Auf der Universität Lore - 1

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Auf der Universität Lore
Theodor Storm



Ich hatte keine Schwester, welche mir den Verkehr mit Mädchen
meines Alters hätte vermitteln können; aber ich ging in die
Tanzschule. Sie wurde zweimal wöchentlich im Saale des städtischen
Rathauses gehalten, welches zugleich die Wohnung des Bürgermeisters
bildete. Mit dessen Sohn, meinem treuesten Kameraden, waren wir
acht Tänzer, sämtlich Sekundaner der Lateinischen Schule unsrer
Vaterstadt. Nur in betreff der Tänzerinnen hatte sich anfänglich
eine scheinbar unüberwindliche Schwierigkeit herausgestellt; die
achte standesmäßige Dame war nicht zu beschaffen gewesen.
Allein Fritz Bürgermeister wußte Rat. Eine frühere bei allen
Festschmäusen von der Frau Bürgermeisterin noch immer zugezogene
Köchin seiner Eltern war an einen Flickschneider verheiratet, einen
gelben hagern Menschen mit französischem Namen, der lieber im
Wirtshaus das große Wort, als auf seinem Schneidertisch die Nadel
führte. Die Leute wohnten am Ende der Stadt, dort, wo die Straße
dem Schloßgarten gegenüberliegt. Das schmale Häuschen mit der
großen Linde davor, welche das einzige neben der Tür befindliche
Fenster fast ganz beschattete, war uns wohlbekannt; wir waren oft
daran vorübergegangen, um einen Blick des hübschen Mädchens zu
erhaschen, das hinter den Reseda- und Geranientöpfen an einer
Näharbeit zu sitzen pflegte und in unsern Knabenphantasien eine
nicht unbedeutende Rolle spielte. Es war das einzige Kind des
französischen Schneiders, ein dreizehnjähriges zierliches Mädchen,
das auch in der Kleidung, trotz der geringen Mittel, von der Mutter
in großer Sauberkeit gehalten wurde. Die bräunliche Hautfarbe und
die großen dunkeln Augen bekundeten die fremdländische Abkunft
ihres Vaters; und ich entsinne mich noch, daß sie ihr schwarzes
Haar sehr tief und schlicht an den Schläfen herabgestrichen trug,
was dem ohnehin kleinen Kopfe ein besonders feines Aussehen gab.
Fritz und ich waren uns bald miteinander einig, daß Leonore
Beauregard die achte Dame werden müsse. Zwar hatten wir mit
Hindernissen zu kämpfen; denn die übrigen kleinen Fräulein und
"gnädigen" Fräulein wurden sehr seriös und einsilbig, als wir
unsern Vorschlag mitzuteilen wagten; allein die Künste ihres
Lieblingssohnes hatten die Bürgermeisterin auf unsre Seite gebracht,
und vor dem heitern und resoluten Wesen dieser wackern Frau
vermochten weder die gerümpften Näschen der kleinen Damen, noch,
was gefährlicher war, die bestimmten Einwände ihrer Mütter
standzuhalten.
So waren wir denn eines Nachmittags unterwegs nach dem Häuschen des
französischen Schneiders.--Sonst hatte ich oft wohl bedauert, daß
meine Kameradschaft mit dem Sohne unsers Haustischlers eingegangen
war, dessen Schwester fast täglich mit der kleinen Beauregard
verkehrte; ich hatte auch wohl daran gedacht, die Bekanntschaft
wieder anzuknüpfen und mich in der Werkstatt seines Vaters in der
Schreinerei unterweisen zu lassen; denn Christoph war im übrigen
ein ehrlicher Junge und keineswegs auf den Kopf gefallen; nur daß
er auf die Schüler der Gelehrtenschule, "die Lateiner", wie er mit
einer unangenehmen Betonung sagte, einen wunderlichen Haß geworfen
hatte; auch pflegte er sich unter Beihilfe gleichgesinnter Freunde
auf dem Exerzierplatz von Zeit zu Zeit mit den Lateinern nach
Leibeskräften durchzuprügeln, ohne daß jedoch durch diese
Schlachten ein Ende des Krieges erzielt wäre.
Nun bedurfte ich jener Vermittlung nicht; denn schon waren wir vor
dem Hause und schritten über die gelben Blätter der Linde, die der
Novembersturm herabgefegt hatte, auf die niedrige Haustür zu. Bei
dem Klingeln der Schelle kam uns Frau Beauregard aus der Küche
entgegen, und nachdem sie sich sorgsam ihre Hände an der weißen
Schürze abgetrocknet, wurden wir in das kleine Wohnstübchen
genötigt.
Es war schwer, in dieser blonden untersetzten Frau die Mutter der
zarten dunkeln Mädchengestalt zu erkennen, die jetzt bei unserm
Eintritt von der Näharbeit aufsprang und sich dann mit einem
Ausdruck zwischen Neugier und Verlegenheit an die Schatulle lehnte.
Während Fritz unser Anliegen vorbrachte, überflog ein helles Rot
ihr Gesichtchen, und ich sah, wie ihre Augen leuchteten und größer
wurden; als aber die Mutter schwieg und nachdenklich den Kopf
schüttelte, stahl sie sich leise hinter ihrem Rücken fort und
verschwand durch eine anscheinend in die Schlafkammer führende Tür.
--Ich warf einen Blick nach dem Tische, vor dem sie bei unserm
Eintritt gesessen hatte. Zwischen Bändern und anderm Mädchenkram
standen ein Paar schmale Lastingschühchen, fertig bis auf die
Einfassung, womit, wie es schien, das Mädchen sich soeben noch
beschäftigt hatte. Die Dinger waren beunruhigend klein, und meine
Knabenphantasie ließ nicht nach, sich die Füßchen vorzustellen, die
mutmaßlich dahinein gehörten; mir war, als säh ich sie schon im
Tanze um die meinen herumwechseln, ich hatte sie bitten mögen, nur
einen Augenblick standzuhalten; aber sie waren da und waren wieder
fort und neckten mich unaufhörlich.
Während dieser visionären Träumerei hatte die Frau Beauregard mit
meinem Freunde, dem ich, wie billig, das Wort überlassen mußte,
Gründe und Gegengründe auszutauschen begonnen, bis sich die Sache,
nachdem auch der Name der Bürgermeisterin in die Waagschale gelegt
war, mehr und mehr zu unsern Gunsten neigte.
"Und da stehen ja schon die Tanzschuhe!" sagte Fritz. "Ist Herr
Beauregard denn auch ein Schuhmacher?"
Die Frau schüttelte den Kopf. "Sie wissen ja wohl, Fritz, daß er,
leider Gottes, ein Tausendkünstler ist! Er mußte Ihnen doch auch
Ihre Taschenuhr im Frühjahr reparieren!--Die Schühchen hat der
dem Kinde auf Weihnachten schon im voraus gemacht."
"Nun, Margret, und meine Mutter hat einen ganzen Koffer voll
schöner alter Kleider; da könnt Ihr neue daraus schneidern für die
Lore; es reicht jedes wenigstens ein vierteldutzendmal für sie."
Die Alte lächelte; aber sie wurde wieder ernst. "Ich weiß
nicht", sagte sie, "es sollte nicht sein; aber wenn die Frau
Bürgermeisterin es meint!"
Das Mädchen war indessen wieder eingetreten und hatte sich neben
die Mutter gestellt. Es entging mir nicht, daß sie ein weißes
Krägelchen umgetan hatte; auch meinte ich, die Ohrringe mit den
roten Korallenknöpfchen vorhin nicht an ihr gesehen zu haben.
"Was meinst du, Lore?" sagte Fritz, während die Mutter noch immer
nachdenklich und unschlüssig dreinsah, "hast du Lust, mit uns zu
tanzen?"
Sie antwortete nicht; aber sie faßte die Mutter mit beiden Händen
um den Hals und flüsterte ihr zu, während ihr Antlitz mit immer
tieferm Rot überzogen wurde.
"Fritz", sagte die Alte, indem sie sich sanft des ungestümen
Mädchens erwehrte, "ich wollte, Sie hätten mir die Geschichte erst
allein erzählt; es wäre dann nichts daraus geworden. So habt ihr
mir nun einmal das Mädel auf den Hals gehetzt; ich weiß es schon,
sie läßt mir keine Ruh!"--
Wir hatten also gesiegt. "Mittwoch abend um sieben Uhr!" rief
Fritz noch im Fortgehen; dann traten wir, von Mutter und Tochter
zur Tür begleitet, aus dem Hause.--Als wir uns nach einer Weile
umblickten, stand nur noch unsre junge Freundin da; sie nickte uns
ein paarmal zu und lief dann rasch ins Haus zurück.

Am Tage darauf war, wie mir Fritz vertraute, die Frau Beauregard
bei seiner Mutter gewesen, hatte mit ihr eine geraume Zeit in der
Kleiderkammer gekramt und dann mit einem wohlgefüllten Päckchen das
Haus verlassen.
Am Mittwochabend war die Tanzstunde. Ich hatte mir die lackierten
Schuhe mit Stahlschnallen und die neue Jacke erst im letzten
Augenblick von Schuster und Schneider herausgepocht und fand schon
alles versammelt, als ich in den Saal trat. Meine Kameraden
standen am Fenster um den alten Tanzmeister, der mit den Fingern
auf seiner Geige klimperte und dabei die Wünsche seiner jungen
Scholaren entgegennahm. Unsre Tänzerinnen gingen in Gruppen, die
Arme ineinander verschränkt, im Saale auf und ab.
Leonore war nicht unter ihnen; sie stand allein unweit der Tür und
blickte finster zu den lebhaft plaudernden Mädchen hinüber, die
sich so frei und unbehindert in dem fremden vornehmen Hause zu
fühlen schienen und sich so gar nicht um sie kümmerten.
Nichts ist selbstsüchtiger und erbarmungsloser als die Jugend.
Aber gleich nach mir war die Bürgermeisterin eingetreten. Nachdem
sie die junge Gesellschaft begrüßt und, wie Fritz sich ausdrückte,
einen ihrer Generalsblicke im Saal umhergeworfen hatte, schritt sie
auf Lore zu und nahm sie bei der Hand. "Damit die Pärchen
zueinander passen!" sagte sie zu dem Tanzmeister. "Rangieren Sie
einmal die Kavaliere!"--Dann, während dieser ihrem Auftrag Folge
leistete, wandte sie sich zu den Mädchen und begann mit ihnen
dieselbe Prozedur. Die blonde Postmeistertochter war die längste,
fast um einen Kopf höher als alle übrigen. Sie wurde uns gegenüber
an der Wand aufgestellt; dann nicht war die Sache zweifelhaft.
"Ich weiß nicht, Charlott'", sagte die Bürgermeisterin, "du oder
Lore! Ihr scheint mir ziemlich egal zu sein!"
Die Angeredete, die Tochter des Kammerherrn und Amtmanns,
retirierte einen Schritt. "Mamsell Lore wird wohl die größere
sein", sagte sie leichthin.
"Ei was, kleine Gnädige", rief die Mutter meines Freundes, "komm nur
heraus aus deiner Ecke und miß dich einmal mit der Mamsell Lore!"
Und die kleine Dame mußte hervor und sich dos-à-dos mit der
Schneidertochter messen; aber--ich hatte ein scharfes Auge darauf--
sie wußte es dennoch so zu machen, daß sie den dunkeln Kopf der
Handwerkertochter mit dem ihrigen kaum berührte.
Das junge Fräulein war in lichte Farben gekleidet; Lenore trug ein
schwarz und rot gestreiftes Wollenkleid, um den Hals einen weißen
Florschal. Die Kleidung war fast zu dunkel; sie sah fremdartig aus;
aber es stand ihr gut.
Die Bürgermeisterin musterte die beiden Mädchen. "Charlott'",
sagte sie, "du bist sonst immer die Meisterin gewesen; nimm dich in
acht, daß die dir nicht den Rang abläuft; sie sieht mir gerade
danach aus."
Mir war, als säh ich bei diesen Worten die schwarzen Augen des
Mädchens blitzen.
Nach einer Weile wurden die Paare formiert. Ich war der zweite in
der Reihe der Knaben, und Lore wurde meine Dame. Sie lächelte, als
sie ihre Hand in meine legte. "Wir wollen sie um und um tanzen!"
sagte ich.--Und wir hielten Wort. Es sollte zunächst eine
Mazurka eingeübt werden, und schon zu Ende dieser ersten Lehrstunde,
da eine Tour nicht gehen wollte, klopfte unser alter Maestro mit
dem Bogen auf den Geigendeckel: "Kleine Beauregard! Herr Philipp!
Machen Sie einmal vor!" Und während er die Melodie zugleich geigte
und sang, tanzten wir.--Es war keine Kunst, mit ihr zu tanzen,
ich glaube, es hätte niemandem mißglücken können; aber der alte
Herr rief ein begeistertes "Bravo!" nach dem andern, und die
wackere Frau Bürgermeisterin lehnte sich vor Behagen lächelnd weit
zurück in ihrem Sofa, wo sie seit Beginn des Unterrichts als
aufmerksame Zuschauerin Platz genommen hatte.
Fräulein Charlotte war meinem Freunde Fritz als Partnerin
zugefallen, und ihr lebhaftes Wesen schien, wie ich gern bemerkte,
ihn bald seine anfängliche Begeisterung für die Schneidertochter
vergessen zu machen. Da ich die letztere aber jetzt gewissermaßen
als mein Eigentum betrachtete, so war ich eifersüchtig auf die
Schönheit und Eleganz meiner Dame, und ein verweilender Blick ihrer
tadellos gekleideten Nebenbuhlerin, dem meine Augen gefolgt waren,
hatte mich belehrt, daß die Beschützerin des schönen Mädchens
dennoch eines nicht genügend bedacht hatte. Die Handschuhe waren
zu groß für diese schmalen Hände; sie waren offenbar auch schon
gewaschen.
Am andern Morgen, sobald ich aus der Klasse kam, ließ es mir keine
Ruhe mehr. Ich machte mich über den Schrank, worin meine blecherne
Sparbüchse aufbewahrt wurde, und grub und schüttelte so lange, bis
ich aus dem Spalt einen harten Taler neben der roten Tuchzunge
hervorgearbeitet hatte. Dann rannte ich in einen Kaufladen.--
"Ich wollte kleine Handschuhe!" sagte ich nicht ohne Beklommenheit.
Der Ladendiener warf einen sachverständigen Blick auf meine Hand.
"Nummer sechs!" meinte er, während er die Handschuhschachtel auf
den Tisch stellte. "Geben Sie mir Nummer fünf!" bemerkte ich
kleinlaut.
"Nummer fünf?--Wird wohl nicht passen!" und er machte Anstalt,
die Handschuhe über meine Hand zu spannen.
Es stieg mir siedend heiß ins Gesicht. "Sie sollen nicht für mich!"
sagte ich und bedauerte mehr als jemals den Mangel einer
Schwester, auf die ich den Handel hätte bringen können. Aber ich
war entzückt von den kleinen Handschuhen mit den weißen seidenen
Bändchen, die nun vor mir ausgebreitet lagen. Ich kaufte zwei Paar,
und bald nachdem ich den Laden verlassen, hatte ich einen Jungen
von der Straße aufgefischt. "Bring das an die Lore Beauregard",
sagte ich, "einen Gruß von der Frau Bürgermeisterin, hier wären die
Handschuhe für die Tanzstunde! Und dann bring mir Bescheid; ich
warte hier an der Ecke auf dich."
Nach zehn Minuten war der Junge wieder da.
"Nun?"
"Ich hab' sie der Alten gegeben."
"Was sagte die Alte?"
"Es wäre zuviel; die Frau Bürgermeisterin hätte diesen Morgen ja
schon ein Paar geschickt."
Gut! dachte ich; so merkt sie nichts.
In der nächsten Tanzstunde trug Lore die neuen Handschuhe; ich weiß
nicht, ob die meinen oder die von der Bürgermeisterin; aber sie
lagen wie angegossen um das schlanke Handgelenk; und nun sah keine
vornehmer aus als Lore in ihrem dunkeln Kleide.

Die Lehrstunden gingen nun ihren ebenen Lauf. Nachdem die Mazurka
eingeübt war, kam ein Kontertanz an die Reihe, in welchem Fritz und
Lore zusammen tanzten.--Ein Verhältnis dieser zu den andern
Mädchen wollte sich indessen nicht herausstellen, nur mit der
langen Jenni, welche die älteste und, wie ich glaube, die klügste
von ihnen war, sah ich sie ein paarmal im Gespräch zusammensitzen;
auch auf dem Heimwege, der beiden bis auf eine kleine Strecke
gemeinschaftlich war, legte Jenni wohl einmal ihren Arm auf den der
Schneidertochter. Sonst stand diese zwischen dem Tanzen meist
allein, wenn nicht der alte Lehrer mit seiner Geige einmal zu ihr
trat und ihr einen oder andern Ballettsprung aus den Zeiten seiner
Jugend vormachte, um seinen Liebling in die äußersten Feinheiten der
Kunst einzuweihen. Oft habe ich verstohlen zu ihr hinübergeblickt,
wie sie scheinbar teilnahmslos dem alten Mann zuhörte, nur mitunter
die schwarzen Augen zu ihm aufschlagend oder still und wie nur
andeutungsweise eine seiner künstlichen Figuren nachmachend.
Aber wenn wir angetreten waren und der Maestro seine Geige zu
streichen begann, wurde es anders. Zwar schien sie an nichts
weniger zu denken als an die Tritte und Wendungen des Tanzes,
es war fast, als blickten ihre Augen in entlegene Fernen; aber
während ihre Gedanken weit entrückt schienen, lächelte ihr Mund,
und ihre kleinen Füße streiften lautlos und spielend über den Boden.
--"Lore, wo bist du?" fragte ich dann wohl, während ich ihr in
der Tour die Hand reichte.--"Ich?" rief sie und strich, wie aus
Träumen auffahrend, ihr schwarzes Haar zurück, während die Wendung
des Tanzes sie mir schon wieder entführt hatte.--Noch jetzt, wenn
ich die spanische Tanzweise in Silchers ausländischen Volksmelodien
höre, kann ich immer nur an sie denken.
Einigermaßen hinderlich--ich will es nicht leugnen--war es mir,
daß seit den Tanzstunden der französische Schneider mich mit einer
auffälligen Gunst beehrte. Wo er mir nur begegnete, auf Straßen
oder Spazierwegen, suchte er mich zu stellen und ein möglichst
lautes und langes Gespräch mit mir anzuknüpfen. Schon das erstemal
erzählte er mir, daß sein Großvater unter Louis seize Ofenheizer in
den Tuilerien gewesen war.
"Ja, Monsieur Philipp" sagte er mit einem Seufzer und präsentierte
mir seine porzellanene Schnupftabaksdose, "so kann eine Familie
herunterkommen!--Aber meine Lore--Sie verstehen mich, Monsieur
Philipp!"--Er zog ein buntgewürfeltes Schnupftuch aus der Tasche
und trocknete sich die kleinen schwarzen Augen. "Was wollen Sie!
Ich bin ein armer Kerl, aber das Kind--sie ist mein Bijou, der
Abgott meines Herzens!" Und dabei blinzelte er und warf mir einen
so väterlichen Blick zu, als gedenke er auch mich in die
heruntergekommene Familie aufzunehmen.
Mittlerweile kam die letzte Tanzstunde heran, die zu einem kleinen
Ball erweitert werden sollte. Die Eltern waren eingeladen, um uns
tanzen zu sehen; von den meinigen hatte indessen nur meine Mutter
zugesagt, mein Vater wurde durch seinen Beruf als Arzt und
Bezirksphysikus von jeder Geselligkeit ferngehalten. Da meine
Ungeduld, sobald der Abend anbrach, mir keine Ruhe ließ, so trat
ich schon vor der angesetzten Stunde in den Saal, in welchem heute
auf den Wandleuchtern und in den Glaskronen alle Kerzen brannten.
Als ich mich umblickte, bemerkte ich Lore ganz allein mit dem
Rücken gegen mich an einem Fenster stehend. Bei dem Geräusch der
zufallenden Tür schrak sie sichtlich zusammen, während sie mit Hast
bemüht schien, einen goldenen Schmuck von ihrer Hand zu streifen.
Als ich zu ihr getreten, sah ich, daß es ein Armband war, dessen
Schloß sie vergeblich zu öffnen sich bemühte.
"So laß es doch sitzen, Lore!" sagte ich.
"Es gehört nicht mein!" antwortete sie verlegen, "Jenni hat es hier
vergessen."
Die feine Blumenrosette von mattem venezianischem Golde lag so
schimmernd auf dem braunen schlanken Handgelenk.
"Es sollte bleiben, wo es ist", sagte ich leise.
Lore schüttelte traurig den Kopf, und ihre Finger begannen aufs
neue an dem Schloß zu nesteln.
"Komm", sagte ich, "es geht ja nicht; ich will dir helfen!"--Ich
fühlte die leichte Last ihrer schmalen Hand in der meinen; ich
zögerte, meine Augen waren wie verzaubert.
"Oh, bitte, geschwind!" bat sie. Mit niedergeschlagenen Augen, wie
mit Blut übergossen stand das Mädchen vor mir.
Endlich sprang das Schloß auf, und Lore legte den goldenen Schmuck
schweigend zwischen die Blumentöpfe auf die Fensterbank.
Gleich darauf füllte sich der Saal. Auch Frau Beauregard hatte es sich
nicht nehmen lassen, wenigstens als Aufwärterin an dem Ehrenfeste ihres
Kindes teilzunehmen. In einer frisch gestärkten Haube, bald mit
Kuchenkörben, bald mit einem großen Präsentierteller beladen, ging
sie zwischen den Gästen ab und zu.--Endlich begannen die Musikanten
anzustreichen, deren heute vier an einem Tische saßen. Der alte
Tanzmeister klopfte auf den Geigendeckel, und Lore reichte mir die
Hand zur Mazurka.--Und, oh, wie tanzten wir! Wie sicher lag sie in
meinem Arm, mit welcher Verachtung stampften die kleinen Füße den
Boden! Auch mich riß es hin, als wenn ich von den Rhythmen der Musik
getragen würde. Es war wie eine schmerzliche Leidenschaft; denn wir
tanzten heute, vielleicht auf immer, zum letztenmal zusammen.
Erst jetzt hatte ich bemerkt, daß Lore ein Kleid von leichtem
hellgeblümtem Wollstoff trug. Es war wie das vorige augenscheinlich
aus der Garderobe ihrer Gönnerin hervorgegangen; denn auf der
breiten Brust und bei den etwas kupferigen Wangen der Frau
Bürgermeisterin hatten diese farbigen Rosenbuketten im letzten
Winter eine Art von komischer Berühmtheit erlangt; nun aber kam das
zarte Muster zu seiner Geltung; dem frischen braunen Mädchenantlitz
stand es wunderhübsch.
Die Mazurka war getanzt; Lore ließ wieder ihr dunkles Köpfchen und
die schlanken Arme sinken, und ich führte sie an ihren Platz.--
Fritz und Charlotte, die ebenfalls abgetreten waren, saßen dicht
daneben. In demselben Augenblick kam auch Frau Beauregard mit Tee
und Kuchen; sie sprach nicht zu ihrer Tochter, sie warf nur einen
lächelnden stolzen Blick auf sie, als sie nach der vornehmen Dame
auch ihr präsentieren durfte. Die kleine Gnädige hatte schon eine
Weile beide mit der ihr eigentümlichen Lässigkeit gemustert. "Ihre
Tochter ist ja heute sehr schön, Frau Beauregard!" sagte sie,
während sie den Zucker in die Tasse fallen ließ.
Die geschmeichelte Frau neigte sich verbindlich. "Gnädiges
Fräulein, Frau Bürgermeisterin haben auch ausgeholfen."
"Ach!--Darum auch!--Die Rosenbuketts!"--Und sie ließ einen
langen Blick über Lenore hingleiten. Diese wollte ihr erwidern,
aber ihre Augen verdunkelten sich; ich sah, wie ein paar Tränen ihr
über die Wangen herabfielen.
Charlotte schien das nicht zu bemerken; ihre Aufmerksamkeit hatte
sich nach der offenstehenden Tür gerichtet, wo ich zu meinem
Schrecken unter den Köpfen der zuschauenden Dienstboten das gelbe
Gesicht des französischen Schneiders auftauchen sah. Er schien
ganz à son aise, drehte die Porzellandose in der Hand und blickte
mit seinen schwarzen Augen freudestrahlend in den Saal hinein.
"Ist das Ihr Vater, Mamsell Lore?" fragte Charlotte, indem sie mit
dem Finger nach der Tür wies.
Lenore blickte hin und fuhr zusammen. "Mutter!" rief sie und faßte
wie unwillkürlich den Arm der noch vor uns beschäftigten Frau.
Frau Beauregard, als nun auch sie ihren lebhaft gestikulierenden
Eheherrn bemerkte, schien von dessen Anwesenheit keineswegs erbaut;
aber sie nahm sich zusammen. "Er kommt aus der Herberge", sagte
sie, "er will dich einmal tanzen sehen."
Während Lore, der ich unwillkürlich folgte, sich der Tür genähert
hatte, war schon der Bürgermeister zu ihrem Vater getreten und lud
ihn ein, sich ein Glas Punsch im Saal gefallen zu lassen. Aber der
Schneider war nicht zu bewegen. "Submissester Serviteur, Herr
Bürgermeister!" sagte er, indem er mit einem Katzenbuckel noch
einen Schritt weiter retirierte. "Wenn ich mein Großvater vom Hofe
Ludwigs des Sechzehnten wäre!--So aber kenne ich meine Stellung."
Als der Bürgermeister weggegangen, brachte Fritz ihm ein Glas an
die Tür. "Wohl bekomm's, Meister!" sagte er gutmütig. "Jetzt werd
ich mit der Lore tanzen! Die versteht's."
Aber in demselben Augenblick war auch der Schwarm der andern Knaben
mit vollen Gläsern in der Hand herangekommen. Sie stießen mit ihm
an, machten ihm seinen Katzenbuckel nach, den er ihnen jedesmal
beim Anklingen zum besten gab, und ergingen sich in allerlei
possenhaften Komplimenten.
Lore stand, ohne sich zu rühren, und ließ kein Auge von ihrem Vater;
aber ich hörte, wie ihre kleinen Zähne aufeinanderknirschten.
Als die Musikanten wieder zu stimmen begannen, liefen die übrigen
Knaben in den Saal zurück. Ich stand noch mit Lore an der Tür.
"Ah, Monsieur Philipp", rief der Schneider, während er mir die Hand
reichte, "lauter liebe, scharmante junge Herren! Aber im Vertrauen--
Sie und die Lore, Sie und die Lore, Monsieur Philipp!" Die kleinen
schwarzen Augen richteten sich dabei mit bewundernder Zärtlichkeit
auf das Antlitz seines Kindes; wie aus unwiderstehlichem Antrieb
streckte er seinen langen Arm in den Saal hinein und zog sie an
seine Brust. "Mein Kind, mon bijou!" flüsterte er. Und das
Mädchen küßte ihn und warf ihre Arme mit leidenschaftlicher,
schmerzlicher Zärtlichkeit um seinen Hals, während ihr feines
Köpfchen an seiner Schulter ruhte. Dann aber machte sie sich
los und faßte seine Hände und sprach leise und eindringlich
zu ihm. Ich verstand ihre Worte nicht; aber ich sah ihre
Augen bittend auf die seinen gerichtet und ihre kleine Hand,
die mitunter, als wolle sie ihm ein Leid vergüten, zittern über
seine hagern Wangen hinstrich. Zuerst schüttelte er lächelnd und
wie ungläubig den Kopf; allmählich aber verschwand aus seinen Augen
die freudestrahlende Sicherheit, womit er bisher seinen Platz
behauptet hatte. "Ich weiß, ich weiß", murmelte er, "du liebst
deinen armen alten Vater!" Und als nun die Musik zum Kontertanz
begann, drückte er seiner Tochter die Hand und ging stumm und ohne
auch nur einen Blick noch in den Saal hineinzuwerfen, den langen
Hausflur hinab.
In diesem Augenblick kam Fritz und holte seine Dame.--Sie tanzte
mit der gewohnten Sicherheit; nur war es nicht die sonstige
sorglose Träumerei, als vielmehr eine graziöse Feierlichkeit, womit
sie die Touren dieses Tanzes ausführte. Mitunter in den Pausen
blickte sie wie versteinert vor sich hin, während sie mit beiden
Händen ihr glänzend schwarzes Haar an den Schläfen zurückstrich.
Die Scherze ihres Tänzers schienen ungehört ihrem Ohr vorbeizugehen.
Mit dem Kontertanz waren unsre einstudierten Tänze zu Ende; aber
nicht unsre Tanzlust. Wir hatten noch Walzer, Schottisch und
Galoppaden auf unserm Zettel; sogar einen Kotillon, wozu ich in
Gedanken an Lore einen ausgesuchten Beitrag an Schleifen und
frischen Blumen geliefert hatte.
Aber Lore war nicht mehr im Saal. Die andern Mädchen standen bei
ihren Müttern und ließen sich von ihnen die verschobenen Schärpen
und Haarbänder zurechtzupfen. Frau Beauregard kam eben mit neuen
Erfrischungen zur Tür herein; sie hatte ihre Tochter nicht gesehen.
Nun suchte ich Fritz. Er stand in der Ecke am Musikantentisch und
füllte die leeren Gläser wieder. "Wo ist Lore?" fragte ich.
"Ich weiß nicht", erwiderte er verdrießlich; "sie war verdammt
einsilbig, mir hat sie's nicht verraten."
Ich zog ihn mit auf den Flur hinaus. Als wir an die Kammer kamen,
worin die Gesellschaft ihre Mäntel abgelegt hatte, trat sie uns
entgegen; sie hatte ihr Mäntelchen umgetan und ihr schwarzes
Seidenkäppchen auf dem Kopf. "Lore!" rief ich und suchte ihre Hand
zu fassen; aber sie entzog sie mir und ging an uns vorbei.
"Laß!" sagte sie kurz. "Ich will nach Haus!"
Einen Augenblick später hatte sie die schwere, nach der Straße
führende Tür aufgerissen und sprang draußen an dem Eisengeländer
die Steintreppe hinab, und als auch Fritz neben mir draußen auf den
Fliesen stand, war sie schon weit drunten in der Straße, daß wir in
der Dunkelheit ihre leichte flüchtige Gestalt nur kaum noch zu
erkennen vermochten.
"Laß sie!" sagte Fritz. "Oder hast du Lust auf die Wilde-Gans-
Jagd?"
Ich hatte zwar die Lust; ich wußte aber nicht recht, wie und es mit
Fug beginnen sollte.--So kehrten wir denn in den Saal zurück.
Frau Beauregard ging nach ihrer Wohnung; aber sie kehrte
unverichtetersache wieder. Der Lore sei unwohl geworden, sagte sie;
sie liege schon im Bett, der Vater sitze bei ihr.
Mir war nun der Rest des Abends verdorben; und als der Kotillon
beginnen sollte, den ich mit Lore zu tanzen gedachte, schlich ich
mich still und trübselig nach Hause.

Neujahr war vorüber. Schon längst hatte ich mit der glatten
Stahlsohle meiner holländischen Schlittschuhe geliebäugelt, nicht
ohne eine kleine Verachtung gegen meine Kameraden, welche sich noch
der hergebrachten scharfkantigen Eisen zu bedienen pflegten. Aber
erst jetzt war ein dauernder Frost eingetreten.
Es war an einem Sonntagnachmittage; über dem Mühlenteich, einem
mittelgroßen Landsee unweit der Stadt, lag ein glänzender
Eisspiegel. Die halbe Einwohnerschaft versammelte sich draußen in
der frischen Winterluft; von alt und jung, auf zweien und auf einem
Schlittschuh, sogar auf einem untergebundenen Kalbsknöchlein wurde
die edle Kunst des Eislaufs geübt.--In der Nähe des Ufers waren
Zelte aufgeschlagen, daneben auf dem Lande über flackerndem Feuer
dampften die Kessel, mit deren Hilfe allerlei wärmendes Getränk
verabreicht wurde. Hie und da sah man einen Schiebeschlitten, in
dem einen eingehüllte Mädchengestalt saß, aus dem Gewühl auf die
freie Fläche hinausschießen; aber alle hielten sich am Rande des
Sees; die Mitte mochte noch nicht geheuer scheinen.
Ich schnallte meine Stahlschuhe unter und machte einen einsamen
Lauf an dem Ufer entlang.--Als ich zurückkehrte, fand ich fast
die ganze Gesellschaft unsrer Tanzstunde bei den Zelten versammelt;
prüfend mit vorgestreckten Händen schritten die kleinen Damen in
ihren neuen Weihnachtsmänteln über die dort bereits ziemlich
zerfahrene Eisdecke. Fritz, der schon abends zuvor seinen gelben
Schlitten mit dem geschnitzten Hirschkopfe in der Mühle eingestellt
hatte, war eben von einer Fahrt mit Fräulein Charlotte zurückgekehrt;
und schon hatte eine andre unsrer Tänzerinnen den Platz unter
der prächtigen Tigerdecke eingenommen. Der Kavalier zögerte
indessen noch und schien sich nach einem Gehilfen für den
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