Auf der Universität Lore - 4

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es hätte wohl keiner gedacht, der sie so gesehen, daß die feine
Person nur eine arme Nähterin und eines Schneiders Tochter sei.
"Bald ging es ihr schon nicht rasch genug. Sie warf die Hand empor,
das Pferd fing an zu traben, und der junge Herr trat auf das
Rondell zurück. Aber er ließ kein Auge von ihr; wie das Pferd lief,
so ging er, die Reitpeitsche in der Hand, im Kreise mit umher; als
sei es ihm angetan, so flogen seine Blicke an dem Mädchen hin und
wider, von ihren schwarzen wehenden Haaren bis zu dem Füßchen, das
oben an dem Sattel unter dem Kleide hervorsah. Bald rief er ihr,
bald seinem Fuchs ein kurzes Wort hinüber. Das Tier lief immer
schneller; es schob und peitschte mit dem Schweife in die Luft.
Lenore sah gar nicht darauf hin. Sie saß nur wie angeflogen und
lächelte und sah auf den jungen Herrn, grad als wären's seine Augen,
die sie auf dem Sattel festhielten.
"So ging es eine Weile. Wenn die Alte herauskäme, dachte ich. Es
gäbe ein böses Wetter! Aber sie kam nicht. Da plötzlich schwenkte
eine Flucht Tauben mit großem Geklapper über den Hof, und der Fuchs
stutzt und macht einen Satz. Ich denk, die Lore stürzt herunter;
aber nein, sie hing noch an dem Hals des Pferdes; nur blaß war
sie geworden wie der Tod. 'Oho, Virginie!' ruft der Herr,
und gleich ist er auch drüben, hat die Lore auf seinen Armen, sieht
sie einen Augenblick mit den scharfen Augen an und läßt sie dann
sanft zu Boden gleiten.--Ehe ich mich noch besinne, höre ich die
Hoftür gehen. Da ist die Alte! denk ich; aber als ich mich
umkehre, steht der Tischler vor mir.--Wär's nur die Alte gewesen,
ich hätte mich nicht so alteriert; denn ganz wie versteinert sah
der Mensch aus. 'Ist denn schon Feierabend, Herr Werner?' ruf
ich. Aber er achtet gar nicht darauf. 'Guten Abend, Marie!' sagt
er mit ganz heiserer Stimme, und er würgt ordentlich daran, als
wenn ihm das Wort im Halse steckenbleiben müßte.--'Wollen wir nicht
ins Haus gehen?' sag ich wieder. 'Ich danke', antwortet er;
'ihr habt da schon Gesellschaft.'--Und ohne das Mädchen anzusehen
oder eine Silbe an sie zu verlieren, kehrt er sich um und geht
durch den großen Torweg der Straße zu.
"Lore stand, ohne sich zu rühren, neben dem schnaubenden Pferde.
'Was wollte der Mensch?' fragte der Graf. 'Es ist ein Landsmann
von mir', erwiderte sie leise. 'Es ist Herr Werner', sagte ich,
'der erste Arbeiter in dem großen Möbelmagazin'; denn mich
ärgerte das spöttische Gesicht, womit der Herr dem Tischler
nachgesehen hatte."
Die Erzählerin hatte eine Arbeit vollendet; sie stand auf und legte
die Stoffe zusammen. Nebenan im Wohnzimmer fanden sich die
Hausgenossen zum Mittagstisch zusammen.
"Was ist denn daraus geworden?" fragte ich noch.
"Was ist daraus geworden?" wiederholte sie. "Ich habe eine
Zeitlang hin und wider geredet; am Ende--der Tischler kann ja doch
nicht von ihr lassen, und sie, wenn ihr nicht just der Kopf
verrückt ist, weiß auch wohl, was sie an ihm hat. Die schönen
vornehmen jungen Herren sind ja nun doch einmal doch für sie
gewachsen."
Wir gingen zu Tische. Aber die Geschichte der lahmen Marie lag mir
schwer auf dem Herzen.--Lore und Christoph! Ich konnte mir die
beiden Menschen nicht zusammen denken.

Bald nach Ostern hatte eine plötzliche Erkrankung meiner Mutter
mich nach Hause gerufen. Erst im August, da ich die völlig
Genesende mit Ruhe der Sorge meines Vaters und der Heilkraft der
milden Lüfte überlassen konnte, kehrte ich auf die Universität
zurück. Als ich fortreiste, war auf der weiten Seebucht neben der
Stadt noch kaum das Eis verschwunden; nun rauschte über allen Wegen
das volle Laub des Sommers.
Es war am Vormittage nach meiner Ankunft; von meinen Bekannten
hatte ich noch keinen gesprochen. Ich stand nachdenklich in der
Mitte meines einsamen Studentenstübchens; das ausgetrocknete
Tintenfaß auf dem Schreibtisch und die bestaubten Bücher sahen mich
unbehaglich an; der halb ausgepackte Koffer auf dem Fußboden machte
es nicht besser. Aber die Sonne schien durch die Fensterscheiben
und lockte mich hinaus, und bald ging ich, wie ich es schon als
Knabe liebte, nur mit mir allein, im Schatten der breiten
Ulmenallee, welche eine Strecke oberhalb des Wassers am Seestrande
entlang führt.
Wie ein düsteres Gewölbe standen die ungeheuern Bäume über mir,
während zu beiden Seiten auf Laub und Gräsern und in den Fenstern
der hier überall im Grün versteckten Gartenhäuser die helle
Morgensonne funkelte; mitunter, wo er durch die Büsche sichtbar
wurde, traf auch ein Blitz des Meeresspiegels meine Augen.--Ich
ging langsam weiter, die frische Luft mit vollen Zügen atmend; nur
einzelne unbekannte Menschen begegneten mir, denn die Stunde des
Spazierengehens hatte noch nicht geschlagen.
Allmählich aber hörten die Gärten auf; statt der Ulmen waren es
hier schlanke aufstrebende Buchen, die zur Seite standen. Noch
eine kurze Strecke, und ich ging in einem kühlen Walde, der zur
Linken, eine Anhöhe hinansteigt, während ich nach der andern Seite
durch die Bäume auf die See hinabblicken konnte. Vor mir aus dem
Dickicht klang der Silberschlag des Buchfinken und der Lockruf der
Schwarzamsel; dazwischen wie Musik hörte ich fortwährend das
Lispeln der Blätter und drunten zu meinen Füßen das Anrauschen des
Wassers. Mir kam plötzlich die Erinnerung an ein halb verfallenes
Haus, das hier im Walde liegen mußte. Vor Jahren als Sekundaner
war ich einmal mit einem mir verwandten Studenten dort gewesen, den
ich von der Schule aus besucht hatte. Es war, so erfuhr ich damals,
von einem spekulierenden Schenkwirt gebaut worden; aber die
Spekulation mißglückte; es war ihm nicht gelungen, den großen Zug
der Gäste in seine Einsamkeit hinauszulocken. Er hatte verkaufen
müssen, und der neue Eigentümer ließ derzeit die spärliche
Wirtschaft durch einen Kellner verwalten.
Ich entsann mich des langen blassen Menschen sehr wohl, und auch
das einstöckige Gebäude, welches zwischen den hohen Buchen etwa auf
der Hälfte der Anhöhe lag, stand jetzt mit Deutlichkeit vor meinen
Augen. Unter der kleinen Säulenhalle, welche die Mitte der Front
einnahm, hatte ich damals mein erstes Glas Grog getrunken; von hier
aus waren wir durch eine große Flügeltür in einen hohen düstern
Saal getreten, dessen Fenster nach hinten in den Wald hinaussahen.
Mich überkam ein Verlangen, den einsamen Ort wieder aufzusuchen;
zugleich eine Besorgnis, er möge jetzt verschwunden oder für mich
nicht mehr zu finden sein.
Während ich so meinen Gedanken nachhing, bemerkte ich aufblickend
einen schmalen Fußweg, der sich links vom Wege zwischen den Bäumen
hinaufschlang. Ich stand einen Augenblick; so war es damals auch
gewesen; dann stieg ich langsam den Berg hinauf. Nach einiger Zeit
sah ich vor mir zwischen den Stämmen ein graues Schieferdach
auftauchen, allmählich wurden auch die Kapitäle einer kleinen
Säulenhalle und zu jeder Seite derselben der obere Teil eines
Fensters sichtbar. Noch ein paar Schritte, und eine breite
Steintreppe führt aus dem Baumschatten auf einen kleinen ebenen
Platz hinaus.
Da lag es vor mir; mitten im Walde, im stillsten Sonnenschein. Die
Zeit schien hier kaum etwas verändert zu haben; wie damals war der
ursprünglich rötliche Anwurf der Mauern, wo er nicht abgeblättert
an der Erde lag, überall mit grünem Moos bezogen, und aus den
Spalten der hölzernen Säulen drängte sich braunes wucherndes
Schwammgewächs; auch jetzt noch stand unter der kleinen Halle eine
dunkelgrüne Bank zu jeder Seite der halb geöffneten Flügeltür.--
Ich setzte mich auf eine derselben und blickte durch die Lücke des
Gehölzes auf die See hinab, wo eben ein Fischerboot im Sonnenschein
vorüberglitt.--Menschen schienen hier oben nicht zu hausen, es
rührte sich nichts; auch hinter mir aus dem Hause vernahm ich
keinen Laut; nur eine Waldbiene summte in raschem Fluge vorüber,
und an den Grasrändern der Steintreppe gaukelten zwei dunkle
Schmetterlinge.
Nach einer Weile stand ich auf und ging in den Saal. Er schien mir
noch düsterer fast, als ich ihn mir gedacht hatte; die dicht vor
dem Fenster stehenden Bäume schienen ihre Zweige bis über das Dach
zu breiten. Ich schlug mit meinem Stock auf einen Tisch, daß es an
der hohen Decke widerhallte; aber es kam niemand.--Zur Linken in
einem Nebenzimmer, in das ich hineinblickte, stand ein einsames
Billard. Aber gegenüber an der andern Seite des Saals war noch
eine Tür; ich öffnete sie und gelangte in einen schmalen Gang und
durch diesen wiederum ins Freie.--Neben einer Kegelbahn, die
dicht am Hause lag, fand ich einen schon älteren Menschen, mit
einer grünen Schürze angetan, auf dem Rasen eingeschlafen. In der
Tat, es schien auch derselbe Kellner noch von damals!--Als ich
ihn mit dem Stock berührte, riß er die Augen auf und sprang empor.
"Ich bitte, mein Herr", sagte er, "ich habe wenig Ruhe gehabt die
Nacht."
Ich sah ihn verwundert an.
"Sie wissen das nicht?" fuhr er fort, indem er mich von Kopf zu
Füßen musterte. "Die Herren Korpsburschen haben ja seit Ostern
ihren Kneipabend hierher verlegt."
Ich wußte das in der Tat nicht, obgleich die meisten meiner
Bekannten zu dieser Verbindung gehörten.
Während ich einen Krug Bier und eine Schnitte Brot bestellte, waren
wir in den Saal zurückgegangen.--Als der Tagesschein durch die
geöffnete Tür fiel, wurden auf der Mitte des Fußbodens ein paar
dunkle Flecke sichtbar, die mir keinen Zweifel ließen, daß nicht
nur die Kneipabende, sondern auch die dazugehörigen "Paukereien" in
diese Einsamkeit verlegt waren.--"Weshalb schafft ihr denn das
Blut nicht fort?" fragte ich.
"Um Entschuldigung, mein Herr", erwiderte der blasse Kellner, "aber
der Fleck kommt immer wieder; es ist von damals, als das Unglück
hier passierte.--Es sah sich übel an, als der hitzige junge Herr
auf einmal so still und weiß wurde."
Ich entsann mich sogleich jenes Vorfalls, der einer dürftigen
Offizierswitwe ihren einzigen Sohn gekostet hatte. Es war bald
nach meiner Abreise geschehen und hatte auf kurze Zeit die
Teilnahme des ganzen kleinen Landes in Anspruch genommen.
Ich ging in die Halle hinaus und setzte mich auf eine der grünen
Bänke, des armen heißblütigen Jungen gedenkend, dessen Leben hier
die letzte Spur zurückgelassen hatte.
Nach einer Weile brachte der Kellner das bestellte Frühstück.
"Heut abend könnte Sie was Besseres haben", sagte er, indem er Krug
und Teller vor mir auf den Tisch stellte. "Wir haben Ball; da
schickt der Prinzipal allemal seine Köchin heraus."
"Ball?" fragte ich erstaunt. "Wer tanzt denn hier mitten im Walde?"
"Nun", erwiderte er und blickte fast ein wenig despektierlich auf
meine nicht allzu moderne Kleidung, "die vornehmsten Herren
Studenten haben das so eingerichtet."
Mir fiel plötzlich eine Stelle aus dem Briefe eines Freundes ein,
den ich während meines Aufenthaltes in der Heimat erhalten hatte.
"Zum Hexensabbat nennen wir es; und es geht toll genug her!" So
lauteten die Worte. Ich wußte jetzt, wovon die Rede war; ich hatte
nur den Ort vergessen.
Der Kellner schien übrigens jenen Namen nicht eben gern zu hören.
Während ich ihn aber noch damit zu schrauben suchte, waren zwei
junge, mir wenig bekannte Studenten den Berg heraufgekommen. Sie
warfen sich, ohne von mir Notiz zu nehmen, an der andern Seite der
Tür auf die Bank, während sie in scharf akzentuierten Worten und
mit einem grimmigen Gesichtsausdruck jeder ein Seidel Bier
bestellten. Dann, während der Kellner sich entfernte, kam
in abgebrochenen Sätzen, mitunter durch Pfeifen oder lautes
Gähnen unterbrochen, eine Unterhaltung über die bevorstehende
Tanzfestlichkeit in Gang, die der eine, offenbar ein "Fuchs"
von neuestem Datum, erst durch seinen etwas älteren Genossen
kennenlernen sollte. Eine nach der andern wurden die Tänzerinnen
in knapper, nicht eben zartester Porträtierung vorgeführt; voran
die Töchter eines Winkeltanzmeisters und eines trunkanfälligen
Polizisten, mit deren Hilfe das Institut begründet war; in ihrem
Gefolge eine ganze Reihe freund- und elternloser Mädchen, die
während des Tages mit ihrer Hände Arbeit sich ein kärgliches Brot
verdienten.
Ich verzehrte indessen schweigend mein Frühstück und fütterte
mitunter einen Buchfinken, der furchtlos neben mir auf den Fliesen
umherlief und die ihm hingeworfenen Brotkrumen aufpickte.
"Die Gräfin sollst du erste sehen!" begann der ältere meiner beiden
Nachbarn wieder, indem er seinen kleinen Schnurrbart drehte.
Der andere tat eine verwunderte Frage.
Sein Freund lachte: "Es ist nur eine Nähterin, Ludwig; aber wenn
sie dich so kalt mit ihren schwarzen Augen ansieht!--Sie ist
verdammt von oben herab."
"Aber warum nennt ihr sie denn die Gräfin?"
"Nun, siehst du--der Raugraf hat sie."
Ich weiß nicht, weshalb ich bei diesen Worten erschrak. Schon
wollte ich nähere Erkundigungen bei dem jungen Renommisten
einziehen, als mir einfiel, daß ich bei meinem Fortgehen die lahme
Marie in der Hinterstube meiner Hauswirtin gesehen hatte.
Ich machte mich sofort auf den Rückweg; und eine halbe Stunde
später stand ich neben ihr und hatte ein Gespräch mit ihr
angeknüpft.
"Und Sie haben Lenore seit lange nicht gesehen?" fragte ich.
Sie schwieg einen Augenblick. "Ich gehe nicht mehr mit ihr", sagte
sie, indem sie auf ihre Arbeit blickte.
"Sie schienen doch sonst so gute Freunde!"
"Sonst, ja!"--Sie strich ein paarmal mit dem Nagel über die eben
angefertigte Naht. "Aber seitdem sie draußen bei den Studenten
tanzt--sie wird die längste Zeit bei der alten Tante gewesen sein;
und mit dem Testament mag es nun auch wohl anders werden."
Also doch! dachte ich.--Christoph hatte mir das entlehnte Geld
schon einige Zeit nach seiner Abreise mit der kurzen Bemerkung
zurückgesandt, daß er im Hause seines Oheims eine freundliche
Aufnahme, bei den beiden Alten nicht weniger als bei deren schon
etwas ältlicher Tochter, und außerdem Arbeit vollauf gefunden habe.
Seitdem hatte ich Näheres weder von ihm noch von Lenore gehört.
"Aber wie ist denn das gekommen?" fragte ich nach einer Weile,
während die Nähterin emsig gearbeitet hatte.
"Nun!" sagte sie und steckte für einen Augenblick die Nähnadel in
das Zeug. "Es war vierzehn Tage vor Pfingsten; die Lore war schon
lange unwirsch gewesen; ich dachte erst, weil der Tischler ihr noch
immer nicht geschrieben hatte; mitunter aber kam's mir vor, als sei
das ganze Verlöbnis ihr leid geworden, und als könne sie in sich
selber darüber nicht zurechte kommen. Sie scherte sich auch keinen
Deut darum, ob sie mich oder eine von ihren vornehmen Herrschaften
mit den kurzen Worten vor den Kopf stieß; am schlimmsten war es
aber, wenn sie gegenüber die Musik vom Ballhaus hörte; denn sie
hatte dem Tischler doch versprechen müssen, nicht zu Tanze zu gehen.
--Eines Abends nun, da wir vor meiner Tür auf der Bank sitzen,
kommt mein Schwestersohn, der Schneider, der erst gestern aus der
Fremde heim war, mit ein paar andern Gesellen zu uns. Er war den
Rhein herabgekommen, hatte auch dort in zwei oder drei Städten, die
er namhaft machte, gearbeitet. Die andern fragen; er erzählt.--
'So hast du den Christoph Werner auch gesehen?' sagt der eine.--
'Den Tischler, freilich hab' ich ihn gesehen; der hat sein Glück
gemacht.'--'Wie denn?' fragt der andre.--'Wie denn? Er heiratet
die Meisterstochter; und sie hat--du verstehst mich!' Er machte
wie Geldzählen mit den Fingern. Mir wurde himmelangst bei diesen
Reden. 'Du bist nicht gescheit, Junge', sag ich, 'was schwatzest
du da ins Gelag hinein!'--'Oho, Tante, gescheit genug!' ruft er,
'bin ich doch dabeigestanden, daß er die Bretter zu seinem
Hochzeitsbett gehobelt hat!'--Lore, auf dieses Wort, ohne einen
Laut zu geben, steht sie von der Bank auf, nimmt ihren Hut und
geht, ohne sich umzusehen, die Straße hinab. 'Was fehlt der?'
fragt mein Schwestersohn noch.--'Ich weiß nicht, Dietrich.'--
Und ich wußte es auch wirklich nicht. Es war nicht gar so heiß
gewesen zwischen ihr und dem Tischler; denn er war ihr lange
nachgegangen, und sie hatte sich zweimal bedacht, bevor sie
ja gesagt; und wenn ich's auch schon wußte mit dem vornehmen
jungen Herrn, dem Studenten, so dachte ich doch nicht, daß
er ihr so ganz ihren eigensinnigen Kopf verrückt hatte.
"Noch eine Weile saß ich bei den andern und hörte, was der Junge,
der Schneider, zu erzählen wußte; aber ich hörte nur halbwegs, und
bald litt es mich nicht länger; denn ich sorgte doch um sie.
"So ging ich denn hinterher und traf sie, wie ich es mir auch
gedacht hatte, drunten im Haus der Tante, wo sie in einem
Hinterkämmerchen ihre Menage hatte. Da stand sie mitten im Zimmer
kreideweiß und nagte sich auf den Lippen, daß ihr das Blut übers
Kinn lief; alle ihre Schubfächer und Schachteln hatte sie
aufgerissen, und Tüll und Bänder lagen um sie her gestreut
auf dem Fußboden. 'Lore', rief ich, 'was machst du, Lore?'
Aber sie schien nicht auf mich zu hören.--'Ist Sonntag Tanz
im Ballhaus?' fragte sie.--'Im Ballhaus? Was geht das dich
an?'--'Ich will mittanzen!'--'Du? Was würde dein Schatz wohl dazu
sagen?'--'Was geht mich mein Schatz an!'--Sie hatte währenddes ihren
Hut aufgesetzt und ihr Umschlagetuch von der Kommode genommen; dann
schloß sie ein Kästchen auf, worin sie ihr Erspartes hineinzulegen
pflegte--denn wenn sie auch manchen Schilling für Putz vertat, so
war sie doch stolz und hatte immer nicht so nackt und bloß zu
ihrem Bräutigam kommen wollen. Nun riß sie das Papier, worin
es eingewickelt war, herunter und ließ das lose Geld in ihre
Tasche fallen. 'Willst du mit?' fragte sie. 'Ich muß Einkäufe
machen.'--Ich wußte nicht, was sie wollte; aber sie dauerte
mich, und so ging ich mit ihr; denn ich hoffte noch, das mit
dem Tanzen ihr wieder auszureden. Aber es waren leere Worte;
denn sie ging hastig neben mir die Straße hinab und antwortete
nicht und sah nicht nach mir hin.
"Als wir bei dem Schnittwarenhändler am Markte vor dem Ladentisch
standen, ließ sie sich die dicksten seidenen Bänder und die
modernsten Jakonetts vorlegen, wie sie deren sonst wohl nur
zuzeiten für die Vornehmsten in der Stadt verarbeitet hatte. Sie
suchte dazwischen umher und warf es durcheinander. Der Ladendiener
legte noch eine Ware vor. 'Wenn es der Dame, die das Kleid
bestellt hat, auf den Preis nicht ankommt!' sagte er und
streckte die Hand unter den klaren, durchsichtigen Stoff. 'Nein',
sagte Lore, 'es kommt ihr auf den Preis nicht an.'--Ich stieß sie
heimlich an; denn ich verstand es nun wohl, daß sie die kostbaren
Zeuge für sich selber wollte. 'Lore', sagte ich leise, 'ich bitte
dich, besinne dich doch, was willst du mit den feinen Sachen?'
--Aber sie kehrte sich nicht daran, sie ließ den Ladendiener
abschneiden und zählte das schöne harte Geld auf den Tisch, als
wenn sie nicht mehr wüßte, wie viele Tage sie sich sauer darum
hatte tun müssen. 'So laß doch', sagte sie, als ich ihren Arm
zurückhielt; 'ich will auch einmal fein sein; ich bin nicht
häßlicher als die Schönste hier!'--
"Dann ist sie nach Haus gegangen und hat die ganze Nacht und den
folgenden Tag gesessen und mit der heißen Nadel genäht, bis das
teure Kleid fertig gewesen ist.
"Am Sonntag darauf," fuhr die Erzählerin fort, nachdem sie zuvor
einen neuen Faden durch die Nadel gezogen hatte, "abends, da es
schon spät gewesen ist, hat sie sich von den weißen Maililien in
ihr schwarzes Haar gesteckt und ist dann aufs Ballhaus gegangen.
"Ich hab' das alles nur von meinem Schwestersohn," setzte sie hinzu,
"das ist auch einer, der keinen Tanz verpassen kann.--Sie hat
erst lange gesessen; denn die jungen Handwerksleute haben sich gar
nicht an sie getraut, und die Studenten hat sie selber einen nach
dem andern abgewiesen; es hätte nahezu wieder einen Aufruhr um sie
gegeben. Der blasse Student, wie heißen sie ihn gleich?"--
"Der Raugraf!" sagte ich.
"Freilich, der ist auch da gewesen, aber er hat sich wie gar nicht
um sie gekümmert. Zuletzt hat er doch kommen müssen; denn zu schön
hat sie ausgesehen; als wenn sie aus dem Morgenland gekommen wäre,
haben sie gesagt. Sie ist blutrot geworden, als er zu ihrem Platz
getreten ist, und hat am ganzen Leibe gezittert. Aber nun ist sie
aufgestanden und hat ihm die Hand gegeben, und er hat sie angesehen,
sagt mein Schwestersohn, als wenn er sie hat verzehren sollen.
Sie hat auch mit keinem sonst getanzt; denn bis die Musikanten ihre
Geigen eingepackt haben, sind die beiden miteinander nicht wieder
von der Diele gekommen."
Die lahme Marie schwieg; nur "Ja, ja!" sagte sie noch einmal, wie
in Gedanken die Moral aus ihrer Erzählung ziehend; dann setzte sie
eifriger als zuvor ihre Arbeit fort.
Ich wußte genug und beschloß, um nun auch mit eignen Augen zu sehen,
mich heute abend selbst auf den "Hexensabbat" zu begeben.

Draußen im Walde

Es war schon dunkel; eine schwüle Luft lag über dem Walde, während
ich die Anhöhe hinauf den Weg durch die Baumstämme zu finden suchte.
Als ich die Steintreppe erstiegen hatte, blieb ich unwillkürlich
stehen. Neben mir sah ich ein paar weiße Mädchengestalten durch
die Bäume schlüpfen und dann seitwärts im Hause verschwinden. Es
schien eben eine Tanzpause zu sein; ich hörte drinnen in dem
hellerleuchteten Saal die Musikanten ihre Geigen stimmen; an den
offenen Flügeltüren vorbei trieben Studenten und Mädchen in
lebhaftem Verkehr vorüber. Ich konnte mich nicht überwinden,
sogleich hineinzugehen; vor meinem innern Auge stand die liebliche
Kindesgestalt des Mädchens; ich sah sie wieder an dem Halse ihres
armen Vaters hangen; ich dachte daran, wie sie so hartnäckig meiner
knabenhaften Leidenschaft ausgewichen war. Ein plötzlicher Schmerz
kämpfte in meiner Brust; ich weiß kaum, war es Mitleid oder
Eifersucht.
Endlich stieg ich die beiden Stufen der kleinen Halle hinan und
stellte mich unbemerkt an den Pfosten der offenen Tür. Die Pause
dauerte noch fort; aber es schien darum nicht weniger lebendig; die
Studenten, die an den Seitentischen oder im Nebenzimmer saßen,
redeten und klappten mit ihren Seideln, die Mädchen trieben sich
lachend und plaudernd auf und ab; mitunter fuhr ein übermütiger
Schrei durch den Saal.
Es waren anmutige Gesichter unter diesen Mädchen; jugendliche
Gestalten mit großen leidenschaftlichen Augen, die durch den
Ausdruck sorglosen Lebensgenusses oder einen vorüberwandelnden Zug
von Leid nicht weniger anziehend wurden. Trotz ihrer Armut waren
sie alle sauber gekleidet, in hellen, durchsichtigen Stoffen, eine
Blume oder einen frischen Kranz in dem sorgfältig geflochtenen Haar.
Dies hatte indessen bei ihren Tänzern nicht eine gleiche Rücksicht
zu bewirken vermocht; denn namentlich die Jüngeren und einige der
sogenannten "Haupthähne" der Verbindung scheuten sich nicht, in
Gegenwart ihrer Damen die Beine behaglich über Tisch und Bänke
auszustrecken.
Meine Augen suchten Lore, und sie brauchten nicht lange zu suchen.
Sie saß dem Billardzimmer gegenüber zwischen einem Paar jüngerer
Mädchen, die lebhaft zu ihr sprachen, während sie teilnahmslos vor
sich hinblickte.
Im Haar trug sie eine weiße Rose, eine Seltenheit in dieser
Jahreszeit; aber auf ihrem Antlitz war die Rosenzeit vorüber; kein
Rot schimmerte mehr durch diese zarten, blassen Wangen.
Auch den Raugrafen sah ich; er saß mit übergeschlagenen Beinen, wie
ermüdet, an der andern Seite des Saales.--Ich stand in seiner
Nähe. Als die Musikanten ihre Instrumente zur Hand nahmen, trat
einer der jüngeren Studenten zu ihm. "Laß mir die Lore für diesen
Tanz!" sagte er schüchtern.
"Ein andermal, Fuchs!" erwiderte der Raugraf und lehnte seinen
schönen, aber bleichen Kopf zurück gegen die Wand. Die Musik
setzte ein; allein er stand nicht auf, um seine Tänzerin zu holen;
er hob lässig die Hand und machte gegen sie hin ein Zeichen mit den
Fingern. Ich sah, wie sie einen zornigen Blick zu ihm hinwarf und
dann, ohne aufzustehen, ihre Augen in die aufgestützte Hand begrub.
Der Raugraf faltete die Stirn, und nach einer Weile sprang er auf
und schritt durch den Saal, bis er vor ihr stand.--Als sie auch
jetzt nicht aufblickte, legte er den Arm um sie und zog sie mit
einer raschen Bewegung zu sich empor. Er schien einige Worte mit
Heftigkeit hervorzustoßen; ich war indes zu weit entfernt, um etwas
davon verstehen zu können. Dann trat er mit ihr an die Spitze der
übrigen Paare und eröffnete den Tanz.
Sie war eine voll ausgewachsene Mädchengestalt, aber gleichwohl
reichte sie ihm nur bis an die Brust. Ich sah ihnen lange nach;
sie hatte den Kopf in den Nacken fallen lassen, während sie fast
von seinem Arm getragen wurde und nur mit den Fußspitzen den Boden
berührte; er neigte sich über sie, und seine Augen lagen
unbeweglich wie die eines jungen Raubvogels auf ihrem Antlitz, das
sie mit geschlossenen Lidern ihm entgegenhielt. Als der Tanz zu
Ende war, führte er sie an ihren Platz und ließ sie leicht aus
seinen Armen auf den Stuhl gleiten.
Die Pause dauerte indes nicht lange. Bald entstand eine Unruhe im
ganzen Saal; die Musik setzte in rasendem Tempo ein, und die Paare
reihten sich stürmisch aneinander.
Der Tanz begann aufs neue, Gelächter und ausgelassene Rufe flogen
durch die Runde; immer wilder sah ich die kleinen leichtfertigen
Füßchen über die dunkeln Flecke des Fußbodens gleiten. Endlich kam
es zu einer Tour, durch deren ungestüme Ausführung die ganze Reihe
der armen Kinder unausbleiblich zu Fall gebracht wurde.
Dann wie auf einen Wink schwieg die Musik, und während ihre Tänzer
lachend über sie hinwegsprangen, standen sie mit heißen Gesichtern
auf und strichen sich das Haar aus der Stirn oder suchten den Staub
von ihrem mühsam erarbeiteten Ballstaat abzuschlagen.--Ich weiß
nicht, war es noch ein Rest von dem Zerstörungstriebe des Kindes,
oder war es der allen Menschen innewohnende Drang, sich gegen das
aufzulehnen, dessen Einfluß man sich nicht entziehen kann--es
schien, als wenn die akademische Jugend sich in übermütiger
Herabwürdigung des Weibes gar nicht genugtun konnte.
Lore, die ich nicht außer acht gelassen, saß einsam auf demselben
Platze, wohin sie von dem Raugrafen geführt worden war. Sie schien
es sich erzwungen zu haben, daß zu jenem Tanze niemand sie auch nur
aufgefordert hatte.
Während bald darauf, vielleicht des Kontrastes halber, ein
Kontertanz mit aller Feierlichkeit ausgeführt wurde, ging ich mit
einem Bekannten in das Seitenzimmer. Wir trafen mehrere ältere
Studenten, und bald waren wir, unsre Bierseidel vor uns, in
ein alle gleicherweise interessierendes Gespräch über die
Eventualitäten des bevorstehenden Examens vertieft.
Als nebenan die Musik absetzte, kamen noch einige der Tanzpaare zu
uns an den Tisch; der Raugraf mit Lore war auch darunter.--Sie
setzte sich neben ihn, während er die Speisekarte musterte, und
bald hatte der Kellner einige Schüsseln und eine Flasche Champagner
vor den beiden hingestellt. Der Kork wurde behutsam abgenommen--
der Raugraf ließ niemals einen Champagnerpfropfen knallen--, und
der schäumende Wein floß in die Gläser. Die andern Mädchen, denen
ein einfacheres Mahl serviert war, stießen ihre Tänzer heimlich
mit den Ellenbogen; und auch meine Aufmerksamkeit war bald
ausschließlich auf dieses Paar gerichtet.--Lore hatte ihr blasses
Gesicht in die eine Hand gestützt, während die andre wie vergessen
an dem Fuß des vollen Glases ruhte; der Raugraf beschäftigte sich
behaglich mit seinem Lerchensalmi und schlürfte schweigend seinen
Wein dazu. "Willst du nicht essen, Lore?" fragte er endlich.
Sie schüttelte den Kopf.
Er sah sie einen Augenblick an. "Du willst nicht?--Nun", setzte
er ruhig hinzu, "deine Sache!" Dann schenkte er sich ein und setzte
seine Mahlzeit fort.
Das Mädchen hatte indessen ihr Glas an die Lippen geführt und es
mit einem durstigen Zug hinabgetrunken. Ohne den Kopf zu erheben,
der noch immer müde in ihrer Hand ruhte, nahm sie die Flasche und
hielt sie schwebend über dem leeren Glase, so daß der Wein langsam
hineinfloß und nur allmählich schäumend in dem Kelch aufstieg.
Ihre Augen blickten mit einem Ausdruck von Trostlosigkeit darauf,
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