Waldwinkel - 2

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Sie nickte ernsthaft; dann, ruhig hinter ihm herschreitend, begleitete sie
den Alten auf den Hof hinab. Als dieser aus der Ringmauer hinausgetreten
und das schwere Tor hinter ihr abgeschlossen war, flog sie behende in das
Haus zurück. Mit dem Kopf an den Fensterbalken lehnend, blickte sie
droben vom Wohnzimmer aus dem Fortgehenden nach, der eben durch die
Kräuter an der jenseitigen Höhe emporschritt. Als er nebst seinem Hunde
drüben zwischen den Föhren verschwunden war, trat sie in die Mitte des
Zimmers zurück; sie erhob ihre kleine Gestalt auf den Zehen, atmete tief
auf, und langsam um sich blickend, drückte sie beide Hände auf ihr Herz.
Ein zufriedenes Lächeln flog über das in diesem Augenblicke besonders
scharf gezeichnete Gesichtchen.
Gleich darauf ging sie durch die Bibliothek in ihre Kammer, wohin nun auch
der Sonnenschein den Weg gefunden hatte. Vor den Spiegel tretend, löste
sie ihre schweren Flechten, daß das dunkelblonde Haar wie Wellen an ihr
herabflutete. So kniete sie vor ihren Koffer hin, kramte zwischen ihren
Habseligkeiten und räumte sie in die leeren Schubladen der Kommode. Ein
Kästchen mit Saftfarben, Pinseln und Zeichenstiften, einige Blätter mit
nicht ungeschickten Blumenmalereien waren dabei auch zum Vorschein
gekommen. Als alles geordnet war, flocht sie sich das Haar aufs neue und
kleidete sich dann so zierlich, als der mitgebrachte Vorrat es nur
gestatten wollte.
Wie beiläufig hatte sie inzwischen ein paar Butterbrötchen aus ihrer
Reisetasche verzehrt; jetzt, als müsse sie innerhalb dieser Mauern jedes
Fleckchen kennenlernen, schlüpfte sie auf leichten Füßen noch einmal durch
das ganze Haus; durch alle Zimmer, in die Küche, in den von dort
hinabführenden Keller; dann stieg sie auf einer bald von ihr erspähten
Treppe auf den Hausboden, über welchem hoch und düster sich das Dach erhob.
Es huschte etwas an ihr vorbei, es mochte ein Iltis oder ein Marder
gewesen sein; sie achtete nicht darauf, sondern tappte sich nach einer der
insgesamt geschlossenen Luken und rüttelte daran, bis sie aufflog. Es war
die Hinterseite des Daches, und unter ihr unabsehbar dehnte sich die Heide
aus, immer breiter aus dem Walde herauswachsend.
Hier in dem dunkeln Rahmen der Dachöffnung kauerte sie sich nieder; nur
ihre grauen Falkenaugen schweiften lebhaft hin und her, bald zur Seite
über die in der Mittagsglut wie schlummernd ruhenden Wälder, bald hinab
auf die kargen Räderspuren, welche über die Heide zu der soeben von ihr
verlassenen Welt hinausliefen.
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In der Zeit, die hierauf folgte, erfuhr das Wild in der Umgebung des
"Narrenkastens" eine ihm dort ganz ungewohnte Beunruhigung in der Stille
seines Sommerlebens. Aus den Kräutern der jungen Tannenschonung springt
plötzlich der Hirsch empor und stürmt, nicht achtend seines knospenden
Geweihes, in das nahe Waldesdickicht; draußen im Moorgrund fliegen zwei
stahlblaue Birkhähne glucksend in die Höhe, die seit Jahren hier
unbehelligt ihre Tänze aufführen durften; selbst Meister Reineke bleibt
nicht ungestört.
In einem alten Riesenhügel hat er sein Malepartus aufgeschlagen und sitzt
jetzt in der warmen Mittagssonne vor einem seiner Ausgänge, bald behaglich
nach den über der Heide spielenden Mücken blinzelnd, bald auf seine jungen
Füchslein schauend, die um ihn her ihre ersten Purzelbäume versuchen. Da
plötzlich streckt er den Kopf und bewegt horchend seine spitzen Ohren;
drüben, vom Saum des Buchenwaldes, hat die Luft einen ungehörigen Laut ihm
zugetragen.
Einige Minuten später schreitet ein nicht mehr junger, aber kräftiger Mann
über die Heide; ein großer, löwengelber Hund springt ihm voraus und steckt
die Schnauze in den Eingang des Hünengrabes, durch welchen kurz vorher der
Fuchs und seine Brut verschwunden sind; doch sein Herr ruft ihn zurück,
und er gehorcht ihm augenblicklich. Sie kommen eben aus dem Walde; jetzt
schreiten sie weiter über die Heide; bald werden sie zusammen dort den
Sumpf durchwaten. Sie sind unzertrennlich, sie tun das alle Tage; aber
die Tiere brauchen sich vor ihnen nicht zu fürchten; denn der Hund hat nur
Augen für seinen Herrn und dieser nur für die stille Welt der Pflanzen,
welche, einmal aufgefunden, seiner Hand nicht mehr entfliehen können;
heute sind es besonders die Moose und einige Zwergbildungen des
Binsengeschlechts; die er unbarmherzig in seine grüne Kapsel sperrt.
Mitunter geht auch ein Mädchen an seiner Seite; doch dies geschieht nur
selten und bei kürzeren Wanderungen. Meistens ist sie drüben an der
Wiesenmulde, hinter den hohen Mauern des "Waldwinkels"; dort geht sie in
Küch und Keller einer alten Frau zur Hand, deren gutmütiges Gesicht schon
durch die Einförmigkeit seines Ausdrucks eine langjährige Taubheit
verraten würde, wenn dies nicht noch deutlicher durch ein Höhrrohr
geschähe, das sie wie ein Jägerhörnchen am Bande über der Schulter trägt.
Das Mädchen weiß, daß die Alte einst die Wärterin ihres jetzigen Herrn
gewesen ist; sie zeigt sich ihr überall gefällig und sucht ihr alles an
den Augen abzusehen.--Anders steht sie mit dem Herrn selber; er hat keinen
Blick wieder von ihr erhalten wie damals in der Gerichtsstube, als er der
Aktuar des Bürgermeisters war, so ungeduldig er auch oft darauf zu warten
scheint. Zuweilen, wenn sie nach dem Mittagstische die Zimmer oben
geordnet hat, was stets mit pünktlicher Sauberkeit geschieht, sitzt sie
auch wohl am Fenster des kleinen Bibliothekszimmers und malt auf
bräunliche Papierblättchen eine Rispe oder einen Blütenstengel, den der
Doktor allein oder sie mit ihm aus der Wildnis draußen heimgebracht hat.
Dieser selbst steht dann oft lange neben ihr und blickt schweigend und wie
verzaubert auf die kleine, regsame Hand.
So war es auch eines Nachmittags, da schon manche Woche ihres
Zusammenlebens hingeflossen war. Er hatte einen Strauß aus Wollgras und
gesterntem Bärenlauch vor ihr zurechtgelegt, und sie war emsig beschäftigt,
ihn aufs Papier zu bringen. Mitunter hatte er ein kurzes Wort zu ihr
gesprochen, und sie hatte ebenso und ohne aufzublicken ihm geantwortet.
"Aber sind Sie denn auch gern hierhergekommen?" fragte er jetzt.
"Gewiß! Weshalb denn nicht? Bei dem Schuster roch das ganze Haus nach
Leder; und Bettelleute waren es auch."
"Bettelleute?--Weshalb sprechen Sie so hart. Franziska?"--Es schien, als
wenn er ihr zu zürnen suche; aber er vermochte es schon längst nicht mehr.
Eine Weile ließ er seine Augen auf ihr ruhen, während sie eifrig an einem
Blättchen fortschattierte; als keine Antwort erfolgte, sagte er: "Ich bin
kein Bettelmann, aber einsam ist es hier für Sie."
"Das hab ich gern", erwiderte sie leise und tauchte wieder den Pinsel in
die Farbe.
Neben ihr auf dem Tische lagen mehrere fertige Blättchen; er nahm eines
derselben, auf dem eine Blüte der Cornus suecica gemalt war, und schrieb
mit Bleistift darunter:
Eine andre Blume hatt ich gesucht--
Ich konnte sie nimmer finden;
Nur da, wo zwei beisammen sind,
Taucht sie empor aus den Gründen.
Er hatte das so beschriebene Blatt vor sie hingelegt; aber sie warf nur
einen raschen Blick darauf und schob es dann, ohne aufzusehen, wieder
unter die andern Blätter, indem sie sich tief auf ihre Zeichnung bückte.
Noch eine Weile stand er neben ihr, als könne er nicht fort; da sie aber
schweigend in ihrer Arbeit fortfuhr, so pfiff er seinem Hunde und schritt
mit diesem in den Wald hinaus.
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Es war ihm seltsam ergangen mit dem Mädchen. In augenblicklicher Laune,
fast gedankenlos, hatte er sie in den Kreis seines Lebens hineingezogen;
eine Zutat nur, eine Bereicherung für die einförmigen Tage hatte sie ihm
sein sollen;--und wie anders war es nun geworden! Freilich, die alte Frau
Wieb, für die trotz ihrer Taubheit die Welt kein störendes Geheimnis barg,
vermochte es nicht zu sehen; aber selbst der löwengelbe Hund sah es, daß
sein Herr in den Bann dieses fremden Kindes geraten, daß er ihr ganz
verfallen sei; denn mehr wie je drängte er sich an ihn und blickte ihn mit
fast vorwurfsvollen Augen an. Lange waren sie zweck- und ziellos
miteinander umhergestreift; jetzt, da schon die Dämmerung in den Wald
herabsank, lagerten Herr und Hund unweit des Fußsteiges unter einem großen
Eichenbaum, in dem um diese Zeit die Nebelkrähen sich zu versammeln
pflegten, bevor sie zu ihren noch abgelegeneren Schlafplätzen flogen.
Der Doktor hatte den Kopf gegen einen moosbewachsenen Granitblock gelehnt,
auf dem Franziska sich einige Male ausgeruht, wenn sie mit ihm von einem
Ausfluge hier vorbeigekommen war. Seine Augen blickten in das Geäst des
Baumes über ihm, wo Vogel um Vogel niederrauschte, wo sie
durcheinanderhüpften und krächzten, als hätten sie die Chronik des Tages
miteinander festzustellen; aber die schwarzgrauen Gesellen kümmerten ihn
im Grunde wenig; durch seine Phantasie ging der leichte Tritt eines
Mädchens, desselben, deren müde Füßchen noch vor kurzem an diesem Stein
herabgehangen hatten, gegen den er jetzt seinen grübelnden Kopf drückte.
Was hatte eine Betörung über ihn gebracht, wie er sie nie im Leben noch
empfunden hatte?--Alles andere, was er ein halbes Leben lang wie ein
unerträgliches Leid mit sich umhergeschleppt, es war wie ausgelöscht, er
begriff es fast nicht mehr. War es nur der Taumel, nach einem letzten
Jugendglück zu greifen? Oder war es das Geheimnis jener jungen Augen, die
mitunter plötzlich in jähe Abgründe hinabzublicken schienen?--So manches
hatte er an ihr bemerkt, das seinem Wesen widersprach; es blitzten Härten
auf, die ihn empörten, es war eine Selbständigkeit in ihr, die fast
verachtend jede Stütze abwies. Aber auch das ließ ihm keine Ruhe; es war
ein Feindseliges, das ihn zum Kampf zu fordern schien, ja von dem er zu
ahnen glaubte, es werde, wenn er es bezwungen hätte, mit desto heißeren
Liebeskräften ihn umfangen.
Er war aufgesprungen; er streckte die Arme mit geballten Fäusten in die
leere Luft, als müsse er seine Sehnen prüfen, um sogleich auf Leben und
Tod den Kampf mit der geliebten Feindin zu bestehen.
Über ihm in der Eiche rauschten noch immer die Vögel durcheinander; da
schlug der Hund an, und die ganze Schar erhob sich mit lautem Krächzen in
die Luft. Aber aus dem Walde hörte er ein anderes Geräusch; kleine
leichte Schritte waren es, die eilig näher kamen, und bald gewahrte er
zwischen den Baumstämmen das Flattern eines Frauenkleides. Er drückte die
Faust gegen seine Brust, als könnte er das rasende Klopfen seines Blutes
damit zurückdrängen.
Atemlos stand sie vor ihm.
"Franziska!" rief er. "Wie blaß Sie aussehen!"
"Ich bin gelaufen", sagte sie, "ich habe Sie gesucht."
"Mich, Franziska? Es wird schon dunkel hier im Walde."
Sie mochte die Antwort, nach der ihn dürstete, in seinem Antlitz lesen;
aber sie sagte einfach--und es war der Ton der Dienerin, welche ihrem
Herrn eine Bestellung ausrichtet: "Es ist jemand da, der Sie zu sprechen
wünscht."
"Der mich zu sprechen wünscht, Franziska?"
Sie nickte. "Es ist der Vormund, der Schuster", sagte sie beklommen, als
fühle sie das Pech an ihren Fingern.
"Ihr Vormund! Was kann der von mir wollen?"
"Ich weiß es nicht; aber ich habe Angst vor ihm."
"So kommen Sie, Franziska!"
Und rasch schritten sie den Weg zurück.--Es war ein untersetztes Männlein
mit wenig intelligentem, stumpfnasigem Antlitz, das in dem Stübchen der
Frau Lewerenz auf sie gewartet hatte. Richard führte ihn nach dem
Wohnzimmer hinauf, wohin Franziska schon vorangegangen war.
"Nun, Meister, was wünschen Sie von mir?" sagte er, indem er sich auf den
Sessel vor seinem Schreibtisch niederließ.
Der Handwerker, der trotz des angebotenen Stuhles wie verlegen an der Tür
stehen blieb, brachte zuerst in ziemlicher Verworrenheit einige
Redensarten vor, mit denen er die Veranlassung seines heutigen Besuches
zum voraus zu entschuldigen suchte. Endlich aber kam er doch zur
Hauptsache. Ein alter Bäckermeister, reich--sehr reich und ohne Kinder,
wollte Franziska zu sich nehmen; er hatte fallen lassen, daß er sie sogar
in seinem Testament bedenken werde, wenn sie treulich bei ihm aushalte;
für ihn, den Vormund, sei es Gewissenssache, ein solches Glück für seine
Mündel nicht von der Hand zu weisen.
Richard hatte, wenigstens scheinbar, geduldig zugehört. "Ich muß Ihre
Fürsorglichkeit anerkennen, Meister", sagte er jetzt, indem er gewaltsam
seine Erregung unterdrückte; "aber Franziska wird nicht schlechter
gestellt sein in meinem Hause; ich bin bereit, Ihnen die nötigen Garantien
dafür zu geben."
Der Mann drehte eine Weile den Hut in seinen Händen. "Ja", sagte er
endlich, "es wird denn doch nicht anders gehen."
"Und weshalb denn nicht?"
Er erhielt keine Antwort; der Angeredete blickte mürrisch auf den Boden.
Das Mädchen hatte während dieser Verhandlung laut- und regungslos am
Fenster gestanden. Als Richard jetzt den Kopf zurückwandte, sah er ihre
großen grauen Augen weit geöffnet; angstvoll, in flehender Hingebung,
alles Sträuben von sich werfend, blickte sie ihn an.
"Franziska!" murmelte er. Einen Augenblick war es totenstill im Zimmer.
Dann wandte er sich wieder an den Vormund; sein Herz schlug ihm, daß er
nur in Absätzen die Worte hervorbrachte. "Sie verschweigen mir den wahren
Grund, Meister", sagte er, "erklären Sie sich offen, wir werden schon
zusammen fertig werden."
Der andere erwiderte nur: "Ich habe nichts weiter zu erklären."
Franziska, die mit vorgebeugtem Kopf und offenem Munde den beiden zugehört
hatte, war hinter des Doktors Stuhl getreten. "Soll ich den Grund sagen,
Vormund?" fragte sie jetzt; und aus ihrer Stimme klang wieder jener
schneidende Ton, der wie ein verborgenes Messer daraus hervorschoß.
"Sagen Sie, was Sie wollen!" erwiderte der Handwerker, seine Augen trotzig
auf die Seite wendend.
"Nun denn, wenn Sie es selbst nicht sagen wollen--der Bäckermeister hat
eine Hypothek auf Ihrem Hause; ich weiß, Sie werden jetzt von ihm gedrängt!"
Richard atmete auf. "Ist dem so?" fragte er.
Der Mann mußte es bejahen.
"Und wie hoch beläuft sich Ihre Schuld?"
Es wurde eine Summe angegeben, die für die Verhältnisse eines kleinen
Handwerkers immerhin beträchtlich war.
"Nun, Meister", erwiderte Richard rasch; aber bevor er seinen Satz
vollenden konnte, fühlte er wie einen Hauch Franziskas Stimme in seinem
Ohr: "Nicht schenken! Bitte nicht schenken!" Und ebenso leise, aber wie
in Angst, fühlte er seinen Arm von ihr umklammert.
Er besann sich; er hatte sie sofort verstanden.
"Meister", begann er wieder; "ich werde ihnen das Geld leihen; Sie können
es sofort erhalten und brauchen mir nur einen Schuldschein auszustellen.
Verstehen Sie mich wohl--solange Ihre Mündel sich in meinem Hause befindet,
verlange ich keine Zinsen! Sind Sie das zufrieden?"
Der Mann hatte noch allerlei Bedenken, aber es war nur des schicklichen
Rückzugs halber; nach einigem Hin- und Widerreden erklärte er sich damit
einverstanden.
"So gedulden Sie sich einen Augenblick! Ich werde Ihnen den erforderlichen
Auftrag an meinen Anwalt mitgeben."
Franziska hatte sich aufgerichtet; Richard rückte seinen Sessel an den
Schreibtisch. Man hörte die Feder kritzeln; denn die Hand flog, die jene
Worte schrieb.
Rasch war der Brief versiegelt und wurde von begierigen Händen in Empfang
genommen.
Gleich darauf hatte Richard den Mann zur Tür geleitet; Franziska stand
noch an derselben Stelle. Wie gebannt, ohne sich zu rühren, blickten
beide auf die Tür, die sich eben wieder geschlossen hatte; als käme es
darauf an, sich der schwerfälligen Schritte zu versichern, die jetzt
langsam die Treppe hinab verhallten. Einen Augenblick noch, und auch das
Auf- und Zuschlagen der Haustür und nach einer Weile das des Hoftores
klang zu ihnen herauf.
Da wandte er sich gegen sie. "Komm!" sagte er leise und öffnete die Arme.
Es mußte laut genug gewesen sein; denn sie flog an seine Brust, und er
preßte sie an sich, als müsse er sie zerstören, um sie sicher zu besitzen.
"Franzi! Ich bin krank nach dir; wo soll ich Heilung finden?"
"Hier!" sagte sie und gab ihm ihre jungen roten Lippen.--Ungehört von ihnen
war die Zimmertür zurückgesprungen; ein schöner schwarzgelber Hundekopf
drängte sich durch die Spalte, und bald schritt das mächtige Tier selbst
fast unhörbar in das Zimmer. Sie bemerkten es erst, als es den Kopf an
die Hüfte seines Herrn legte und mit den schönen braunen Augen wie
anklagend zu ihm aufblickte.
"Bist du eifersüchtig, Leo?" sagte Richard, den Kopf des Tieres
streichelnd; "armer Kamerad, gegen die sind wir beide wehrlos."--Auch auf
diesen Abend war die Nacht gefolgt. Auf der Schwarzwälder Uhr hatte eben
der kleine Kunstvogel zehnmal unter Flügelschlagen sein "Kuckuck" gerufen,
und Richard holte den großen Schlüssel aus seiner Schlafkammer, um, wie
jeden Abend, das Hoftor in der Mauer abzuschließen.
Als unten auf dem Flur Franziska aus der Küche trat, haschte er im Dunkeln
ihre Hand und zog sie mit sich auf den Hof hinab. Schweigend hängte sie
sich an seinen Arm. So blickten sie aus dem geöffneten Tor noch eine
Weile in die Nacht hinaus.
Es stürmte; die Tannen sausten, hinter dem Wald herauf jagte schwarzes
Gewölk über den bleichen Himmel; aus dem Dickicht scholl das Geheul des
großen Waldkauzes. Das Mädchen schauderte. "Hu, wie das wüst ist!"
"Du, hast du Furcht?" sagte er. "Ich dachte, du könntest dich nicht
grauen."
"Doch! jetzt!" Und sie drängte ihren Kopf an seine Brust.
Er trat mit ihr zurück und warf den schweren Riegel vor die Pforte; von
oben aus den Fenstern fiel der Lampenschimmer in den umschlossenen Hof
hinab. "Der nächtliche Graus bleibt draußen!" sagte er.
Sie lachte auf. "Und auch der Vormund!" raunte sie ihm ins Ohr.
Er nahm sie wie berauscht auf beide Arme und trug sie in das Haus.--Und
auch hier drehte sich nun der Schlüssel, und wer draußen gestanden hätte,
würde es gehört haben, wie auf diesen Klang der große Hund sich innen vor
der Haustür niederstreckte.
Bald war auch in den Fenstern oben das Licht erloschen, und das Haus lag
wie ein kleiner dunkler Fleck zwischen unzähligen andern in der großen
Einsamkeit der Waldnacht.
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Franziska war mit dürftiger Kleidung in ihre neue Stellung eingetreten,
und obgleich Richard bei seiner ersten Verhandlung mit dem Vormunde in
dieser Beziehung alle Fürsorge auf sich genommen hatte, so war bei dem
abwehrenden Wesen des Mädchens doch noch kein Augenblick gekommen, in dem
er Näheres hierüber hätte mit ihr reden mögen. Freilich war auch dies
Gepräge der Armut und nicht weniger die Scham, womit er sie bemüht sah,
es ihm zu verdecken, nur zu einem neuen Reiz für ihn geworden; ein süßes,
schmerzliches Licht schien ihm bei solchen Anlässen von ihrem jungen,
sonst ein wenig herben Antlitz auszustrahlen.--Jetzt aber durfte es so
nicht länger bleiben.
Drei Meilen südlich von ihrem Waldhäuschen lag eine große Handelsstadt,
und eines Morgens in der Frühe hielt draußen vor dem Tore ein leichter,
wohlbespannter Wagen, um sie dorthin zu bringen. Leo war im Hinterhause
eingesperrt worden. Frau Wieb, nachdem sie von beiden noch einige
freundliche Worte durch ihr Hörrohr in Empfang genommen hatte, nickte
munter nach dem Wagensitz hinauf, und fort rollten sie über die holperigen
Geleise der Heide in die Welt hinaus.
Auf halbem Wege waren sie in einem Dorfkruge abgestiegen. Als die Wirtin
die bestellte Milch brachte, fragte sie, auf Richard zeigend: "Der Herr
Vater nimmt doch auch ein Glas?"
"Freilich", wiederholte Franziska, "der Herr Vater nimmt das andre Glas."
Mit übermütiger Schelmerei blickte sie zu ihm hinauf.
Es war noch früh am Vormittage, als sie die große Stadt erreichten.
Zuerst wurde für die Oberkleider eingekauft; klare, feingeblümte Stoffe
für die heißen, weiche, einfarbige Wollenstoffe für die kalten Tage. Die
Anfertigung der Kleider wurde in demselben Geschäft besorgt, und Franziska
mußte mit einer Schneiderin in ein anliegendes Kabinett gehen, um sich die
Maße nehmen zu lassen. Zuvor aber waren von Richard, unter lebhafter
Mißbilligung der Verkäufer, die einfachsten Schnitte zur Bedingung gemacht:
"Fürs Haus und für den Wald!" Und Franzi hatte die mitleidigen Blicke,
womit die jungen Herren des Ladens sie über den Eigensinn des "Herrn
Vaters" zu trösten suchten, ohne eine Miene zu verziehen, über sich
ergehen lassen.
Sie gaben ihre Adresse ab und gingen weiter.
Nachdem unterwegs Franziskas Malgerät vervollständigt und bei einer
Modistin zwei einfache, aber zierliche Strohhüte eingehandelt waren,
traten sie in ein Weißwarengeschäft. Bevor noch Franziska ein Wort
dareinreden konnte, hatte er ein Dutzend fertiger Hemden eingekauft.
"Sie sind ein Verschwender!" sagte sie; "das hätte ich alles selber nähen
können."
"Du hast recht!" erwiderte er und kaufte das Zeug zu einem zweiten Dutzend.
"Wenn Sie so fortfahren, Richard, so gehe ich in keinen Laden mehr."
"Nur noch zum Schuhmacher!--Aber was soll das Sie? Bist du mir böse,
Franzi?"
"Nein, du; aber du siehst mir heut so vornehm aus."
"Weiter!" sagte er.
Bald darauf standen sie in dem elegantesten Schuhwarenmagazin; und die
Ladendame, nachdem sie etwas herabsehend die unscheinbare Gestalt des
Mädchens gemustert hatte, breitete gleichgültig einen Haufen Schuhwerk vor
ihnen aus.
Ein Zug der Verachtung spielte um Franzis Lippen, als sie auf diese
Mittelware blickte; denn sie besaß eine Schönheit, welche an diesem Orte
als die höchste gelten mußte und deren sie sich vollständig bewußt war.
Aber sie setzte sich gleichwohl auf den bereitstehenden Sessel und zog ihr
Kleid bis an die Knöchel in die Höhe.
Das Frauenzimmer, das mit dem Schuhwerk vor ihr hingekniet war, stieß
einen Ruf des Entzückens aus. "Ah! Welch ein Aschenbrödelfüßchen! Da
muß ich Kinderschuhe bringen."
Wie eine Fürstin saß Franzi auf ihrem Sessel; Richard, der diesen Sieg
vorausgesehen hatte, verschlang den triumphierenden Blick, den sie zu ihm
hinaufsandte.
Die Ladendame aber erschien ganz wie verwandelt; ihre Käufer waren
offenbar plötzlich in die Aristokratie der Kundschaft hinaufgerückt; sie
holte eifrig eine Menge zierlicher Stiefelchen von allen Farben und Arten
aus den Glasschränken hervor, die aber sämtlich nach dem Gebot der Mode
mit hohen Absätzen versehen waren.
"Nein, nein", sagte Richard lächelnd, "das mag für gewöhnliche Damenfüße
gut genug sein; Füße aus dem Märchen dürfen nicht auf solchen Klötzen
gehen!"
"Sie haben recht, mein Herr", sagte die Ladendame, "aber für die
gewöhnliche Kundschaft müssen wir uns nach der Mode richten." Dann kramte
sie wieder in ihren Schränken; und nun brachte sie Stiefelchen, so leicht,
so weich--die Elfen hätten darauf tanzen können; gleich das erste Paar
glitt wie angegossen über Franzis schlanke Füßchen.
Noch einige Paare wurden ausgesucht, auch für die gemeinschaftlichen
Wanderungen zu hoch hinaufreichenden ledernen Waldstiefelchen das Maß
genommen; dann trieben die beiden weiter durch die wimmelnde Menschenflut
der großen Stadt. Sie hing an seinem Arm; er fühlte mit Entzücken jeden
ihrer leichten Schritte, und unwillkürlich ging er immer rascher, als
wolle er den Vorübergehenden jeden Blick auf das bezaubernde Geheimnis
dieser Füßchen unmöglich machen, die nur ihm und keinem andern je gehören
sollten.
Mit sinkendem Abend hielt der Wagen wieder vor dem Hause des Waldwinkels.
--Einige Tage später brachte die Botenfrau große Packen aus der Stadt;
alle Bestellungen waren auf einmal eingetroffen. Franziska trug die
Herrlichkeiten auf ihr Zimmer und schloß sich darin ein. Als sie nach
geraumer Zeit in die Wohnstube trat, ging sie auf Richard zu, nahm ihn
schweigend um den Hals und küßte ihn; dann lief sie in die Küche, um Frau
Wieb heraufzuholen.
Es war aber nur noch ein Teil der Sachen und nur das Einfachste, das jetzt,
auf Bett und Kommode ausgebreitet, der gutmütigen Alten zur Bewunderung
vorgezeigt wurde. Dagegen hatte Franziska derzeit nicht vergessen,
Richard an den Einkauf eines guten Kleiderstoffs und einer bunten
Sonntagshaube für die Alte zu erinnern. Und jetzt, trotz deren Bitten,
sie möge ihr eigen Weißzeug darum nicht versäumen, gab sie keine Ruhe, bis
sie zu dem neuen Staat ihr Maß genommen hatte und andern Tages schon
zwischen zerschnittenen Stoffen und Papiermustern in Frau Wiebs Kämmerchen
am Schneidertische saß. So geschickt wußte sie es der alten Frau
vorzustellen, daß sie noch keineswegs zu alt sei, um hier eine Rosette,
dort eine Puffe oder Schleife aufgesetzt zu bekommen, daß diese immer
öfter aus ihrer Küche in die Zauberwerkstatt hinüberlief und ihrem Herrn
beteuerte, die Franziska mache sie noch einmal wieder jung.
Richard schien kaum dies Treiben zu beachten; nur einmal, als er dem
Mädchen auf dem Flur begegnete, da sie eben mit allerlei Nähgerät die
Treppe herabgekommen war, hielt er sie an und sagte: "Aber Franzi, was
stellst du denn mit unserer guten Alten auf? Sie wird ja eitel wie
Bathseba auf ihre alten Tage."
Franziska ließ eine Weile ihre Augen in den seinen ruhen. "Laß nur",
sagte sie dann, "die Alte muß auch ihre Freude haben!" Und schon war sie
durch die Kammertür verschwunden.
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Sie wohnten zwischen der Heide und dem Walde, in welche seit hundert Jahren
keine Menschenhand hineingegriffen hatte; rings um sie her wartete frei und
üppig die Natur.
Die Menschen waren fern, nur die Bienen kamen und summten einsam über die
Heide. Einmal zwar war der alte Inspektor eingekehrt und hatte wegen der
nötigen Feuerung mit der alten Frau Wieb einen Zwiesprach in deren
Stübchen abgehalten; dann ein paar Tage später war ein mächtiges Fuder
schwarzen Torfes durch den Wald dahergekommen und vor dem Hause abgeladen
worden; einmal auch hatte der Krämer aus der Stadt mit seinen neugierigen
Augen sich herangedrängt, hatte glücklich ein Geschäft gemacht, war dann
aber mit der Weisung entlassen worden, daß in Zukunft alles brieflich
solle bestellt werden. Sonst war niemand dagewesen als die Botenfrau, die
zweimal wöchentlich Briefe und Blätter, und was ihr sonst zu bringen
aufgetragen war, unten in der Küche niederlegte. Einen Besuch auf dem
jenseit des Waldes liegenden Schlosses hatte Richard den Junkern zwar
versprochen, aber er wurde immer wieder hinausgeschoben. So kam auch von
dort niemand herüber. Selbst die Zeitungen, welche von draußen aus der
Welt Kunde bringen sollten, wurden seit Wochen ungelesen in einem unteren
Fache des Schreibtisches aufgehäuft.--Aber an jedem Morgen fast schritten
jetzt die beiden miteinander in die würzige Sommerluft hinaus; Franzi in
ihren hohen ledernen Waldstiefelchen, die Kleider aufgeschürzt, über der
Schulter eine kleine Botanisiertrommel, die er für sie hatte anfertigen
lassen. Meistens sprang auch der große Hund an ihrer Seite; mitunter aber,
wenn der Himmel mit Duft bedeckt war, wenn still, wie heimlich träumend,
die Luft über der Heide ruhte und der Wald wie dämmerndes Geheimnis lockte,
dann wurde wohl der Löwengelbe, wenn er neben ihnen aus der Haustür
stürmte, in schweigendem Einverständnis von ihnen zurückgetrieben; hastig
warfen sie dann das schwere Hoftor zurück und achteten nicht des Winselns
und Bellens, das von dem verschlossenen Hofe aus hinter ihnen herscholl.
Eilig gingen sie fort, und endlich zwischen Busch und Heide erreichte es
sie nicht mehr. Nichts unterbrach die ungeheure Stille um sie her als
mitunter das Gleiten einer Schlange oder von fern das Brechen eines dürren
Astes; im Laube versteckt saßen die Vögel, mit gefalteten Flügeln hingen
die Schmetterlinge an den Sträuchern.
Am Waldesrande waren jetzt in seltener Fülle die tiefroten Hagerosen
aufgebrochen. Wenn gar so schwül der Duft auf ihrem Wege stand, ergriffen
sie sich wohl an den Händen und erhoben schweigend die glänzenden Augen
gegeneinander. Sie atmeten die Luft der Wildnis, sie waren die einzigen
Menschen, Mann und Weib, in dieser träumerischen Welt.--Einmal, nach
langer Wanderung, da die Sonne funkelte und schon senkrecht ihre
Mittagsstrahlen herabsandte, waren sie unerwartet an den Rand des Waldes
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