Auf der Universität Lore - 2

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anstrengenden Damendienst umzusehen; aber ich schwenkte zeitig ab;
denn weiterhin unter deiner Gesellschaft von Frauen und Mädchen aus
dem Handwerkerstande hatte ich Lenore Beauregard bemerkt, mit der
ich seit jenem Tanzabende nicht wieder zusammengetroffen war.
Die jungen Dirnen ließen sich, eine nach der andern, von einem
Lehrburschen unsers Haustischlers in einem leichten Schiebschlitten
fahren, den ich sofort als den meines früheren Spielgenossen
Christoph erkannte. Auch seine Schwester bemerkte ich; er selbst
war nicht dabei. Der Glanz des Eisspiegels mochte ihn weiter auf
den See hinausgelockt haben; denn er war einer der besten
Schlittschuhläufer unter den Knaben der Stadt.
Ich schwärmte eine Zeitlang umher, unschlüssig, wie ich am
manierlichsten Lenore meine Dienste anbieten möchte; aber jedesmal,
wenn ich mich näherte, wich sie sichtlich aus und verbarg sich
zwischen den andern. Eben kam der Bursche wieder von einer Fahrt
zurück. "Lenore ist an der Reihe!" hieß es; aber Lore wollte nicht.
"Barthel muß erst einmal trinken", sagte sie und drückte dem
Jungen etwas in die Hand.
Ich hörte dies kaum, so hatte ich auch schon meinen Plan gefaßt.
Als ginge mich alles nichts mehr an, lief ich so rasch wie möglich
nach den Zelten zu. Dicht davor wurde ich von Fritzens Mutter
angerufen. "Philipp", sagte sie neckend und mit dem Daumen nach
der Seite weisend, von wo ich hergekommen, "wenn du die Lore wieder
fangen willst--da ist sie!"
"Freilich will ich sie fangen!" rief ich und segelte vorbei.
"Ja, ja; aber sie will nichts mehr wissen von euch jungen Herren!"
Ich hörte nur noch aus der Ferne. Schon stand ich vor dem großen
Weinzelte; und als auch Barthel sich bald darauf einfand, hatte ich
mit dem Opfer meiner ganzen Barschaft ein Glas Punsch und ein mit
Wurst belegtes Butterbrot für ihn in Bereitschaft. "Laß dir's
schmecken", sagte ich, indem ich beides vor ihn hinschob, "die
Mädchen machen dir das Leben gar zu sauer."
Der Junge aß und trank mit solchem Appetit, daß ich meinen
Bestechungsversuch fortzusetzen wagte. "Wie wär es, Barthel, wenn
ich dich einmal ablöste?"
Er wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und kaute
ruhig weiter; nur mitunter, während ich ihm meine Verhaltungsregeln
auseinandersetzte, nickte er zum Zeichen, daß er mich verstanden habe.
Als seine Mahlzeit beendigt war, kehrte er zu seiner Gesellschaft
zurück, und bald darauf sah ich Lore, ihr schwarzseidenes
Pelzkäppchen auf dem Kopf, die Hände in ihren kleinen Muff
gesteckt, im Schlitten sitzen, und Barthel steuerte langsam
und schwerfällig am Rande des Sees dahin.--Als sie aus dem
Menschengewühl heraus waren, fuhr ich unhörbar auf meinen ebenen
Schlittschuhen hinterher. Noch ein paar Augenblicke; dann
legte meine Hand sich auf den Schlitten, und der Bursche blieb
zurück. Ich hätte aufjauchzen mögen; aber ich biß die Zähne
zusammen; und fort wie auf Flügeln schoß das leichte Gefährt über
die glänzende Eisfläche.
"Barthel, du fliegst ja!" sagte Lore.
Ich hielt ein wenig inne; ich fürchtete, mich verraten zu haben,
und suchte, so gut es gehen wollte, das Scharren von Barthels
rostigen Schlittschuhen nachzuahmen. Aber meine Besorgnis war
unnötig. Lore steckte ihre Hände tiefer in den Muff und lehnte
sich behaglich zurück, so daß das Pelzkäppchen fast auf meinem Arm
ruhte. "Nur immer zu, Barthel!" sagte sie. Und Barthel ließ sich
das nicht zweimal sagen.
Schon hatten wir den Bereich der gewöhnlichen Schlittschuhläufer
hinter uns gelassen; kein Lüftchen regte sich, das weiß bereifte
Schilf, das sich weithin dem Ufer entlang zieht, glitzerte blendend
in den schräg fallenden Sonnenstrahlen. Immer weiter ging es; wenn
ich niederblickte, konnte ich die schlangenartigen Triebe des
Aalkrautes unter der durchsichtigen Glasdecke erkennen.
Aber die Mitte des Sees lockte mich; unmerklich wandte ich den
Schlitten, und immer größer wurde der Raum, der uns vom Ufer
trennte. Schon konnte ich beim Zurückblicken nur noch kaum das
Blinken des Schilfes unterscheiden; geheimnisvoll dehnte sich die
dunkle Spiegelfläche bis zum andern, weit entfernten Ufer, kaum
erkennbar, ob eine feste tragende Eisdecke oder nur ein
regungsloses trügliches Gewässer. Endlich war die Mitte erreicht.
Jede Spur eines menschlichen Fußes hatte aufgehört; wie verloren
schwebte der Schlitten über der schwarzen Tiefe. Keine Pflanze
streckte ihr Blatt hinauf an die dünne kristallene Decke; denn der
See soll hier ins Bodenlose gehen. Nur mitunter war es mir, als
husche es dunkel unter uns dahin.--War das vielleicht der
Sargfisch, der in den untersten Gründen dieses Wassers hausen soll,
der nur heraufsteigt, wenn der See sein Opfer haben will?--Wenn
es wäre, dachte ich, wenn es bräche! Und meine Augen suchten die
dunkeln Hüllen zu durchdringen, in denen ich die liebliche Gestalt
verborgen wußte.--
Wieder hatte ich den Schlitten gewandt und fuhr jetzt geradeaus,
mich immer in der Mitte haltend. Vor uns, dort, wo der See seine
Ufer zu einem schmalen Strom zusammendrängt, war in der Ferne schon
die Brücke zu erkennen; wie ein Schatten stand sie in der grauen
Luft.
"Mach zurück, Barthel! Es wird kalt!" sagte Lore.
Ich achtete nicht darauf. Mag sie sich umblicken, dachte ich und
schob nur um so rascher vorwärts. Ich wartete jetzt fast mit
Ungeduld darauf. Aber sie schien ihre Mahnung schon vergessen zu
haben; denn sie senkte schweigend den Kopf und wickelte sich fester
in ihren Mantel.--Und weiter flog der Schlitten. Mitunter war
mir, als spürte ich unter uns eine leise Wellenbewegung, als hebe
und senke sich die dünne Kristalldecke unter der über sie
hinfliegenden Last; aber ich hatte keine Furcht, ich wußte, was man
dem jungfräulichen Eise bieten darf.
Der kurze Winternachmittag war indessen fast zu Ende gegangen;
schon lag der Sonnenball glühend am Rande des Horizonts. Es wurde
kalt, das Eis tönte. Und jetzt, in stetem Wachsen, lief ein
donnerndes Krachen von einem Ufer zum andern über den ungeheuern,
immer dunkler werdenden Eisspiegel.
Lore warf sich zurück und stieß einen lauten Schrei aus.
"Erschrick nicht!" sagte ich leise, "es hat nicht Not, es kommt nur
von der Abendluft."
Sie wandte sich um und starrte mich wie versteinert an. "Du!" rief
sie, "was willst du hier?"
"So nach doch nicht so böse Augen!" sagte ich und suchte ihre Hand
zu fassen.
Sie entriß sie mir. "Wo ist Barthel?"
"Er ist zurückgeblieben; ich habe dich gefahren."
Sie richtete sich auf. "Laß mich hinaus!" rief sie, indem ihr die
Tränen aus den Augen sprangen.
Ich hörte nicht auf sie; ich wandte nur den Schlitten nach der
Stadt zurück. "Lore", sagte ich, "was habe ich dir getan?"
Aber sie stieß mich mit der kleinen geballten Faust vor die Brust.
"Geh doch zu deinen feinen Damen! Ich will nichts mit euch zu tun
haben; mit dir nicht, mit keinem von euch!"
Es war wie Wut, was mich überfiel. Ich faßte sie mit beiden Armen
und drückte sie hart auf den Sitz nieder.
"Du bist ruhig, Lore", sagte ich, und die Stimme bebte mir, "oder
ich wende noch einmal den Schlitten und ich fahre dich in die Nacht
hinaus, unter der Brücke durch, so weit der Strom ins Land
hinausreicht; mir gleich, ob es hält oder bricht!"
Sie hatte währenddessen, fast als beachte sie meine Worte nicht,
seitwärts über den See geblickt; aber sie blieb sitzen und ließ
sich ruhig von mir fahren. Nur fiel es mir auf, daß sie bald
darauf wiederholt und wie verstohlen nach derselben Seite
blickte. Als auch ich den Kopf dahin wandte, sah ich einen
Schlittschuhläufer in nicht gar weiter Ferne auf uns zustreben. Er
mußte bemerkt haben, was soeben vorgefallen; denn er strengte sich
augenscheinlich an, uns zu erreichen.
Und schon hatte ich ihn erkannt; es war Christoph, mein alter
Spielkamerad, der große Feind der Lateiner. Ich wußte auch wohl,
was jetzt bevorstand; es galt nur noch, wer von uns der schnellste
sei.
"Nur zu!" sagte Lore, indem sie ihr Pelzkäppchen zurückschob, daß
ihr schwarzes Haar sichtbar wurde. "Er kriegt dich doch!"
Ich konnte nicht antworten; schneller als je zuvor trieb ich den
Schlitten vorwärts; aber ich keuchte, und meine Kräfte, von der
langen Fahrt geschwächt, begannen nachzulassen. Immer näher hörte
ich den Verfolger hinter mir; rastlos und schweigend war er uns auf
den Fersen; dann plötzlich hörte ich dich an meiner Seite seine
Schlittschuhe scharf im Eise hemmen, und eine schwere Hand fiel
neben der meinen auf die Lehne des Schlittens. "Halbpart, Philipp!"
rief er, indem er mit der andern an meine Brust griff.
Ich riß seine Hand los und stieß den Schlitten fort, daß er weit
vor uns hinflog. Aber in demselben Augenblick erhielt ich einen
Faustschlag und stürzte rücklings mit dem Hinterkopf auf das Eis.
Nur undeutlich hörte ich noch das Fortschurren des Schlittens; dann
verlor ich die Besinnung.
Ich blieb indes nicht lange in dieser Lage. Wie ich später von ihm
hörte, hatte Christoph bald darauf sich nach mir umgesehen und war,
da er mich nicht nachkommen sah, auf den Platz unsers Kampfes
zurückgekehrt. Nicht ohne große Bestürzung hatten dann beide,
nachdem Lore ausgestiegen, mich in den Schlitten gehoben.--Mir
selbst kam nur ein dunkles Gefühl von alledem; es war wie
Traumwachen. Mitunter verstand ich einzelne Worte ihres Gesprächs.
"Behalte doch deinen Mantel, Lore!" hörte ich Christoph sagen.--
"O nein; ich brauch ihn nicht; ich laufe ja."--Und zugleich fühlte
ich, daß etwas Warmes auf mich niedersank. Der Schlitten bewegte
sich langsam vorwärts. Dann kam es wieder wie Dämmerung über mich;
immer aber war es mir, als ginge ein leises Weinen neben mir her.
Zum völligen Bewußtsein erwachte ich erst in der Wohnstube und auf
dem Sofa des Wassermüllers, der hart am Ufer des Mühlenteichs
wohnte. Lore hatte mit ihrer Mutter, die mittlerweile auch
herausgekommen war, nach Hause gehen müssen; Christoph aber war
zurückgeblieben und hatte sich auf den Rat der Müllersfrau damit
beschäftigt, mir nasse Umschläge auf den Kopf zu legen. Als ich
die Augen aufschlug, saß er neben mir auf dem Stuhl, eine irdene
Schüssel mit Wasser zwischen den Knien. Er wollte eben das
Leintuch erneuern, aber er zog jetzt die Hand zurück und fragte
schüchtern: "Darf ich dir helfen, Philipp?"
Ich setzte mich aufrecht und suchte meine Gedanken zu sammeln; der
Kopf schmerzte mich. "Nein", sagte ich dann, "ich brauche deine
Hilfe nicht."
"Soll ich jemanden für dich aus der Stadt holen?"
"Geh nur; ich werde schon allein nach Hause kommen."
Christoph stand zögernd auf und setzte die Schüssel auf den Tisch.
Bald darauf knarrte die Stubentür; er hatte die Klinke in der Hand;
aber er ging nicht fort. Als ich mich umwandte, sah ich die Augen
meines alten Kameraden mit dem Ausdruck der ehrlichsten Traurigkeit
auf mich gerichtet.
Nur eine Sekunde noch war ich unschlüssig. "Christoph", sagte ich,
indem ich aufstand und ihm die Hand entgegenstreckte, "wenn du Zeit
hast, so bleibe noch ein wenig bei mir; du kannst mir deinen Arm
geben; wir gehen dann zusammen in die Stadt."
Wie ein Blitz der Freude fuhr es über sein Gesicht. Er ergriff
meine Hand und schüttelte sie. "Es war ein schändlicher Stoß,
Philipp!" sagte er.
Eine halbe Stunde später, da es schon völlig finster war, wanderten
wir langsam nach der Stadt zurück.
Aber die Sache ging nicht so leicht vorüber. Ich konnte am
folgenden Morgen das Bett nicht verlassen und mußte meinen Eltern
gestehen, daß ich einen schweren Fall auf dem Eise getan habe.
Am Abend des folgenden Tages, da ich schon fast wiederhergestellt
war, setzte meine Mutter ein Federkästchen von poliertem
Zuckerkistenholz vor mir auf den Tisch. "Der Christoph Werner hat
es gebracht", sagte sie; "er habe es selbst für dich gearbeitet."
Ich nahm das Kästchen in die Hand. Es war zierlich gemacht, sogar
auf dem Deckel mit einer kleinen Bildschnitzerei versehen.
"Er hat sich nach deinem Befinden erkundigt", fuhr meine Mutter
fort; "habt ihr denn draußen eure alte Freundschaft wieder neu
besiegelt?"
"Besiegelt, Mutter?--Wie man's nehmen will", sagte ich lächelnd.
Und nun ließ die gute Frau nicht nach, bis ich, von manchen Fragen
und zärtlichen Vorwürfen unterbrochen, ihr mein ganzes kleines
Abenteuer gebeichtet hatte.--Aber es wurde, wie sie gesagt; der
Lateiner und der Tischlerlehrling erneuerten ihre Kameradschaft,
und zweimal wöchentlich zur bestimmten Stunde ging ich von nun an
regelmäßig in die Werkstatt des alten Tischlers Werner, um unter
der Anleitung des geschickten Mannes wenigstens die Anfangsgründe
seines Handwerks zu erlernen.

Das ist die Drossel, die da schlägt,
Der Frühling, der mein Herz bewegt,
Ich fühle, die sich hold bezeigen,
Die Geister aus der Erde steigen;
Das Leben fließet wie ein Traum.
Mir ist wie Blume, Blatt und Baum.
Es war Frühling geworden. Die Nachtigall zwar verkündigte ihn
nicht; denn, wenn auch mitunter eine sich zu uns verflog, die
Nordwestwinde unsrer Küste hatte sie bald wieder hinweggeweht; aber
die Drossel schlug in den Baumgängen des alten Schloßgartens, der
im Schutze der Stadt, in dem Winkel zweier Straßen lag. Dem
Haupteingange gegenüber, auf einem Rasenplatz hinter den Gärten der
großen Marktstraße, war seit gestern ein Karussell aufgeschlagen;
denn es war nicht nur Frühling, es war auch Jahrmarkt, eine ganze
Woche lang. Die Leierkastenmänner waren eingezogen und vor allem
die Harfenmädchen; die Schüler mit ihren roten Mützen streiften Arm
in Arm zwischen den aufgeschlagenen Marktbuden umher, um womöglich
einen Blick aus jungen asiatischen Augen zu erhaschen, die zu
gewöhnlichen Zeiten bei uns nicht zu finden waren.--Daß während
des Jahrmarktes die Gelehrtenschule, wie alle andern, Ferien machte,
verstand sich von selbst.--Ich hatte das vollste Gefühl dieser
Feiertage, zumal ich seit kurzem Primaner war und infolgedessen
neben meiner roten Mütze einen schwarzen Schnürenrock nach eigner
Erfindung trug. Brauchte ich nun doch auch nicht mehr wie sonst
abends an dem Treppeneingang des erleuchteten Ratskellers
stehenzubleiben, wo sich allzeit das schönste lustigste Gesindel
bei Musik und Tanz zusammenfand; ich konnte, wenn ich ja wollte,
nun selbst einmal hinabgehen und mich mit einem jener fremdartigen
Mädchen im Tanze wiegen, ohne daß irgend jemand groß danach gefragt
hätte.--Aber grade zu solchen Zeiten liebte ich es mitunter,
allein ins Feld hinauszustreifen und in dem sichern Gefühl, daß sie
da seien und daß ich sie zu jeder Stunde wieder erreichen könne,
alle diese Herrlichkeiten für eine Zeitlang hinter mir zu lassen.
So geschah es auch heute. Unter der Beihilfe meines Vaters, der
ein leidenschaftlicher Entomologe war, hatte ich vor einigen Jahren
eine Schmetterlingssammlung angelegt und bisher mit Eifer
fortgeführt. Ich war nach Tische auf mein Zimmer gegangen und
stand vor dem einen Glaskasten, deren schon drei dort an der Wand
hingen. Die Nachmittagssonne schimmerte so verlockend auf den
blauen Flügeln der Argusfalter, auf dem Samtbraun des Trauermantels;
mich überkam die Lust, einmal wieder einen Streifzug nach dem noch
immer vergebens von mir gesuchten Brombeerfalter zu unternehmen.
Denn dieses schöne olivenbraune Sommervögelchen, welches die
stillen Waldwiesen liebt und gern auf sonnigen Gesträuchen ruht,
war in unsrer baumlosen Gegend eine Seltenheit.--Ich nahm meinen
Kescher vom Nagel; dann ging ich hinab und ließ mir von meiner
Mutter ein Weißbrötchen in die Tasche stecken und meine Feldflasche
mit Wein und Wasser füllen. So ausgerüstet, schritt ich bald über
den Karussellplatz nach dem Schloßgarten, dessen Baumgänge schon
von jungem Laube beschattet waren, und von dort weiter durch die
dem Haupteingange gegenüberliegende Pforte ins freie Feld hinaus.
Es hatte die Nacht zuvor geregnet, die Luft war lau und klar; ich
sah drüben am Rande des Horizonts auf der hohen Geest die Mühle
ihre Flügel drehen.
Eine kurze Strecke führte noch der Weg an der Außenseite des
Schloßgartens entlang; dann wanderte ich aufs Geratewohl auf
Feldwegen oder Fußsteigen, welche quer über die Äcker führen, in
die sonnige schattenlose Landschaft hinaus. Nur selten, so weit
das Auge reichte, stand auf den Sand- und Steinwällen, womit die
Grundstücke umgeben sind, ein wilder Rosenstrauch oder ein andres
dürftiges Gebüsch; aber hier, wo in der Morgenfrühe die rauhen
Seewinde ungehindert überhin fahren, waren nur kaum die ersten
Blätter noch entfaltet. Ich schlenderte behaglich weiter; mehr die
Augen in die Ferne als nach dem gerichtet, was etwa neben mir am
Wege zwischen Gräsern und rot blühenden Nesseln gaukeln mochte.
So war, ohne daß ich es merkte, der halbe Nachmittag dahin. Ich
hörte es von der Stadt her vier schlagen, als ich mich an dem Ufer
des Mühlenteichs ins Gras warf und mein bescheidenes Vesperbrot
verzehrte. Eine angenehme Kühlung wehte von dem Wasserspiegel auf
mich zu, der groß und dunkel zu meinen Füßen lag. Dort in der
Mitte, wo jetzt über der Tiefe die kleinen Wellen trieben, mußte
der Schlitten gestanden haben, als Lore ihren Mantel über mich
legte. Ich blickte eine ganze Weile nach dem jetzt unerreichbaren
Punkte, den meine Augen in dem Fluten des Wassers nur mit Mühe
festzuhalten vermochten.--
Aber ich wollte ja den Brombeerfalter fangen! Hier, wo es
weitumher kein Gebüsch, kein stilles vor dem Winde geschütztes
Fleckchen gab, war er nicht zu finden. Ich entsann mich eines
andern Ortes, an dem ich vor Jahren unter der Anführung eines
ältern Jungen einmal Vogeleier gesucht hatte. Dort waren Koppel an
Koppel die Wälle mit Hagedorn und Nußgebüsch bewachsen gewesen; an
den Dornen hatten wir hie und da eine Hummel aufgespießt gefunden,
wie dies nach der Naturgeschichte von den Neuntötern geschehen
sollte; bald hatten wir auch die Vögel selbst aus den Zäunen
fliehen sehen und ihre Nester mit den braun gesprenkelten Eiern
zwischen dem dichten Laub entdeckt. Dort, in dem heimlichen Schutz
dieser Hecken, war vielleicht auch das Reich des kleinen seltenen
Sommervogels! Das "Sietland" hatte der Junge jene Gegend genannt,
was wohl soviel wie Niederung bedeuten mochte. Aber wo war das
Sietland?--Ich wußte nur, daß wir in derselben Richtung, wie ich
heute, zur Stadt hinausgegangen waren und daß es unweit der großen
Heide gelegen, welche etwa eine Meile weit von der Stadt beginnt.
Nach einigem Besinnen nahm ich mein Fanggerät vom Boden und machte
mich wieder auf die Wanderung. Durch einen Hohlweg, in den sich
das Ufer hier zusammendrängt, gelangte ich auf eine Höhe, von der
ich die vor mir liegende Ebene weit übersehen konnte; aber ich sah
nichts als Feld an Feld die kahlen ebenmäßigen Sandwälle, auf denen
die herbe Frühlingssonne flimmerte. Endlich, dort in der Richtung
nach einem Häuschen, wie sie am Rande der Heide zu stehen pflegen,
glaubte ich etwas wie Gebüsch zu entdecken.--Es war mindestens
noch eine halbe Stunde bis dahin, aber ich hatte heute Lust zum
Wandern und schritt rüstig drauflos. Hie und da flog ein gelber
Zitronenfalter oder ein Kreßweißling über meinen Weg, oder eine
graue Leineule kletterte an einem Grasstengel; von einem
Brombeerfalter aber war keine Spur.
Doch ich mußte schon mehr in einer Niederung sein; denn die Luft
wurde immer stiller; auch ging ich schon eine Zeitlang zwischen
dichten Hagedornhecken. Ein paar Male, wenn sich ein Lufthauch
regte, hatte ich einen starken lieblichen Geruch verspürt, ohne daß
ich den Grund davon zu entdecken vermocht hätte; denn das Gebüsch
an meiner Seite verwehrte mir die Aussicht. Da plötzlich sprang
zur Rechten der Wall zurück, und vor mir lag ein Fleckchen
hügeligen Heidelandes. Brombeerranken und Bickbeerengesträuch
bedeckten hie und da den Boden; in der Mitte aber an einem
schwarzen Wässerchen stand vereinzelt im hellsten Sonnenglanz ein
schlanker Baum. Aus den blendend grünen Blättern, durch die er
ganz belaubt war, sprang überall eine Fülle von zarten weißen
Blütentrauben hervor; unendliches Bienengesumm klang wie Harfenton
aus seinem Wipfel. Weder in der Gärten der Stadt noch in den
entfernteren Wäldern hatte ich jemals seinesgleichen gesehen. Ich
staunte ihn an; wie ein Wunder stand er da in dieser Einsamkeit.
Eine Strecke weiter, nur durch ein paar dürftige Ackerfelder von
mir getrennt, dehnte sich unabsehbar der braune Steppenzug der
Heide; die äußersten Linien des Horizonts zitterten in der Luft.
Kein Mensch, kein Tier war zu sehen, so weit das Auge reichte.--
Ich legte mich neben dem Wässerchen im Schatten des schönen Baumes
in das Kraut. Ein Gefühl von süßer Heimlichkeit beschlich mich;
aus der Ferne hörte ich das sanfte träumerische Singen der
Heidelerche; über mir in den Blüten summte das Bienengetön;
zuweilen regte sich die Luft und trieb eine Wolke von Duft um mich
her; sonst war es still bis in die tiefste Ferne. Am Rande des
Wassers sah ich Schmetterlinge fliegen; aber ich achtete nicht
darauf, mein Kescher lag müßig neben mir.--Ich gedachte eines
Bildes, das ich vor kurzem gesehen hatte. In einer Gegend, weit
und unbegrenzt wie diese, stand auf seinen Stab gelehnt ein junger
Hirte, wie wir uns die Menschen nach den ersten Tagen der
Weltschöpfung zu denken gewohnt sind, ein rauhes Ziegenfell als
Schurz um seine Hüften; zu seinen Füßen saß--er sah auf sie herab--
eine schöne Mädchengestalt; ihre großen dunkeln Augen blickten in
seliger Gelassenheit in die morgenhelle Einsamkeit hinaus.--
"Allein auf der Welt" stand darunter.--Ich schloß die Augen; mir
war, als müsse aus dem leeren Raum dies zweite Wesen zu mir treten,
mit dem selbander jedes Bedürfnis aufhöre, alle keimende Sehnsucht
gestillt sein. "Lore!" flüsterte ich und streckte meine Arme in
die laue Luft.
Indessen war die Sonne hinabgesunken, und vor mir leuchtete das
Abendrot über die Heide. Der Baum war stumm geworden, die Bienen
hatten ihn verlassen; es war Zeit zur Heimkehr. Meine Hand
faßte nach dem Kescher.--Aber was kümmerte mich jetzt dies
Knabenspielzeug. Ich sprang auf und hängte ihn hoch, so hoch, wie
ich vermochte, zwischen den dichtbelaubten Zweigen des Baumes auf.
Dann, das Bild der schönen Schneidertochter vor meinen trunknen
Augen, machte ich mich langsam auf den Rückweg.
Die Dämmerung war stark hereingebrochen, als ich aus dem Portal des
Schloßgartens trat. Drüben am Karussell waren schon die Lampen
angezündet; Leierkastenmusik, Lachen und Stimmengewirr schollen zu
mir herüber; dazwischen das Klirren der Florette an den eisernen
Ringhaltern. Ich blieb stehen und blickte durch die Linden, welche
den Platz umgaben, in das bewegte Bild hinein. Das Karussell war
in vollem Gange; Sitzplätze und Pferde, alles schien besetzt, und
ringsumher drängte sich eine schaulustige Menge jedes Alters und
Geschlechts. Jetzt aber wurde die Bewegung des Karussells
langsamer, so daß ich unter den grünen Zweigen durch die einzelnen
Gestalten ziemlich bestimmt erkennen konnte.
Unwillkürlich war ich indessen näher getreten und hatte mich bis an
den Eisendraht gedrängt, der ringsum gezogen war.--Das Mädchen
dort auf dem braunen Pferd war die Schwester meines Freundes
Christoph. Aber es kam noch eine Reiterin, eine feinere Gestalt;
sie saß seitwärts, ein wenig lässig, auf ihrem hölzernen Gaule.
Und jetzt, während sie langsam näher getragen wurde, wandte sie den
Kopf und blickte lächelnd in die Runde. Es war Lore; fast wie ein
Schrecken schlug es mir durch die Glieder. Auch sie hatte mich
erkannt; a nur eine Sekunde lang hafteten ihre Augen wie betroffen
in den meinen; dann bückte sie sich zur Seite und machte sich an
ihrem Kleide zu schaffen. Das schwere eiserne Florett, das sie in
der kleinen Faust hielt, schien nicht umsonst von ihr geführt zu
sein; denn es war fast bis an den Knopf mit Ringen angefüllt.
Mittlerweile war der Eigentümer des Karussells herangetreten, um
für die neue Runde einzusammeln. Sie richtete sich auf und hielt
ihm ihr Florett entgegen. "Freigeritten!" sagte sie, indem sie es
umstürzte und die Ringe in die Hand des Mannes gleiten ließ.
Er nickte und ging an den nächsten Stuhl, wo eine Anzahl Kinder
sich um die besten Plätze zankten.--Als ich von dort wieder zu
Lore hinübersah, stand Christophs Schwester neben ihr; aber sie
wandte mir den Rücken und schien mich nicht bemerkt zu haben.
"Gehst du mit, Lore?" hörte ich sie fragen; "ich muß nach Hause."
Lore antwortete nicht sogleich; ihre Augen streiften mit einem
unsichern Blick zu mir hinüber. Ich wagte mich nicht zu rühren;
aber meine Augen antworteten den ihren, und mir selber kaum
vernehmlich flüsterten meine Lippen: "Bleib!"
"So sprich doch!" drängte die andre. "Es hat schon acht geschlagen.
" Lore steckte ihre Füßchen wieder in den Steigbügel, den sie hatte
fahren lassen, und die Augen auf mich gerichtet, erwiderte sie:
"Ich bleibe noch, ich hab' mich freigeritten!" Und leise setzte sie
hinzu: "Meine Mutter wollte vielleicht noch hier vorüberkommen!"
Ich fühlte, daß das gelogen sei. Das Blut schoß mir siedend heiß
ins Gesicht, es brauste mir vor den Ohren; die kleine Lügnerin
hatte plötzlich den Schleier des Geheimnisses über uns geworfen.
Es war zum erstenmal in meinem Leben, daß ich eine so berauschende
Zusage erhielt; bisher hatte ich nur manchmal darüber nachgesonnen,
wie in der Welt so etwas möglich sei.
Christophs Schwester hatte sich entfernt. Der Leierkasten begann
wieder seine Musik, die Peitsche klatschte über dem alten Gaul, und
unter dem Zuruf der Bauernburschen und--mädchen, die inzwischen die
meisten Plätze eingenommen hatten, setzte das Karussell sich wieder
in Bewegung. Lore sah nach mir zurück, sie hatte ihr Florett in
den Sattelknopf gestoßen und saß wie in sich versunken, die Hände
vor sich auf dem Schoß gefaltet. Das rote Tüchelchen an ihrem
Halse wehte in der Luft, und in immer rascherem Kreisen wurde
die leichte Gestalt an mir vorübergetragen; kaum fühlte ich
den Blitz ihres Auges in den meinen, so war sie schon fort,
und nur der Schimmer ihres hellen Kleides tauchte in der trüben
Lampenbeleuchtung noch ein paarmal flüchtig aus den immer tiefer
fallenden Schatten auf.--Plötzlich krachte etwas; die in den
Stühlen sitzenden Mädchen kreischten, und das Karussell stand.
"Bleiben Sie sitzen, meine Herrschaften", rief der Eigentümer,
indem er mit seinem Gehilfen über die Querbalken stieg, um den
Schaden zu untersuchen. Eine Laterne wurde heruntergenommen, es
wurde geklopft und gehämmert; aber es schien sich so bald nicht
wieder fügen zu wollen. Mir wurde die Zeit lang; meine Augen
suchten vergebens nach der kleinen Reiterin. Ich drängte mich aus
der Menschenmasse heraus, in die ich eingekeilt war, und ging von
außen nach der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Als ich mich
hier mit Bitten und Gewalt bis an die Barriere durchgearbeitet
hatte, stand ich dich neben ihr. Sie war von dem Holzgaul
herabgestiegen und blickte wie suchend um sich her.
Nach einer Weile steckte sie das Florett, das sie spielend in der
Hand gehalten, wieder in den Sattelknopf und machte Miene,
herabzuspringen. Aber während sie ihre Kleider zusammennahm, war
ich in den Kreis geschlüpft.
"Guten Abend, Lore!"
"Guten Abend!" sagte sie leise.
Dann, während die Bauernburschen immer lauter ihr Eintrittsgeld
zurückforderten, faßte ich ihre Hand und zog sie mit mir hinaus ins
Freie. Aber hier war meine Verwegenheit zu Ende. Lore hatte mir
ihre Hand entzogen, und wir gingen wortlos und befangen
nebeneinander der Straße zu, an deren äußerstem Ende sich das Haus
ihrer Eltern befand.--Als wir den zur Seite liegenden Eingang des
Schloßgartens erreicht hatten, kam uns von der Straße her ein Trupp
von Menschen entgegen, an deren lauten Stimmen ich einzelne meiner
ausgelassensten Kommilitonen erkannte. Unwillkürlich blieben wir
stehen.
"Wir wollen durch den Schloßgarten!" sagte ich.
"Es ist so weit!"
"Oh, es ist nicht so viel weiter!"
Und wir gingen durch das Portal in den breiten Steig hinab,
welcher zwischen niedrigen Dornhecken zu einem Laubgange von
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