legte er die Hand hinter Lore auf den
Sattel; mit der andern faßte er den Zaum und führte das Pferd
langsam um das Rondell herum.
"Ich muß es selbst sagen, sie machten ein stolzes Paar zusammen, und
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