Waldwinkel - 3

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gekommen. Sanft ansteigend breitete ein unabsehbares Kornfeld sich vor
ihnen aus; es war in der Blütezeit des Roggens; mitunter wehten leichte
Duftwolken darüber hin; bis gegen den Horizont erblickte man nichts als
das leise Wogen dieser bläulich silbernen Fluten.
Da klang von fern das Gebimmel einer Glocke; weit hinten, drüben aus dem
Grunde, wo wohl das Schloß gelegen sein mochte; gleich einem Rufen klang
es durch die stille Mittagsluft, und wie hingezogen von den Lauten schritt
Franziska in das wogenden Ährenfeld hinein, während Richard, an einen
Buchenstamm gelehnt, ihr nachblickte.--Immer weiter schritt sie; es wallte
und flutete um sie her; und immer ferner sah er ihr Köpfchen über dem
unbekannten Meere schwimmen. Da überfiel's ihn plötzlich, als könne sie
ihm durch irgendwelche heimliche Gewalt darin verlorengehen. Was mochte
auf dem unsichtbaren Grunde liegen, den ihre kleinen Füße jetzt berührten?
Vielleicht war es keine bloße Fabel, das Erntekind, von dem die alten
Leute reden, das dem, der es im Korne liegen sah, die Augen brechen macht!
Es lauert ja so manches, um unsere Hand, um unsern Fuß zu fangen und uns
dann hinabzureißen.-"Franzi!" rief er; "Franzi!"
Sie wandte den Kopf. "Die Glocke!" kam es zurück. "Ich will nur wissen,
wo die Glocke läutet!"
"Das gilt nicht uns, Franzi; das ist die Mittagsglocke auf dem Schloß!"
Sie wandte sich um und kam zurück. Er schloß sie leidenschaftlich in die
Arme. "Weißt du nicht, daß das gefährlich ist, so tief in ein Ährenfeld
hineinzugehen?"
"Gefährlich?" Sie sah ihn seltsam lächelnd an. Dann tauchten sie in ihren
Wald zurück.--Ein andermal, nach einem schwülen Tage, waren sie erst spät
am Nachmittag hinausgegangen.--Als der Abend schon tief herabsank, ruhten
sie am Ufer eines großen Waldwassers, das rings von hohen Buchen eingefaßt
war. Zu ihren Füßen, trotz der regungslosen Stille, schwankte das Schilf
mit leisem Rauschen aneinander; drüben hinter dem jenseitigen Walde, der
seine Schatten auf den Wasserspiegel warf, zuckte dann und wann ein
Wetterschein empor; Irisduft wehte über den See, und ein lautloser Blitz
erleuchtete ihn.
Er hatte sich über sie gebeugt und ließ es wie ein Spiel an sich
vorübergehen, wenn ihr blasses Antlitz aus dem Dunkel auftauchte und
wieder darin verschwand. "Weißt du", sagte er--"es heißt, man solle in
den Augen eines Weibes noch mitunter das Schillern der Paradiesesschlange
sehen. Eben, da der Blitz flammte, sah ich es in deinen Augen."
"Schillerte es denn schön?" fragte sie und hielt ihre Augen offen ihm
entgegen.
"Betörend schön."
Und wieder flammte ein Blitz.
"Du bist ein Tor, Richard!"
"Ich glaub es selber, Franzi."
Und er legte den Kopf in ihren Schoß, und zu ihr emporblickend, sah er
wieder und wieder die Wetterscheine in ihren dunklen Augen zucken.--So
floß die Zeit dahin. Eines Vormittags aber, als von den Fenstern des
Wohnzimmers aus vor dem niederrauschenden Regen der Tannenwald nur noch
wie eine graue Nebelwand erschien und die Drachenköpfe unaufhörlich Wasser
von sich spien, stand Richard sinnend und allein an seinem Schreibtische,
nur mitunter wie abwesend in den trüben Tag hinausblickend.
Franzi trat herein; er hatte sie heute noch nicht gesehen; am
Frühstückstische hatte er vergebens auf sie gewartet. Jetzt ging sie
schweigend auf ihn zu, drückte ihre Augen gegen seine Brust und hing an
seinem Halse, als sei sie nur ein Teil von ihm. Er legte seinen Arm um
sie, aber er küßte sie nicht; seine Gedanken waren bei anderen Dingen. Er
merkte es kaum, als sie plötzlich wieder aus seinem Arm und aus dem Zimmer
sich hinweggestohlen hatte.
Als bald darauf wegen einer wirtschaftlichen Bestellung Frau Wieb ins
Zimmer trat, fand sie ihren Herrn vor einer aufgezogenen Schieblade stehen,
aus der er allerlei Papiere auf die Tischplatte hervorgekramt hatte. Es
waren zum Teil Scheine, deren Vorlegung bei gewissen Lebensakten die
bürgerliche Ordnung von ihren Mitgliedern zu verlangen pflegt.
"Sag mir, Wieb", rief er der Eintretenden zu, "in welcher Kirche bin ich
denn getauft? Du bist ja damals doch dabeigewesen."
"Wie?" fragte die Alte und hielt ihr Hörrohr hin. "In welcher Kirche?"
"Nun ja; mir fehlt der Taufschein; man muß seine Papiere doch in Ordnung
haben."
Nachdem er noch einmal in das Hörrohr gerufen hatte, nannte sie ihm die
Kirche.
Aber er hörte schon kaum mehr darauf.
"Nein, nein!" sagte er mit leisen, aber scharfen Lauten vor sich hin,
indem er wie abwehrend seine Hand ausstreckte. "Wen geht's was an! Es
soll mir niemand daran rühren!"
Als er sich umwandte, stand seine alte Wirtschafterin noch im Zimmer; das
Muster der Tapete, das sie mit Aufmerksamkeit betrachtete, schien sie
festgehalten zu haben. Er fragte sie: "Was siehst du denn an den
verblichenen Blumen, Wieb?"
Die Alte nickte. "Die sitzen da nicht von ungefähr", erwiderte sie. "Der
Herr Inspektor, da er neulich wegen der Feuerung da war, hat es mir
erzählt. Vergessen und Vergessenwerden, Herr Richard!
Wer lange lebt auf Erden,
Der hat wohl diese beiden
Zu lernen und zu leiden!
Der alte Herr vom Schlosse drüben--der Großvater ist's gewesen von dem
jetzigen--hat nur einen Sohn gehabt, den aber hat er fast übermäßig
geliebt und ihn nimmer, auch da er schon in die reiferen Jahre gekommen
war, aus seiner Nähe lassen wollen; der junge Herr wäre darüber fast zum
Hagestolz geworden. Endlich gab's denn doch noch eine Hochzeit, und wie
der Vater in ihn, so ist der Sohn in seine junge Frau vernarrt gewesen.
Der alte Herr aber hat es nicht verwinden können, daß seines Kindes Augen
jetzt immer nur nach einer Fremden gingen; er hat den beiden das Schloß
gelassen und hat sich in die Einsamkeit hinausgebaut. Die Tapete hier in
diesem Zimmer, wo er noch jahrelang gelebt, ist derzeit von ihm selber
ausgewählt; es seien die Blumen des Schlafes und der Vergessenheit, so
soll er oft gesagt haben.--"Haben Sie noch etwas zu befehlen, Herr Richard?"
Er hatte nichts.
Als die Alte hinausgegangen war, blickte auch er noch eine Weile auf die
roten und violetten Mohnblumen; dann fielen seine Augen auf ein
Wandgemälde, das oberhalb der vom Flur hereinführenden Tür die
Tapetenbekleidung des Zimmers unterbrach.
Es war eine weite Heidelandschaft, vielleicht die an dem Waldwinkel selbst
belegene, hinter welcher eben der erste rote Sonnenduft heraufstieg; in
der Ferne sah man, gleich Schattenbildern, zwei jugendliche Gestalten,
eine weibliche und eine männliche, die Arm in Arm, wie schwebend, gegen
den Morgenschein hinausgingen; ihnen nachblickend, auf einen Stab gelehnt,
stand im Vordergrunde die gebrochene Gestalt eines alten Mannes.
Als Richard jetzt von dem Bilde auf die Umrahmung desselben hinüberblickte,
trat ihm dort, hab versteckt zwischen allerlei Arabesken, eine Schrift
entgegen, die bei näherem Anschauen in phantastischen Buchstaben um das
ganze Bild herumlief.
Dein jung Genoß in Pflichten
Nach dir den Schritt tät richten;
Da kam ein andrer junger Schritt,
Nahm deinen jung Genossen mit;
Sie wandern nach dem Glücke,
Sie schaun nicht mehr zurücke.
So lauteten die Worte. Lange stand Richard vor dem Bilde, das er früher
kaum beachtet hatte.
Würde das Antlitz jenes einsamen Alten, wenn es sich plötzlich zu ihm
wendete, die Züge des Erbauers dieser Räume zeigen, oder war diese Gestalt
das Alter selbst, und würde sie--nur eines vermessenen Worts bedurfte es
vielleicht--sein eigenes Angesicht ihm zukehren?--Wehte nicht schon ein
gespenstisch kalter Hauch von dem Bilde zu ihm herab?--Unwillkürlich griff
er sich in Bart und Haar und richtete sich rasch und straff empor.--Nein,
nein; es hatte ihn noch nicht berührt. Aber wie lange noch, so mußte es
dennoch kommen. Und dann?-Er wandte sich langsam ab und trat an seinen
Schreibtisch. Die Papiere, die dort noch umherlagen, legte er in die
Schublade zurück, aus der er sie vorhin genommen hatte.--Draußen strömte
unablässig noch der Regen.
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In den nächsten Tagen schien wieder die Sonne; nur der Wald war noch nicht
zu begehen. Aber durch die Heide hatten Richard und Franziska am Nachmittage
einen weiten Ausflug gemacht; auf dem Riesenhügel, in welchem Meister
Reineke wohnte, hatten sie ihr mitgenommenes Vesperbrot verzehrt, während
Leo, der diesmal nicht zurückgetrieben war, an den Eingängen des geheimnis-
vollen Baues seine vergeblichen Untersuchungen fortgesetzt hatte.
Mit der Dämmerung waren sie heimgekehrt.-Als Franzi in das Wohnzimmer trat,
ging sie schon wieder in den leichten Stiefeln, die sie stets im Hause zu
tragen pflegte.
"Du bist blaß", sagte Richard; "es ist zu weit für dich gewesen."
"Oh, nicht zu weit."
"Aber du bist ermüdet, komm!" Und er drückte sie in den großen
Polsterstuhl, der dicht am Fenster stand.
Sie ließ sich das gefallen und legte den Kopf zurück an die eine
Seitenlehne; die schmächtige Gestalt verschwand fast in dem breiten Sessel.
"Wie jung du bist!" sagte er.
"Ich?--ja, ziemlich jung."
Sie hatte ihr Füßchen vorgestreckt, und er sah wie verzaubert darauf hinab.
"Und was für eine Wilde du bist", sagte er, "da geht schon wieder quer
über den Spann ein Riß!" Er hatte sich gebückt und ließ seine Finger über
die wunde Stelle gleiten. "Wieviel Paar solcher Dinger verbrauchst du
denn im Jahr, Prinzeßchen?"
Aber sie legte nur ihren kleinen Fuß in seine Hand, löste ihre schwere
Haarflechte, die sie drückte, so daß sie lang in ihren Schoß hinabfiel,
und streckte sich dann mit geschlossenen Augen in die weichen Polster.
Im Zimmer dunkelte es allgemach; draußen in der Wiesenmulde stiegen weiße
Dünste auf, und drüben im Tannenwalde war schon die Schwärze der Nacht.
--Da schlug draußen im Hofe der Hund an, und Franzi fuhr empor und riß
ihre großen grauen Augen auf.
Nein, es war wieder still; aber von jenseits des Waldes kam jetzt mit dem
Abendwind Musik herübergeweht.
"Laß doch", sagte Richard, "das kommt nicht zu uns."
Aber sie hatte sich vollends aufgerichtet und sah neugierig in die
Abenddämmerung hinaus.
"Es ist nur eine Hochzeit, Franzi, sie werden mit der Aussteuer drüben am
Waldesrand herumfahren."
"Eine Hochzeit! Wer heiratet denn?"
"Wer? Ich glaube: des Bauervogts Tochter; ich weiß es nicht. Was kümmert
es uns; wir kennen ja die Leute nicht."
"Freilich."
Sie standen jetzt beide am Fenster; er hatte den Arm um sie gelegt, sie
lehnte den Kopf an seine Brust. Ein paarmal, aber immer schwächer, wehten
noch die Töne zu ihnen her; dann wurde alles still, so still, daß er es
hörte, wie ihr der Atem immer schwerer ging.
"Fehlt dir etwas, Franzi?" fragte er.
"Nein; was sollte mir fehlen?"
Er schwieg; aber sie drängte ihr Köpfchen fester an seine Brust.
"Du!" sagte sie, als brächte sie es mühsam nur hervor.
"Ja, Franzi?"
"Du--warum heiraten wir uns nicht?"
Es durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag; eine Kette qualvoller
Erinnerungen tauchte in ihm auf; die Welt streckte ihre grobe Hand nach
seinem Glücke aus.
"Wir Franzi?" wiederholte er scheinbar ruhig. "Wozu? Was würde dadurch
anders werden?"
"Freilich!" Sie sann einen Augenblick nach. "Aber wir lieben uns ja doch!"
"Ja, Franzi! Aber"--er blickte ihr tief in die Augen, und seine Stimme
sank zu einem Flüstern, als wage er die Worte nicht laut werden zu
lassen--"es könnte einmal ein Ende haben--plötzlich!"
Sie starrte ihn an. "Ein Ende?--Dann müßte ich wohl fort von hier!"
"Müssen Franzi? Weh mir, wenn du es müßtest!"
Sie schwiegen beide.
"Wie alt bist du, Franzi?" begann er wieder.
"Du weißt es ja, ich werde achtzehn."
"Ja, ja, ich weiß es, achtzehn; ich hin ein Menschenalter dir voraus.
Über diesen Abgrund bist du zu mir hinübergeflogen, mußt du immer zu
mir hinüber.--Es könnte ein Augenblick kommen, wo dir davor schauderte."
"Was sprichst du da?" sagte sie. "Ich versteh das nicht."
"Versteh es nimmer, Franzi!"
Aber während sie atemlos zu ihm emporblickte, zuckte es plötzlich um ihren
jungen Mund; es war, als flöhe etwas in ihr Innerstes zurück.
Hatten seine Worte die Schärfe ihres Blickes geweckt, und sah sie, was ihr
bisher entgangen war, einen Zug beginnenden Verfalls in seinem
Antlitz?--Doch schon hatte sie sein Haupt zu sich herabgezogen und
erstickte ihn fast mit ihren Küssen. Dann riß sie sich los und ging rasch
hinaus.
Als sie fort war, machte er sich an seinem Schreibtische zu tun. Mit
einem besonders künstlichen Schlüssel öffnete er ein Fach desselben, in
welchem er seine Wertpapiere verwahrt hielt. Er nahm aus den
verschiedenen Päckchen einzelne hervor, schlug einen weißen Bogen darum
und setzte eine Schrift darauf. Als das geschehen war, nahm er einen
zweiten, dem, womit er das Fach geöffnet hatte, völlig gleichen Schlüssel,
paßte ihn in das Schlüsselloch und legte ihn dann neben die Papiere auf
die Tischplatte.
Der Abend war schon so weit hereingebrochen, daß er alles fast im Dunkeln
tat; über den Tannen drüben war schon der letzte Hauch des braunen
Abenddufts verglommen.
Als Franziska nach einer Weile mit der brennenden Lampe hereingetreten war
und schweigend das Zimmer wieder verlassen wollte, ergriff er ihre Hand
und zog sie vor den Schreibtisch.
"Kennst du das, Franziska?" fragte er, indem er einige der Papiere vor ihr
entfaltete.
Sie blickte scharf darauf hin. "Ich kenne es wohl", erwiderte sie; "es
ist so gut wie Geld."
"Es sind Staatspapiere."
"Ja, ich weiß; ich habe bei dem Magister einmal zu solchen ein Verzeichnis
machen müssen."
Er zeigte ihr ein Konvolut, worauf in frischer Schrift ihr Name stand, und
nannte ihr den Betrag, der darin enthalten war. "Es ist dein Eigentum",
sagte er.
"Mein, das viele Geld?" Sie blickte mit scharfen Augen auf das
verschlossene Päckchen.
"Versteh mich, Franzi", begann er wieder; "schon jetzt ist es dein; am
allermeisten aber"--und er verschlang die junge Gestalt mit seinen
Blicken--"in dem Augenblicke, wo du selber nicht mehr mein bist. Du wirst
dann völlig frei sein; du sollst es jetzt schon sein."
Er sah sie an, als erwartete er von ihr eine Frage, eine Bitte um
Erklärung; da sie aber schwieg, sagte er in einem Tone, der wie scherzend
klingen sollte: "Da du jetzt eine Kapitalistin bist, so muß ich dir auch
den nötigen Eigentumssinn einzupflanzen suchen." Und er nahm eine von den
Zeitungen, die umherlagen, zog die Geliebte auf seinen Schoß und begann
die Rubrik der Kurse mit ihr durchzugehen. Dann aber, als sie ihm
aufmerksam zuzuhören schien, lachte er selbst über sein schulmeisterliches
Bemühen. "Es ist spaßhaft! Du und Staatspapiere, Franzi! Du hast
natürlich kein Wort von alledem verstanden!"
Aber sie lachte nicht mit ihm; sie war von seinem Schoße herabgeglitten
und begann eingehende Fragen über das eben Gehörte an ihn zu richten.
Er sah sie verwundert an. "Du bist gefährlich klug, Franzi!" sagte er.
"Magst du lieber, daß ich's nicht verstehe, wenn du mich belehrst?"
"Nein, nein; wie sollte ich!"-Sie wollte gehen, aber er rief sie zurück.
"Vergiß den Schlüssel nicht!" Und indem er sie an den Schreibtisch führte,
setzte er hinzu: "Dieses Fach enthält jetzt mein und auch dein Eigentum.
Möge es nie getrennt werden!"
Sie hatte indessen eine Schnur von ihrem Halse genommen, woran sie eine
kleine golde Kapsel mit den Haaren einer frühverstorbenen Schwester auf
der Brust trug, und war eben im Begriff, daneben auch den Schlüssel zu
befestigen; aber ihre geschäftigen Hände wurden zurückgehalten.
"Nein, nein, Franzi!" sagte er. "Was beginnst du!"--Er hatte das Mädchen
zu sich herangezogen und küßte sie mit Leidenschaft.--"Leg ihn fort, weit
fort! zu deinen anderen Dingen. Was denkst du denn! Soll ich den
Kassenschlüssel an deinem Herzen finden?"
Sie wurde rot. "Was du auch gleich für Gedanken hast!" sagte sie und
steckte den Schlüssel in die Tasche.
Es war in der ersten Hälfte des August. Schwül waren die Tage; trübselig
in der Mauser saßen die Vögel im Walde; nur einzelne prüften schon das
neue Federkleid zum weiten Abschiedsfluge; aber desto schöner waren die
Nächte mit ihrer erquickenden Kühle. Draußen im Waldwasser, wo vordem die
Iris blühten, wie auf dem Hofe in der Tiefe des offenen Brunnens
spiegelten sich jetzt die schönsten Sterne; im Nordosten des nächtlichen
Himmels ergoß die Milchstraße ihre breiten, leuchtenden Ströme.
Richard hatte während einiger Tage den nächsten Umkreis des Waldwinkels
nicht verlassen; ein Körperleiden aus den Jahren seiner Kerkerhaft, die
nicht nur im Kopfe des Winkeladvokaten spukte, war wieder aufgetaucht und
hatte wie eine lähmende Hand sich auf ihn gelegt.
Jetzt saß er, die linde Nacht erwartend, auf einer Holzbank, welche
draußen vor der Umfassungsmauer angebracht war; an seiner Seite lag sein
löwengelber Hund. Stern um Stern brach über ihm aus der blauen
Himmelsferne; er mußte plötzlich seines Jugendglücks gedenken.--Wo--was
war Franziska zu jener Zeit gewesen?--Ein Nichts, ein schlafender Keim!
--Wie lange hatte er schon gelebt!--Die Talmulde entlang begann ein kühler
Hauch zu wehen; er hätte wohl lieber nicht in der Abendluft dort sitzen
sollen.
Da schlug der Hund an und richtete sich auf. Gegenüber aus den Tannen
ließen sich Schritte vernehmen, und bald erschien die schlanke Gestalt
eines Mannes, rasch auf dem Fußsteige hinabschreitend. "Ruhig, Leo!"
sagte Richard, und der Hund legte sich gehorsam wieder an seine Seite.
Der Fremde war indessen näher gekommen, und Richard erkannte einen jungen
Mann in herkömmlicher Jägertracht, mit dunklem krausem Haar und kecken
Gesichtszügen; sehr weiße Zähne blinkten unter seinem spitzen
Zwickelbärtchen, als er jetzt, leichthin die Mütze rückend, "guten Abend"
bot.
"Sie wünschen etwas von mir?" sagte Richard, indem er sich erhob.
"Von Ihnen nicht, mein Herr; ich wünsche das junge Mädchen in Ihrem Hause
zu sprechen."
Es war eine Zuversichtlichkeit des Tons in diesen Worten, die Richard das
Blut in Wallung brachte. "Und was wünschen Sie von ihr?" fragte er.
"Wir jungen Leute haben auf Sonntag einen Tanz im Städtchen drüben; ich
bin gekommen, um sie dazu einzuladen.
"Darf ich erfahren, wem sie diese Ehre danken sollte? Ihrer Sprache nach
sind Sie nicht aus dieser Gegend."
"Ganz recht", erwiderte in seiner unbekümmerten Weise der andere; "ich
verwalte nur während der Vakanz die erledigte Försterei der Herrschaft."
"Aber Sie irren sich, Herr Förster; die junge Dame, die in meinem Hause
lebt, besucht nicht solche Tänze."
"Oh, mein Herr, es ist die anständigste Gesellschaft!"
"Ich zweifle nicht daran."
Der andere schwieg einen Augenblick. "Ich möchte doch die junge Dame
selber fragen!"
"Es wird nicht nötig sein."
Richard wandte sich nach der Pforte. Da der Förster auf ihn zutrat, als
wollte er ihn zurückhalten, streckte der Hund seinen mächtigen Nacken und
knurrte ihn drohend an.
"Bemühen Sie sich nicht weiter, Herr Förster!" sagte Richard.
Ein scharfer Blitz fuhr aus den Augen des jungen Gesellen; er biß in
seinen Zwickelbart; dann rückte er, wie zuvor, leichthin die Mütze und
ging, ohne ein Wort zu sagen, den Fußsteig, den er gekommen war, zurück.
Auf halbem Wege wandte er sich noch einmal und warf einen Blick nach den
Fenstern des Waldwinkels; bald darauf verschwand er drüben in dem
schwarzen Schatten der Tannen.
- Während der Hund, wie zur Wache, noch unbeweglich an dem Rand der
Wiesenmulde stand, war Richard ins Haus zurückgegangen. Als er oben in
das Wohnzimmer trat, sah er Franziska am Fenster stehen, die Stirn gegen
eine der Glasscheiben gedrückt; ein Staubtuch, das sie vorher gebraucht
haben mochte, hing von ihrer Hand herab.
"Franzi!" rief er.
Sie kehrte sich, wie erschrocken, zu ihm.
"Sahst du den jungen Menschen, Franzi?" fragte er wieder. "Es war
derselbe, der uns in letzter Zeit ein paarmal im Oberwald begegnet ist."
"Ja, ich bemerkte es wohl."
"Hast du ihn sonst gesehen?" In Richards Stimme klang etwas, das sie
früher nie darin gehört hatte.
Sie blickte ihn forschend an. "Ich?" sagte sie. "Wo sollte ich ihn sonst
gesehen haben?"
"Nun--er war so gütig, dich zum Tanze zu laden."
"Ach, tanzen!" Und ein Blitz von heller Jugendlust schoß durch ihre grauen
Augen.
Er sah sie fast erschrocken an. "Was meinst du, Franzi?" sagte er. "Ich
habe ihn natürlich abgewiesen."
"Abgewiesen!" wiederholte sie tonlos, und der Glanz in ihren Augen war
plötzlich ganz erloschen.
"War das nicht recht, Franzi? Soll ich ihn zurückrufen?"
Aber sie winkte nur abwehrend mit der Hand.--Ohne ihn anzusehen, doch mit
jenem scharfen Klang der Stimme, der sich zum erstenmal jetzt gegen ihn
wandte, fragte sie nach einer Weile: "Hast du je getanzt, Richard?"
"Ich, Franzi? Warum fragst du so?--Ja, ich habe einst getanzt."
"Nicht wahr, und es ist dir eine Lust gewesen?"
"Ja, Franzi", sagte er zögernd, "ich glaube wohl, daß ich es gern getan."
"Und jetzt", fuhr sie in demselben Tone fort, "jetzt tanzest du nicht
mehr?"
"Nein, Franzi; wie sollte ich? Das ist vorbei.--Aber du nimmst mich ja
förmlich ins Verhör!" Er versuchte zu lächeln; aber als er sie anblickte,
standen die grauen Augen so kalt ihm gegenüber. "Vorbei!" sagte er leise
zu sich selber. "Der Schauder hat sie ergriffen; sie kommt nicht mehr
herüber."
Er ließ es still geschehen, als sie nach einer Weile an seinem Halse hing
und ihm eifrig ins Ohr flüsterte: "Vergib! Ich habe dumm gesprochen! Ich
will ja gar nicht tanzen."
--------------------------
Richards Unwohlsein hatte in einigen Wochen so zugenommen, daß er das
Zimmer nicht verlassen konnte. Ein Arzt wurde nicht zugezogen, da ihm
aus früheren Zufällen die Behandlung selbst geläufig war; sogar Frau Wiebs
aus Wachs und Baumöl gekochte Salben wurden unerbittlich zurückgewiesen.
Besser wußte Franziska es zu treffen. Sie saß neben seinem Lehnstuhl, wo
er, an einem künstlich von ihr aufgebauten Pulte, einen Aufsatz über hier
aufgefundene seltene Doldenpflanzen begonnen hatte; sie holte ihm die
betreffenden Exemplare aus dem mit ihrer Hülfe angelegten Herbarium oder
aus der Bibliothek die Bücher, deren er bedurfte; sie suchte darin die
einschlagenden Stellen für ihn auf und las sie vor. "Wenn ich noch einmal
Professor werde", sagte er heiter, "welch einen Famulus besitz ich schon!"
Aber sie war nicht nur sein Famulus, sie war auch das Weib, deren stille
Nähe ihm wohltat, die schweigend seine Hand, wenn sie von der Arbeit ruhte,
in die ihre nahm, die ihm die Polster und den Schemel rückte und ihm mit
sanfter Stimme den Trost auf baldige Genesung zusprach.
Heute--es war am Nachmittag--hatte er sie fortgeschickt, um ein buntes
Lippenblümchen aufzusuchen, das nach seiner Rechnung sich jetzt
erschlossen haben mußte; am Waldwasser, das sie beide zu allen Tageszeiten
oft besucht hatten, standen hie und da die Pflänzchen.--Er selbst war in
seinem Lehnsessel bei der begonnenen Arbeit zurückgeblieben; auf allen
Stühlen um ihn her lagen Bücher und Blätter, von Franziskas Hand vor ihrem
Weggange sorgsam nahe gerückt und geordnet. Eben hatte er eine ihrer
Zeichnungen hervorgesucht, die nach seiner Absicht dem Aufsatze
beigedruckt werden sollte; aber seine Gedanken gingen über das Blatt nach
der Malerin selbst, die jetzt dort drüben der Wald vor ihm verbarg. Ihre
hingebende Sorge an seinem Krankenstuhle wollte ihm auf einmal fast
unheimlich scheinen; denn--er konnte es sich nicht verhehlen--Franzi hatte
sich in der letzten Zeit ihm zu entziehen gesucht; sie war fast wieder
scheu geworden wie ein Mädchen. Sollte dies demütige Dienen ein Ersatz
sein? Es war etwas Müdes in ihrem ganzen Tun und Wesen.
Richard hatte den Kopf zurückgelehnt und blickte aus dem Fenster, in
dessen Nähe seine Krankenstatt aufgeschlagen war. Durch die klare Luft
flog eben ein Zug von Wandervögeln; als der verschwunden war, fielen seine
Augen auf einen Vogelbeerbaum, der drüben vor den Tannen an der
Wiesenmulde stand; eine Schar von Drosseln tummelte sich flatternd und
kreischend zwischen den schon roten Traubenbüscheln, die in dem scharfen
Strahl der Nachmittagssonne aus dem Grün hervorleuchteten.
Fern aus dem Walde hallte ein Schuß.
"Bartholomäustag!" sagte Richard bei sich selbst.--"Die Junker haben ihre
Jagd eröffnet.--Wenn nur Franzi schon zurück wäre!"
Eine ungeduldige Sehnsucht nach ihr ergriff ihn. Er hatte ihr etwas
versagt, woran sie nur einmal und nie wieder erinnert hatte; aber es
schien ihm plötzlich klargeworden, dies Versagen drückte sie. Wenn er nur
erst gesund wäre! Sie konnten hier nicht ewig bleiben; auch er fühlte
jetzt mitunter eine Beklommenheit in dieser Stille, einen Drang, an den
Dingen da draußen wieder frischen Anteil zu nehmen. Dann, wenn sie unter
Menschen lebten, mußte schon alles nachgeholt sein; was er ihr und sich
selber einst entgegengesetzt hatte, er schalt es kranke Träume, die den
Dünsten des öden Moors entstiegen seien. Nein, nein! Sein junges Weib
zur Seite, wollte er wieder ins volle Leben hinaus; ein ganzer froher Mann,
befreit von allem grauen Spinngewebe der Vergangenheit. "Franzi, süße
Franzi!" rief er und streckte beide Arme nach ihr aus.
Aber sie kam noch nicht.
Er versuchte es, seine Arbeit wieder aufzunehmen, er blätterte in den
umherliegenden Büchern, er schrieb eine Zeile, dann legte er die Feder
wieder hin.--Von den Eichbäumen, die zu Westen der Umfassungsmauer standen,
fielen die Schatten schon über den ganzen Hof; nur seitwärts durch die
oberen Scheiben drang noch ein Sonnenstrahl ins Zimmer. Da sah er es
drüben aus den Tannen schimmern; Franziska trat aus dem Dunkel und schritt
langsam auf dem Fußsteige hin; ein paarmal blieb sie wie aufatmend stehen,
während sie durch die Wiesenmulde heraufkam.
Als sie dann zu ihm ins Zimmer getreten war, legte sie einen Strauß von
blauem Enzian und Heideblüten vor ihm hin; auch ein Stengel jenes
Lippenblümchens war dabei, aber die Knospen waren noch nicht erschlossen;
vergebens--so sagte sie--habe sie sich überall nach einer aufgeblühten
Pflanze umgesehen; aber morgen oder übermorgen werde sie gewiß schon eine
bringen können.
Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren heiß. Er ergriff ihre Hand und
wollte sie an sich ziehen.
"Du hast wohl sehr weit umher gesucht?" sagte er.
Aber er fühlte ein leises Widerstreben. "Oh, ziemlich weit! Es war ein
wenig feucht, ich muß die Schuhe wechseln."
"So tu das erst, komm aber bald zurück! Ich habe fast um dich gesorgt."
"Um mich? Das war nicht nötig."
"Ja, Franzi, wenn man krank im Lehnstuhl sitzt!--Ich hörte schießen,
drüben vom Waldwasser her. Hast du es nicht gehört?"
"Ich? Nein, ich hörte nichts." Sie hatte im selben Augenblick den Kopf
gewandt. "Ich komme gleich zurück", sagte sie, ohne umzusehen, und ging
rasch zur Tür hinaus.
Als sie gegangen war, kam der Hund herein, der es bald gelernt hatte, mit
seiner breiten Pfote die Zimmertür zu öffnen. Er legte den Kopf auf
seines Herrn Schoß und blickte ihn wie fragend mit den braunen Augen an.
Richard ließ seine Hand liebkosend über den Rücken des schönen Tieres
gleiten.
"Sei ruhig, Leo!" sagte er, "wir beide bleiben doch beisammen!"--Er teilte
mit den Fingern das seidenweiche Haar unter dem Behang des Kopfes. "Laß
sehen! Hast du denn die Narbe noch?--Das war ein wilder Strauß mit dem
lombardischen Strauchdieb damals! So tolle Wege gehen wir nun nicht mehr!
--Aber schön wird doch auch die neue Fahrt mit deiner jungen Herrin, wenn
sie mit ihren lichten Falkenaugen in die vorüberfliegende Landschaft
blickt, und du, mein Hund, voran in weiten Sprüngen, wie einstens, da wir
noch allein die Welt durchstreiften! Denn hinaus wollen wir wieder, weit
hinaus, und du, mein Tier--gewiß, wir bleiben beieinander!"
Er hatte sich hinabgebeugt, aber Leo schloß wie beruhigt seine Augen, und
nur die Fahne des mächtigen Schweifes bekundete in sanften Bewegungen die
Zufriedenheit seines Innern. So saßen sie still beisammen, wie sie es
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