Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? - 1

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Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden?

Gegen Ersteres und fuͤr Letzteres

beantwortet von
Dr. Ludolf Wienbarg


Motto: _ceterum ceterumque censeo...._


Hamburg
bei Hoffmann und Campe
1834


Dem Nestor norddeutscher Patrioten
dem Freunde veredelter Natur und Menschheit
Herrn Baron von Voght
gewidmet.


Verehrungswuͤrdiger Greis!

Ich habe nie das Gluͤck Ihrer persoͤnlichen Bekanntschaft genossen, aber
ich kenne Ihre Schoͤpfungen, die bluͤhenden Spuren Ihrer
menschenfreundlichen Hand. Bereits als Knabe besuchte ich sehr oft von
Altona aus das schoͤne Flottbeck. Hier woͤlbt sich keine Ulme, keine
Buche, die Sie nicht gepflanzt, hier steigt von hundert freundlichen
Daͤchern kein Rauch in die Luft, der nicht Weihrauch fuͤr Sie waͤre. Das
wußte ich schon als Knabe und so kam es, daß ich an Ihrem Namen zuerst
den Begriff und die Bedeutung eines Menschenfreundes, eines Patrioten
lernte. Eine gluͤcklichere Abstraktion, ein wuͤrdigeres Bild wird selten
der jugendlichen Seele geboten.
Nehmen Sie, Verehrungswuͤrdiger, diesen Ausdruck meiner fruͤhgefaßten
und in reiferem Alter nur genaͤhrten und befestigten Achtung guͤtig auf.
_Eutin_, am 1. December 1833.
Ludolf Wienbarg.


Vorwort.

Wenn die Patrioten bisher uͤber die Kluft der Staͤnde, die Rohheit und
Unempfaͤnglichkeit Volkes in Niedersachsen mit Recht bittere Klage
fuͤhrten, oder im Großen Verbesserungsplaͤne entwarfen, so stand ihnen
die niedersaͤchsische oder plattdeutsche Volkssprache nur sehr im
Hintergrunde und kam weder im Guten, noch im Boͤsen so recht in
Betracht. Ich glaube nachzuweisen, ja mit Haͤnden greiflich zu machen,
daß sie die Wurzel alles Uebels, der Hemmschuh alles Bessern ist.
Gehe hin, meine kleine Schrift, und spreche! Drei Dinge wuͤnsche ich
dir, Fluͤgel, Feinde und Freunde. Die Fluͤgel wuͤnsche ich dir, damit du
dich nach allen Seiten verbreitest, die Feinde und Freunde, damit du
nach alten Seiten besprochen wirst. —
* * * * *


Bekanntlich sprechen die Bewohner Niedersachsens plattdeutsch und
hochdeutsch; ersteres als Volkssprache, letzteres als Sprache der
Bildung. Das Hochdeutsche redet man dialektlos, das heißt Aussprache und
Schreibung stimmen buchstaͤblich uͤberein[1]. Anders in Mittel- und
Suͤd-Deutschland. Goͤthe sprach das Hochdeutsche wie ein geborner
Frankfurter, Schiller wie ein Wirtemberger und noch gegenwaͤrtig hoͤrt
man's der Sprache der Gebildeten Suͤd-Deutschlands ab, in welcher
Provinz sie zu Hause gehoͤren. Daher kann man wol behaupten, daß mancher
niedersaͤchsische Handwerker _reiner_ hochdeutsch spricht, als der
Wuͤrzburger Professor, der Badische Deputirte oder der Bewohner der
Provinz Meissen selbst, dessen Aussprache doch zu seiner Zeit von
Gottsched mit dem Privilegium der Klassizitaͤt begabt worden ist. Allein
man darf nicht vergessen, daß diese Reinheit eine abstrakte und keine
lebendige ist, da der Norden fein hochdeutsch im eigentlichen Sinn des
Worts aus Buͤchern, zumal aus der lutherischen Bibeluͤbersetzung
gelernt, nicht aber wie Mittel- und Suͤd-Deutschland durch lebendig
uralte Tradition von Mund zu Mund empfangen hat.
Ist doch die hochdeutsche Sprache selbst keine Sprache provinzieller
Beschraͤnktheit, keine bloße Mundart Alt-Meissens, sondern im hoͤheren
Sinn ein Kunstwerk des großen Reformators, der aus den beiden
Hauptdialekten des Nordens und Suͤdens, schon ohnehin im Saͤchsischen
sich beruͤhrend eine Sprache schuf, die, wenn auch mit Vorwalten des
suͤddeutschen Elements, jedem deutschen Ohr zugaͤnglich und
verstaͤndlich sein, die eine gemeinsame Sprache aller Deutschen
vorbereiten sollte. Aus den edelsten Metallen des unerschoͤpflichen
deutschen Sprachschachtes gegossen, ward sie in Luthers Haͤnden die
Glocke, welche die Reformation, den dreißigjaͤhrigen Krieg, die ganze
neue Geschichte eingelaͤutet hat.
Mehr als den Griechen der Saͤnger der Odyssee und Ilias muß uns
Deutschen, Katholiken wie Protestanten, der Uebersetzer der Bibel
gefeiert sein. Die altionische Sprache gehoͤrte nicht dem Dichter,
sondern der Nation an. Die Sprache der Bibeluͤbersetzung aber mußte sich
erst geltend machen durch die Gewalt des Genius, sie gehoͤrte Luther an
in dem Sinn, wie man nur irgend auf diesem Gebiet das Eigentumsrecht
fuͤr eine Person in Anspruch nehmen darf.
Denkt euch, Luthers Sprache waͤre nicht durchgedrungen. Zerrissen waͤre
das maͤchtigste Band, das Suͤd und Nord umschlingt. Der Norden wuͤrde
nichts vom Suͤden, der Suͤden nichts vom Norden wissen.
Die theuersten Namen, die jetzt im Herzen der ganzen Nation
wiederklingen, wuͤrden hie und da in einem Winkel Deutschlands genannt
werden und etwa die Eitelkeit ihrer Landsleute aufblaͤhen, alle großen
Maͤnner, die in unserm Vaterlande die Sprache Luthers geredet, alle
Genien der ernsten und froͤhlichen Wissenschaft, auf die wir unsern
Stolz setzen, ja welche die Vorsehung selbst uns zum erhebenden
Selbstgefuͤhl erweckt zu haben scheint, wuͤrden mit vergeblicher
Sehnsucht ihre Fluͤgel uͤber Deutschland ausgebreitet haben, waͤren von
ihrer Geburt an zur Verschrumpfung und Laͤhmung bestimmt gewesen. Es ist
so viel Ungluͤck seit Luther uͤber dieses arme Land hingegangen, daß man
zweifeln koͤnnte, ob nur der Name Deutschland, Deutscher, ehre. Luthers
Schriftsprache, dieses Schwerdt, das Wunden schlug und heilte, uͤber dem
unsaͤglicher Wirrwarr sich schwebend erhalten hatte.
Das kaiserliche Reichsschwerdt ist zerbrochen, Luthers Sprache ist
Reichsschwerdt geworden, glanzvoller, schwungreicher, maͤchtiger,
gefuͤrchteter, als je eins in der Hand eines Hohenstaufens oder
Habsburgers geblitzt hat.
Sprache Luthers, kaiserliches Schwerdt, der Muth hat Dich gestaͤhlt, die
Freiheit Dich geschliffen, der Kampf Dich erprobt.
Sprache Luthers, kaiserliches Schwerdt, rein bist Du von den Blutflecken
der Religionskriege, rein und gesaͤubert vom Geifer theologischer
Streithaͤhne, vom Rost des gelehrten und amtlichen Pedantismus.
Fuͤhrt es ihr Soͤhne des Lichts, denn ihr seid unuͤberwindlich mit
dieser Waffe.
Beruͤhrt es nicht, ihr Kinder der Nacht, denn es ist scharf und faͤhrt
zuruͤck auf eure eigenen Schaͤdel.
* * * * *
Man kann Werth und Wuͤrde der deutschen Schriftsprache lebhaft
anerkennen und dennoch wuͤnschen, daß die ober- und niederdeutschen
Dialekte sich im Munde des Volkes lebendig erhalten. Ich theile diesen
Wunsch nicht. Was namentlich die Frage betrift, welche den Gegenstand
dieser kleinen Schrift ausmacht: „_ist die niedersaͤchsische
Volkssprache zu pflegen oder auszurotten?_“ so antworte ich aus
innigster Ueberzeugung und aus Gruͤnden, welche ich darlegen werde: _sie
ist auszurotten, durch jedes moͤgliche Mittel auszurotten_.
Verstaͤndigen wir uns uͤber etwas sehr Wesentliches. Daß die
plattdeutsche Sprache der Zeit verfallen und aussterben wird, ist keine
Frage mehr.
Eine jede Sprache, die nicht Schriftsprache, Sprache der Bildung, des
gerichtlichen Fortschrittes, der politischen, religioͤsen,
wissenschaftlichen, artistischen Bewegung ist, muß bei dem Stand und
Gang unserer Kultur einer Schrift- und Bildungssprache Platz machen, muß
wie die frisische in Holland, wie die zeltische in Bretagne, die
baskische in Spanien allmaͤhlig aussterben. Auszusterben ist das
nothwendige und natuͤrliche Schicksal der plattdeutschen Sprache. Nichts
kann sie vom Untergang retten. Schreibt plattdeutsche Lustspiele,
Idyllen, Lieder, Legenden — umsonst; das Volk liest euch nicht — liest
es nur den Reineke de Vos? — ihr begruͤndet keine plattdeutsche
Literatur, ihr macht die verbluͤhende Sprachpflanze durch euren
poetischen Mist nicht bluͤhender — sie wird aussterben. Ihr preiset
diese Sprache als alt, ehrlich, treu, warm, gemuͤthlich, wohlklingend —
ihr habt Recht oder nicht — sie wird aussterben. Das ist das
unerbittliche Gesetz der Notwendigkeit.
Allein, es ist wahr, das Nothwendige ist nicht immer das
Wuͤnschenswerthe. Gar vieles begiebt sich in Natur und Geschichte mit
Nothwendigkeit, was nicht bloß die Klage des Thoren, sondern auch den
gerechteren Schmerz des Weisen erregt. Immer ist es des denkenden
Menschen wuͤrdig, sich dessen, was geschehen wird und muß, bewußt zu
werden, immer der sittlichen Kraft und Wuͤrde desselben schaͤdlich und
unwuͤrdig, sich willen- und wunschlos vor der Nothwendigkeit zu beugen.
Nicht selten gelingt Aufschub Vertagung, wo auch nicht, der Mensch darf
sich frei sprechen von Leichtsinn, traͤger Sorglosigkeit, er hat sich
das Recht und die Beruhigung erworben, _animam salvavi_ auszurufen.
Darum frage ich eigentlich, ist es wuͤnschenswerth, daß Niedersachsens
alte Sprache sich aus der Reihe der lebendigen verliert; wenn das, soll
man ihren Untergang der Zeit uͤberlassen oder soll man diesen
beschleunigen; wenn letzteres, welches sind die Mittel dazu?
* * * * *
Um die deutsche Gemuͤthlichkeit ist es ein schoͤnes Ding und was kann
namentlich dem Niedersachsen gemuͤtlicher sein, als seine angeborne
Sprache. Doch ein schoͤneres Ding ist der muthige Entschluß, die
Gemuͤthlichkeit einstweilen auszuziehn, wenn sie uns zu _enge_ wird.
Grade das behaupte ich von der und gegen die plattdeutsche Sprache. Sie
ist dem Verstand der Zeit laͤngst zu enge geworden, ihr Wachsthum hat
bereits mit dem sechszehnten Jahrhundert aufgehoͤrt, sie kann die
geistigen und materiellen Fortschritte der Civilisation nicht fassen,
nicht wiedergeben _und daher verurtheilt sie den bei weitem groͤßten
Theil der Volksmasse in Norddeutschland, dem sie annoch taͤgliches Organ
ist, zu einem Zustande der Unmuͤndigkeit, Rohheit und Ideenlosigkeit,
der vom Zustand der Gebildeten auf die grellste und empoͤrendste Weise
absticht._
Habe ich Recht ober Unrecht? Steht es nicht so mit dem Volk in Hannover,
Westphalen, Meklenburg, Holstein u.s.w.? Wurzelt nicht das Hauptuͤbel im
absoluten Unvermoͤgen der taͤglichen Umgangssprache, den noͤthigsten
Ideenverkehr zu bewerkstelligen?
Daß ich in beiden Unrecht haͤtte. Aber den Stein, den diese Anklage
gegen die plattdeutsche Sprache als eine Feindin der Volksbildung, der
geistigen Thaͤtigkeit erhebt, derselbe gewigtige Stein muß erhoben
werden von jedem Niedersachsen, jedem Deutschen, dem der materielle und
geistige Zustand von Millionen Bruͤdern, dem die Gegenwart und die
Zukunft Deutschlands nicht gleichguͤltig ist.
* * * * *
Halte ich einen Augenblick inne. Ob diese Schrift auch Leser findet, die
in hohe aristokratische Privilegien eben in dem geruͤgten Gebrechen,
eben in dem Umstand, daß die plattdeutsche Sprache seit drei
Jahrhunderten nichts gelernt, eine Tugend derselben entdecken? Soll ich
Ruͤcksicht auf solche Leser nehmen? Soll ich die reine Absicht, die mir
vorschwebt, durch alle Blaͤtter mir verbittern?
Aber es giebt solche, du kennst solche! Wolan denn, mache ich es gleich
und auf einmal mit ihnen ab.
Ja, ihr Herren, diese Sprache hat nichts gelernt seit dem sechszehnten
Jahrhundert, sie hat sich mit keiner einzigen Idee, keinem einzigen
Ausdruck der neuen Geschichte bereichert, sie hat nicht einmal ein Wort
fuͤr Bildung, nicht einmal ein Wort fuͤr Verfassung — ja, ihr Herren,
sie ist noch ganz und gar die Sprache des sechszehnten Jahrhunderts, die
Sprache der Hetzjagden, der Peitschenhiebe, der Hundeloͤcher, die
Sprache des Bauernkrieges und — spuͤrt ihr nichts vom kurzen Takt der
Dreschflegel darin, und seht ihr nicht etwas von kurzem Messer,
geschwungener Sense, geballter Faust als Titelvignette vor den Ausgaben
plattdeutscher Lexika paradiren? — Taͤuscht euch nicht, sie ist noch
immer die Sprache des sechszehnten Jahrhunderts und schleppt die
gebrochenen Ketten sichtbar mit sich umher, und pfluͤgt und ackert jeden
Fruͤhling und jeden Herbst den alten Grimm in die alten Furchen hinein.
O sie ist schrecklich treu, schrecklich dumm und gemuͤthlich; aber laßt
euch sagen, sie hat wenig Religion, nur sehr wenig und sie kennt, wenn
sie wild wird, den Teufel besser als den lieben Gott. Woruͤber ihr euch
nicht sehr zu verwundern habt; denn als sie katholisch war, da war das
Christenthum, die Messe naͤmlich, lateinisch und als sie lutherisch
wurde, wurde das Christenthum, Predigt und Katechismus hochdeutsch.
Bedenkt auch nur, betet denn gegenwaͤrtig ein einziger Bauer oder
Bauernknecht das Vaterunser und den Glauben in der Sprache, worin er
seinen Gevatter bewillkommt, im Kruge Schnaps und Bier fordert oder dem
Steuereinnehmer einen derben Fluch zwischen den Zaͤhnen
hinterherschickt? Wahr ist es also, diese Sprache hat nichts gelernt,
allein sie hat auch _nichts vergessen_, es sei denn ihre alten Lieder,
ihren froͤhlichen Gesang und eben das Vaterunser, das sie fruͤher doch,
wie ich glaube, hat beten koͤnnen.
Nehmt euch ein Bild zu Herzen, das ich euch, — das ich Allen vorhalte.
Eine Sprache, die stagnirt, ist zu vergleichen mit einem See, dem der
bisherige Quellenzufluß versiegt oder abgeleitet wird. Aus dem Wasser,
woruͤber der Geist Gottes schwebte, wird Sumpf und Moder, woruͤber die
unreinen Geister bruͤten. Der Wind mag wehen woher er will, er gleitet
spurlos uͤber die stuͤrmisch gruͤne Decke hin Der Himmel ist blau und
heiter oder stuͤrmisch gefaͤrbt, das ruͤhrt ihn nicht, keine Sonne keine
Wolke spiegelt sich mehr auf der truͤben Flaͤche. Bild der
Unzufriedenheit, der Gleichguͤltigkeit, der Tuͤcke, der Gefahr. Wehe dem
Mann, _der im Truͤben fischen will_ und ausgleitet — was helfen ihm
ruͤstige Arme, Schwimmkunst, er versinkt, er erstickt im tauben Schlamm.
Die Sprache ist das Volk.
* * * * *
Ja wohl, die Sprache ist das Volk und es gab eine Zeit wo das
niedersaͤchsische Volk und die niedersaͤchsische Sprache poetisch waren.
Das ist sehr lange her, die Zeit war heidnisch und der Germane von
Poesie, Muth, Stolz und Freiheit durchdrungen. Die kuͤhnsten Gedichte
aus dieser „rauhen Vorzeit,“ wenn gleich schon vom Duft der
Klostermauern angewittert und durch Moͤnchsfedern auf die Nachwelt
gekommen, verraten niedersaͤchsischen Dialect.
Ich weiß nicht ob viele meiner Leser sich Begriff und Vorstellung machen
von der wunderbaren Natur einer Sprache, die einem vermeintlich
barbarischen und rohen Sittenzustande angehoͤrt. Diese muͤssen mir, und
wenn nicht mir, Jakob Grimm, dem Linnaͤus der deutschen Sprachgeschichte
auf's Wort zu glauben, daß keine Sprache gegenwaͤrtig auf dem Erdboden
gesprochen wird, die an Bau und Kuͤnstlichkeit jener alt-plattdeutschen
Sprache das Wasser reichte. Die grammatische, innerliche Gediegenheit
hatte sie mit den aͤltesten Grundsprachen und mit ihrer oberdeutschen
Schwester gemein und uͤbertraf diese vielleicht an Klang, Kraft und
Wohllaut. Allein, das Schicksal wollte ihre Schwester erheben und sie
fallen lassen. Jene hat im Verlauf der Zeit auch unendlich viel von
ihrer leiblichen Schoͤnheit und jugendlichen Anmuth eingebuͤßt, allein
sie hat Gewandtheit, Schnelle, Feinheit des Ausdrucks, Begriffsschaͤrfe,
vermehrte Zahl der Combinationen zum Ersatz dafuͤr eingetauscht. Die
niedersaͤchsische Sprache dagegen hat ihre Jugend und staͤhlerne Kraft
verloren; ohne an Verstand und innerer Feinheit zu gewinnen. Ihre
grammatischen Formen wurden zerstoͤrt und in noch hoͤherem Grade, als
die der Schwestersprache, aber ohne daß man bemerken konnte, daß der
scharfe Gaͤrungsprozeß der antiheidnischen neueuropaͤischen
Bildungsfermente an der Aufloͤsung einigen Antheil genommen, sondern
ersichtlich und durch dumpfes truͤbes Verwittern, das auch Holz und
Stein und alles Leblose oder Absterbende allmaͤhlig abnagt und zerfrißt.
Als die althochdeutsche Sprache in die mittelhochdeutsche uͤberging,
schaute diese als Siegerin auf dem Turnierplatze des deutschen Geistes
umher, sie war es geworden ohne Kampf. Sprache des maͤchtigsten und
kunstliebendsten Kaiserhauses, lebte sie im Munde der Fuͤrsten, Ritter,
Saͤnger mit und ohne Sporn, Saͤnger mit und ohne Krone, welche die
elegante Literatur ihres Zeitalters begruͤndeten, war sie, was mehr
sagen will, die Sprache des Nibelungenliedes und anderer deutschen
Nationalgedichte, welche mit Ausnahme jener aͤltesten Reliquien theils
nie, theils nur in spaͤterer Uebersetzung im Plattdeutschen
schriftsaͤssig wurden.
Welcher Bann, frage ich, lag uͤber der niedersaͤchsischen Literatur?
Derselbe Bann, der uͤber dem Volk und seiner Geschichte lag. Es sollte
die maͤchtige Naturkraft, die einst diesen Stamm beseelte, stocken und
starren und als truͤber Bodensatz des germanischen Geistes
zuruͤckbleiben.
Welche Kette von Hemmnißen, betaͤubenden und zerreißenden
Ungluͤcksschlaͤgen nur bis zum sechszehnten Jahrhundert!
Karl des Großen Sachsenkrieg, gewaltsam blutige Ausrottung des
Wodandienstes ohne wahrhafte Anpflanzung der Christusverehrung, Sachsen
und Slaven stoßen sich hin und her und mischen sich unter einander, die
alte Sachsenfreiheit schwindet, die Leibeigenschaft nimmt furchtbar
uͤberhand, der Krumstab zu Bremen ist schwach und gewaͤhrt keinen
Schutz, das saͤchsische Kaiserhaus uͤbertreibt die Großmuth und
entaͤußert sich seiner zu Wuͤrde und Glanz so nothwendigen
Stammbesitzungen, Heinrich der Loͤwe, die welfische Macht geht unter,
deren Sieg uͤber die hohenstaufische Norddeutschland so gehoben haͤtte
wie ihre Niederlage Suͤddeutschland emporbrachte, selbst der belebende
Einfluß der Hansa zeigt sich nur im Sinnlichen, nicht im Geistigen
wohlthaͤtig, ihr Seehandel nach dem Norden macht sie nur mit Voͤlkern
und Sitten bekannt, die noch roher waren, als sie selbst; Dagegen
Suͤd-Deutschlands Handelsstaͤdte, Nuͤrnberg, Augsburg mit dem hoch
gebildeten Oberitalien in Verkehr standen.
Und nach dem fuͤnfzehnten Jahrhundert! Muß ich nicht Luther selbst und
die Reformation voranstellen? Darf ich verschweigen, daß die
_unmittelbaren_ Wirkungen dieser auf Jahrtausende hinaus wirkenden
Begebenheit, wie fuͤr ganz Deutschland, so insbesondere auch fuͤr
Niedersachsen nicht gluͤcklich, nicht segenbringend waren? Welch ein
Gemaͤlde des Innern: rabulistische Theologen, hexenriechende
Juristen, blutduͤrstige Obrigkeiten, dumpfer Haß, aͤchzende
Kirchengesaͤnge, furchtbarer Wahnglaube an Zauberei, Bezauberung und
Teufelsbesessenheit[2]. Welch ein Gemaͤlde des Aeußeren: der
dreißigjaͤhrige Krieg, Magdeburgs Untergang, Schwedens Besitznahme
norddeutscher Staͤdte und Provinzen, Hannovers Verwandlung aus fruͤherem
Reichslehn in einen Familienbesitz englischer Koͤnige, wie schon fruͤher
und vor Luther Nordalbingien in einen Familienbesitz daͤnischer Koͤnige,
selbst Brandenburgs steigende Groͤße, die zu guter letzt die Wagschaale
der Macht und des politischen Einflusses uͤberwiegend auf jene
nordoͤstlichen Provinzen Deutschlands niedersenkte, die von slavischer
Stammbevoͤlkerung urspruͤnglich der Wurzelkraft des germanischen Lebens
entbehrten, aber durch Aussaugen und Anziehen germanischer Saͤfte und
Kraͤfte sich konsolidirt und ausgebildet hatten.
Lasse ich die schwere Kette fallen, es fehlt ihr so mancher Ring, dessen
Ergaͤnzung ich dem Geschichtforscher uͤberlasse.
Wie konnte, bei einer solchen Zahl und Reihe von Schicksalen der
niedersaͤchsische Stamm gedeihen, wie konnte sich eine eigentuͤmliche
Literatur unter ihm geltend machen[3], wie konnte die Volkssprache
selbst sich der Entwuͤrdigung und Verschlechterung entziehen? Auf
welcher Bildungsstufe muͤßte die neuere Zeit Volk und Sprache antreffen,
wie tief unter der noͤthigsten Fassungskraft, wie selbst ohne Ahnung
dessen, was zur Begruͤndung und Sicherung eines verbesserten
Staatslebens elementarisch vorauszusetzen?
* * * * *
Allein, hoͤre ich Jemand einwerfen, wenn auch die plattdeutsche Sprache
ganz dem Bilde gleicht, das du von ihr entworfen, wenn sie _selbst_ auch
unfaͤhig ist, Element der Volksbildung zu sein, so erwartet eigentlich
auch Niemand dieses Geschaͤft von ihr, das ja von der allgemein
verbreiteten und verstandenen hochdeutschen Sprache laͤngst uͤbernommen
und verwaltet wurde.
Antwort: uͤbernommen aber nicht verwaltet. Damit behauptet man einen
Widerspruch gegen alle Vernunft und Erfahrung. _Selbst die allgemeinste
Erlernung und Verbreitung der hochdeutschen Sprache uͤbt so lange gar
keinen oder selbst nachteiligen Einfluß auf die Volksbildung, als neben
ihr Plattdeutsch die Sprache des gemeinen Lebens bleibt._
Allerdings wird die hochdeutsche Sprache als Organ der Volksbildung
uͤberall in Niedersachsen angewendet. Es gibt wol wenig Doͤrfer, wo die
Jugend nicht Gelegenheit findet, das Hochdeutsche ein wenig verstehen,
ein wenig sprechen, ein wenig lesen und ein wenig schreiben zu lernen.
Die Leute muͤssen wol. Amtmann, Pfarrer, Bibel, Gesangbuch, Katechismus,
Kalender sprechen hochdeutsch. Ohnehin sind die Kinder schulpflichtig
und beim Hobeln setzt es Spaͤhne ab.
Allein, Jedermann weiß, plattdeutsch bleibt ihr Lebenselement. Das
sprechen sie unter sich, zu Hause, im Felde, vor und nach der Predigt.
Das kommt ihnen aus dem Herzen, dabei fuͤhlen sie sich wohl und
vergewissern sich, daß sie in ihrer eigenen Haut stecken, was ihnen,
sobald sie hochdeutschen, sehr problematisch wird.
Der erste Schulgang macht in der Regel auch die erste Bekanntschaft mit
der hochdeutschen Sprache. Mit Haͤnden und Fuͤßen straͤubt sich der
Knabe dagegen. Ich bedaure ihn, er soll nicht bloß seine bisherige
Freiheit verlieren, unter die Zuchtruthe treten, buchstabiren lernen,
was auch andern Kindern Herzeleid macht; er soll uͤberdies in einer
Sprache buchstabiren und lesen lernen, die er nicht kennt, die nicht mit
ihm aufgewachsen ist, deren Toͤne er nicht beim Spiel, nicht von seiner
Mutter, seinem Vater, seinen kleinen und großen Freunden zu hoͤren
gewohnt war. Alles was er von diesem Augenblick an liest, lernt, hoͤrt
in der Schule und unter den Augen des Lehrers, klingt ihm gelehrt,
fremd, vornehm und tausend Meilen von seinem Dorf entfernt. Daß der
rothe Hahn in seiner Fibel _kraͤht_ und der lebendige in seinem Hause
_krait_, scheint ihm sehr sonderbar. In der Bibel nennen sich alle Leute
_du_, der Unterlehrer sagt zum Oberlehrer _sie_, er aber ist gewohnt,
bloß seine Kameraden zu dutzen, Vater, Mutter und andere Erwachsene mit
_he_ und _se_ anzureden. Kommt an ihn die Reihe zu lesen, laut zu lesen,
so nimmt er die Woͤrter auf die Zunge und stoͤßt sie heraus wie die
Scheiben einer Frucht, die er nicht essen mag, weil er sie nicht kennt.
Was er auswendig lernt, lernt er nicht einwendig. Was ihm allenfalls
noch Vergnuͤgen macht, ist der gemeinschaftliche Gesang am Schluß der
Schule und auf Kirchbaͤnken. Von Natur mit einer hellen durchdringenden
Stimme begabt, wetteifert er mit dem Chor um die hoͤchsten Noten,
betaͤubt seinen Kopf und findet eine Art Vergnuͤgen und Erholung darin,
dieselben Verse des Gesangbuches bloß herauszuschreien, die er zu
anderer Zeit auswendig lernen muß.
Erreicht er das gesetzliche Alter, so wird er konfirmirt. Wer ist froher
als er. Nun tritt er voͤllig wieder in das plattdeutsche Element
zuruͤck, dem er als Kind entrissen wurde. Er hat die ersten Forderungen
des Staates und der Kirche erfuͤllt. Er hat seinen Taufschein durch
seinen Confirmationsschein eingeloͤs't. Ersteren bekam er ohne seinen
Willen zum Geschenk, um letzteren mußte er sich, auch wider seinen
Willen, redlich abplacken.
Auf beide Scheine kann er spaͤter heiraten und Staatsbuͤrger werden.
Was ist die Frucht dieses Unterrichts? Er hat rechnen, lesen und
schreiben gelernt. Er kann auch lesen und schreiben, aber er lies't und
schreibt nicht. (Umgekehrt der franzoͤsische Bauer, der kann nicht
lesen, aber er laͤßt sich vorlesen). Ich frage also, was ist die Frucht
dieses hochdeutschen Unterrichts? Welchen Einfluß uͤbt derselbe auf sein
Geschaͤft, auf seine Stellung als Familienvater, Staatsbuͤrger, Glied
der Kirche, der sichtbaren, wie der unsichtbaren?
Folgen wir ihm, wenn er aus der Kirche kommt. Die Predigt ist
herabgefallen, der Gesang verrauscht wie ein Platzregen auf seinen
Sonntagsrock, zu Hause zieht er diesen aus und haͤngt ihn mit allen
Worten und himmlischen Tropfen, die er nicht nachzaͤhlt, bis zum
kuͤnftigen Sonntag wieder an den Nagel. Frage: kann er die hochdeutsche
Predigt hochdeutsch durchdenken, spricht er mit Nachbaren, mit Frau und
Kindern hochdeutsch vom Inhalt derselben, ist er gewohnt und geuͤbt, ist
er nur im Stande, den religioͤsen Gedankengang in's Plattdeutsche zu
uͤbersetzen? Antwort: schwerlich. Frage: hat ihn die Predigt das Herz
erwaͤrmt, den Verstand erleuchtet? Antwort ein Schweigen. Armer Bauer,
vor mir bist du sicher, ich lese dir daruͤber den Text nicht. Kannst du
etwas dafuͤr, daß der Kanzelton nicht die Grundsaite deines Lebens
beruͤhrt, daß jener Nerv, der von zart und jung auf gewohnt ist, die
Worte der Liebe, der Herzlichkeit, des Verstaͤndnisses in dein Inn'res
fortzupflanzen, nicht derselbe ist, der sich vom Klang der hochdeutschen
Sprache ruͤhren laͤßt. Wer auf der Gefuͤhlsleiter in deine Herzkammer
herabsteigen will, muß wollene Struͤmpfe und hoͤlzerne Schuh anziehen,
in schwarzseidenen Struͤmpfen dringt man nicht bis dahin. Wuͤßte man
nur, begriffe man nur, wie es in deinem einfaͤltigen Kopf zusteht und
daß die hochdeutschen Woͤrter und die plattdeutschen Woͤrter, die du
darin hast sich gar nicht gut mit einander vertragen, sich nicht
verstehn und sich im Grund des Herzens fremd, ja feind sind. Die
plattdeutschen Woͤrter sind deine Kinder, deine Nachbaren, dein alter
Vater, deine selige Mutter, die hochdeutschen sind der Schulmeister, der
Herr Pastor, der Herr Amtmann, vornehme Gaͤste, die dir allzuviel Ehre
erweisen, in deinem schlechten Hause vorzukehren, mit dir vorlieb zu
nehmen, Woͤrter in der Perruͤcke, in schwarzem Mantel, welche deine und
deiner plattdeutschen Wort Familie Behaglichkeit stoͤren, dich in deiner
Luft beeintraͤchtigen, dir bald von Abgaben, bald von Tod und juͤngsten
Gericht vorsprechen, Grablieder uͤber deinen Sarg singen werden, ohne
sich uͤber deine Wiege gebuͤckt und _Eia im Suse_ und andere
Wiegenlieder gesungen zu haben. Armer Bauer, ich habe dich immer in
Schutz genommen und diese Schrift, obgleich du sie nicht lesen wirst,
ist eigentlich nur fuͤr dich und zu deinem Heil und Besten geschrieben.
Viele Leute aus der Stadt klagen dich an, daß du trotz deiner Einfalt
verschmizt bist, trotz deiner Rohheit nicht weniger als Kind der Natur
bist, sie sagen, daß du dir eine und die andere Gewissenlosigkeit gar
wenig zu Herzen nimmst. Aber ich habe ihnen immer geantwortet, unser
Bauer hat nicht zu wenig Gewissen, er hat zu viel. Er hat zwei Gewissen,
ein hochdeutsches und ein plattdeutsches, und das eine ist _ihm_ zu
fein, das andere _uns_ zu grob und dickhaͤutig. Zu diesem wird ihm in
seinem eigenen Hause der Flachs gesponnen, jenes webt ihm die Moral und
die Dogmatik; in dem einen sitzt er wohl und warm und es ist sein Kleid
und Brusttuch so lange er lebt, in dem andern friert ihn und er haͤlt es
nur deswegen im Schrank, um damit einmal anstaͤndig unter die Schaar der
Engel zu treten.
Ist ihm sein Verhaͤltniß zum Staat durch den hochdeutschen Unterricht
vielleicht klarer geworden, als sein Verhaͤltniß zur Kirche? Erwirbt er
sich durch das hochdeutsche Medium, das einzige, das ihm Aufschluͤsse
uͤber eine so wichtige Angelegenheit geben kann, Kenntnisse von seinen
Rechten und Pflichten im Staats-Verein, ist ihm dadurch ein Gefuͤhl von
Selbststaͤndigkeit, ein Bewußtsein von den Grenzen der Freiheit und des
Zwanges, von Gesetz und Willkuͤhr aufgegangen, Gemeinsinn geweckt: sein
dumpfes egoistisches Selbst zu einem Bruderkreise erweitert, der Wohl
und Weh an allen Gliedern zugleich und gemeinschaftlich spuͤrt? _Wie_
das alles? Seine Beamte klaͤren ihn nicht auf und er selber — er liest
nicht, er nimmt keine Schrift, kein Blatt zur Hand, er laͤßt sich auch
nicht vorlesen, das ist gelehrt, hochdeutsch, geht uͤber seinen
Horizont, laͤßt sich nicht weiter besprechen, sein Verstand hat kaum
einen Begriff, seine Sprache kein analoges Wort dafuͤr. Armer Bauer. Und
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