Gehirne: Novellen - 3

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Phänomenen, Empirien, zielstrebigen Gesten, dem ganzen Grauen bejahter
Wirklichkeiten, zu einer Hypothese von Realität, die er
erkenntnistheoretisch nicht mehr halten konnte, um des Kindes willen, das
schon blau war, des Rachens halber, der erstickte, und der Geld abwarf und
von Amts wegen?
Plötzlich fühlte er sich tief ermüdet und ein Gift in seinen Gliedern. Er
trat an ein Fenster, das in den Garten ging. In dem stand schattenlos die
Blüte weiß, und voll Spiel die Hecke; an allen Gräsern hing etwas, das
zitterte; in den Abend lösten sich Düfte aus Sträuchern, die leuchteten,
grenzenlos und für immer.
Einen Augenblick streifte es ihn am Haupt: eine Lockerung, ein leises
Klirren der Zersprengung, und in sein Auge fuhr ein Bild: klares Land,
schwingend in Bläue und Glut und zerklüftet von den Rosen, in der Ferne
eine Säule, umwuchert am Fuß; darin er und die Frau, tierisch und verloren,
still vergießend Säfte und Hauch.
Aber schon war es vergangen. Er fuhr sich über die Augen. Schon sprang der
Reifen wieder um seine Stirn und eine Kühle an die Schläfen: was lag denn
hier vor? Er hatte mit einer Frau zusammengelebt und hatte einmal gesehen,
daß sie Rosenblätter, die welkten, von einer Kante zusammengelesen hatte,
zusammen zu einem kleinem Haufen auf einen gesteinten bunten Tisch, dann
setzte sie sich wieder, verloren an einen hellen Strauch. Das war alles,
was er wirklich von ihr wußte; der Rest war, daß er sich genommen war, es
rauschte und er blutete -- -- -- aber wo führte das hin?
Hart wurde sein Blick. Gestählt drang er in den Garten, ordnend die Büsche,
messend den Pfad. Und nun kam es über ihn: er stand am Ausgang eines
Jahrtausends, aber die Frau war stets; er schuldete seine Entwicklung einer
Epoche, die das System erschaffen hatte, und was auch kommen mochte, dies
war er!
Fordernd jagte er seinen Blick in den Abend und siehe, es blaute das
Hyazinthenwesen unten Duftkurven reiner Formeln, einheitliche
Geschlossenheiten, in den Gartenraum; und eine versickernde
Streichholzvettel rann teigig über die Stufen eines Anstaltgebäudes unter
Glutwerk berechenbarer Lichtstrahlen einer untergehenden Sonne senkrecht in
die Erde. --


Der Geburtstag

Allmählich war ein Arzt über neunundzwanzig Jahre geworden und sein
Gesamteindruck war nicht darnach, Empfindungen besonderer Art zu erwecken.
Aber so alt er war, er fragte sich dies und das. Ein Drängen nach dem Sinn
des Daseins warf sich ihm wiederholt entgegen: wer erfüllte ihn: der Herr,
der rüstig schritt, den Schirm im Arm; die Hökerin, die vor dem Flieder
saß, der Markt war aus, im Abendwehn; der Gärtner, der alle Namen wußte:
Kirschlorbeer und Kakteen, und dem die rote Beere im toten Busch vorjährig
war?
Aus der norddeutschen Ebene stammte er. In südlichen Ländern natürlich war
der Sand leicht und lose; ein Wind konnte -- das war nachgewiesen -- Körner
um die ganze Erde tragen; hier war das Staubkorn, groß und schwer.
Was hatte er erlebt: Liebe, Armut und Röntgenröhren; Kaninchenställe und
kürzlich einen schwarzen Hund, der stand auf einem freien Platz, bemüht um
ein großes rotes Organ zwischen den Hinterbeinen hin und her, beruhigend
und gewinnend; herum standen Kinder, Blicke von Damen suchten das Tier,
halbwüchsige Jugend wechselte die Stellung, den Vorgang im Profil zu sehen.
Wie hatte er das alles erlebt: er hatte Gerste eingefahren von den Feldern,
auf Erntewagen, und das groß: Mandel, Kober und Kimme vom Pferd. Dann war
der Leib eines Fräuleins voll Wasser und es galt Abfluß und Drainage. Aber
über allem schwebte ein leises zweifelndes Als ob: als ob Ihr wirklich
wäret Raum und Sterne.
Und nun? Ein grauer nichtssagender Tag würde es sein, wenn man ihn begrub.
Die Frau war tot; das Kind weinte ein paar Tränen. Er hatte sich nie viel
um es gekümmert, es war Lehrerin und mußte abends noch in Hefte sehen. Dann
war es aus. Beeinflussung von Gehirnen durch und über ihn zu Ende. Es trat
in ihr Recht die Erhaltung der Kraft.
Wie hieß er mit Vornamen? Werff.
Wie hieß er überhaupt? Werff Rönne.
Was war er? Arzt in einem Hurenhaus.
Was schlug die Uhr? Zwölf. Es war Mitternacht. Er wurde dreißig Jahre. In
der Ferne rauschte ein Gewitter. In Maiwälder brach die Wolke auf.
Nun ist es Zeit, sagte er sich, daß ich beginne. In der Ferne rauscht ein
Gewitter, aber ich geschehe. In Maiwälder bricht die Wolke auf, aber
_meine_ Nacht. Ich habe nördliches Blut, das will ich nie vergessen. Meine
Väter fraßen alles, aus Trögen und Stall. Aber ich will mich, sprach er
sich Mut zu, auch nur ergehen. Dann wollte er sich etwas Bildhaftes
zurufen, aber es mißlang. Dies wieder fand er bedeutungsvoll und
zukunftsträchtig: vielleicht sei schon die Metapher ein Fluchtversuch, eine
Art Vision und ein Mangel an Treue.
* * *
Durch stille blaue Nebel, vom nahen Meer in das Land getrieben, schritt
Rönne, als er am nächsten Morgen in sein Krankenhaus ging.
Das lag außerhalb der Stadt und aller Pflasterwege. Er mußte über Boden
gehen, der war weich, der ließ Veilchen durch; gelöst und durchronnen
schwankte er um den Fuß.
Da aus Gärten warf sich ihm der Krokus entgegen, die Kerze der Frühmett des
Dichtermunds, und zwar gerade die gelbe Art, die Griechen und Römern der
Inbegriff alles Lieblichen gewesen, was Wunder, daß sie ihn in das Reich
der Himmlischen versetzten? In Teichen von Krokussäften badete der Gott.
Ein Kranz von Blüten wehrte dem Rausch. Am Mittelmeer die Safranfelder: die
dreiteilige Narbe; flache Pfannen; Roßhaarsiebe über Feuern, leicht und
offen.
Er trieb sich an: arabisches Za-fara, griechisches Kroké. Es stellte sich
ein Korvinius, König der Ungarn, der es verstanden hatte, beim Speisen
Safranflecke zu vermeiden. Mühelos nahte sich der Färbestoff, das Gewürze,
die Blütenmatte und das Alpental.
Noch hingegeben der Befriedigung, so ausgiebig zu assoziieren, stieß er auf
ein Glasschild mit der Aufschrift: Cigarette Maita, beleuchtet von einem
Sonnenstrahl. Und nun vollzog sich über Maita -- Malta -- Strände --
leuchtend -- Fähre -- Hafen -- Muschelfressen -- Verkommenheiten -- der
helle klingende Ton einer leisen Zersplitterung, und Rönne schwankte in
einem Glück. Dann aber betrat er das Hospital: ein unnachgiebiger Blick,
ein unerschütterlicher Wille: die heute ihm entgegentretenden Reize und
Empfindungen anzuknüpfen an den bisherigen Bestand, keine auszulassen, jede
zu verbinden. Ein geheimer Aufbau schwebte ihm vor, etwas von Panzerung und
Adlerflug, eine Art Napoleonischen Gelüstes, etwa die Eroberung einer
Hecke, hinter der er ruhte, Werff Rönne, dreißigjährig, gefestigt, ein
Arzt.
* * *
Ha, heute nicht einfach, Beine breit und herab vom Stuhl, mein Fräulein,
die feine blaue Ader von der Hüfte in das Haar, die wollen wir uns merken!
Ich kenne Schläfen mit diesen Adern, es sind schmale weiße Schläfen, müde
Gebilde, aber diese will ich mir merken, geschlängelt, ein Ästchen
Veilchenblut! Wie? Wenn nun das Gespräch auf Äderchen kommt -- gepanzert
stehe ich da, in Sonderheit auf Hautäderchen: An der Schläfe?? O meine
Herren!! Ich sah sie auch an anderen Organen, fein geschlängelt, ein
Ästchen Veilchenblut. Vielleicht eine Skizze gefällig? So verlief sie --,
soll ich aufsteigen? Die Einmündung? Die große Hohlvene? Die Herzkammer?
Die Entdeckung des Blutkreislaufes -- -- --? Nicht wahr, eine Fülle von
Eindrücken steht Ihnen gegenüber? Sie tuscheln, wer ist der Herr? Gesammelt
steht er da? Rönne ist mein Name, meine Herren. Ich sammle hin und wieder
so kleine Beobachtungen; nicht uninteressant, aber natürlich gänzlich
belanglos, kleiner Beitrag zum großen Aufbau des Wissens und Erkennens des
Wirklichen, ha! ha!
Und Sie, meine Damen, wir kennen uns doch! Gestatten Sie, daß ich Sie
erschaffe, umkleide mit Ihren Wesenheiten, mit Ihren Eindrücken in mir,
unzerfallen ist das Leitorgan, es wird sich erweisen, wie es sich erinnert,
schon steigen Sie auf.
Sie sprechen den Teil an, den Sie lieben. In sein Auge sehen Sie, geben
Seele und Hauch. -- Sie haben die Narben zwischen den Schenkeln, ein
Araberbey; große Wunden müssen es gewesen sein, gerissen von der
lasterhaften Lippe Afrikas. -- Sie aber schlafen mit der weißen ägyptischen
Ratte, Ihre Augen sind rosarot; Sie schlafen auf der Seite, an der Hüfte
das Tier. Seine Augen sind gläsern und klein wie zwei rote Kaviarkörner. In
der Nacht befällt sie der Hunger. Über die Schlafende steigt das Tier. Auf
dem Nachttisch steht ein Teller mit Mandeln. Leise steigt es zurück an die
Hüfte, schnuppernd und stutzend. Oft erwachen Sie, wenn sich der Schwanz
über die Oberlippe schlängelt, kühl und hager.
Einen Augenblick prüfte er in sich hinein. Aber machtvoll stand er da.
Erinnerungsbild an Erinnerungsbild gereiht, dazwischen rauschten die Fäden
hin und her.
Und Sie aus dem Freudenhaus in Aden, brütend an Wüste und Rotem Meer. Über
die Marmorwände rinnt alle Stunde bläuliches Wasser. Aus Gittern am Boden
steigen Wolken aus räucherndem Kraut. Alle Völker der Erde kennen Sie nach
der Liebe. Ihre Sehnsucht ist ein bescheidenes Haus am dänischen Sund.
Kommen letzte Wallungen, ein Billard, vor dem Knaben im leichten Anzug
spielen. -- Und Sie, in dem Bordell, durch das der Krieg gezogen, zwischen
Geschirr und Leder täglich hundertfach zerborsten unter unbekannten
Gliedern oder auch unter Ballen aus Blutungen und Kot.
Verklärt stand er vor sich selbst. Wie er es hervorspielte, ach, spielte!
regenbogente! grünte! eine Mainacht ganz unnennbar! Er kannte sie alle.
Gegenüber stand er ihnen, sauber und ursprünglich. Er war nicht schwach
gewesen. Starkes Leben blutete durch sein Haupt.
Er kannte sie alle; aber er wollte mehr. An ein sehr gewagtes Gebiet wollte
er heran; es gab wohl ein Bewußtseinsleben ohne Gefühle oder hatte es
gegeben, aber unsere Neigungen -- dieses Satzes entsann er sich deutlichst
-- sind unser Erbteil. In ihnen erleben wir, was uns beschieden ist: nun
wollte er eine lieben.
Er sah den Gang entlang, und da stand sie. Sie hatte ein Muttermal,
erdbeerfarben, vom Hals über eine Schulter bis zur Hüfte und in den Augen,
blumenhaft, eine Reinheit ohne Ende und um die Lider eine Anemone, still
und glücklich im Licht.
Wie sollte sie heißen? Edmée, das war hinreißend. Wie weiter? Edmée Denso,
das war überirdisch; das war wie der Ruf der neuen sich vorbereitenden
Frau, der kommenden, der ersehnten, die der Mann sich zu schaffen im Gange
war: blond, und Lust und Skepsis aus ernüchterten Gehirnen.
Also: nun liebte er. Er spürte in sich hinein: Das Gefühl. Den Überschwang
galt es zu erschaffen gegen das Nichts. Lust und Qual zu treiben in den
Mittag, in ein kahles graues Licht. Aber nun mußte es auch flirren! Es
waren starke Empfindungen, denen er gegenüberstand. Er konnte in diesem
Land nicht bleiben. --: Südlichkeiten! Überhöhung!
Edmée, in Luxor ein flaches weißes Haus oder in Kairo den Palast? Das Leben
in der Stadt ist heiter und offen, berühmt ist das Licht, klar vor Glut,
und plötzlich kommt die Nacht. Du hast unzählige Fellachenfrauen zu deiner
Bedienung, zu Gesang und Tänzen. Du wirst zu Isis beten, die Stirn an
Säulen lehnen, deren Kapitäle an den Ecken die platten Köpfe mit den langen
Ohren tragen; zwischen Stelzvögeln in Schluchten von Sykomoren stehen.
Einen Augenblick suchte er. Es war etwas wie Kopthe aufgestiegen, aber er
vermochte es nicht zu fördern. Nun sang er wieder, der Weiche im Glück.
Der Winter kommt, und die Felder grünen; einige Blätter des Granatstrauchs
fallen, aber das Korn schießt auf vor deinen Augen. Was willst du haben:
Narzissen oder Veilchen das Jahr hindurch in dein Bad geschüttet morgens,
wenn du dich spät erhebst; willst du nachts durch kleine Nildörfer
streichen, wenn auf die krummen Straßen die großen klaren Schatten fallen
durch den hellen südlichen Mond? Ibiskäfige oder Reiherhäuser?
Orangengärten, gelbflammend und Saft und Dunst über die Stadt wölkend in
der Mittagsstunde, von Ptolomäertempeln einen geschnittenen Fries?
Er hielt inne. War das Ägypten? War das Afrika um einen Frauenleib, Golf
und Liane um der Schultern Flut? Er suchte hin und her. War etwas
zurückgeblieben?? War Hinzufügbares vorhanden? Hatte er es erschaffen:
Glut, Wehmut und Traum?
Aber was für ein eigentümliches Wehen in seiner Brust! Eine Erregung, als
ströme er hin. Er verließ das Untersuchungszimmer, durchschritt die Halle
in den Park. Es zog ihn nieder, auf den Rasen zog es ihn, leichthingemäht.
Wie hat es mich müde gemacht, dachte er, mit welcher Stärke! Da durchschlug
ihn, daß Erblassen die Frucht sei und die Träne der Schmerz --:
Erschütterungen! Klaffende Ferne!
Üppig glühte der Park. Ein Busch auf dem Rasen trug Blattwerk wie Farren,
jeder Fächer groß und fleischig wie ein Reh. Um jeden Baum, der blühte, lag
die Erde, geschlossen, ein Kübel, ihn tränkend und ihm völlig preisgegeben.
Himmel und Blüten: weich, aus Augen, kamen Bläue und Schnee.
-- Schluchzender, Edmée, dir immer näher! Eine Marmorbrüstung beschlägt das
Meer. Südlich versammelt Lilien und Barken. Eine Geige eröffnet dich bis in
dein Schweigendes hinein. --
Er blinzelte empor. Er zitterte: Gegen den Rasen stürmte der Glanz, feucht
aus einer goldenen Hüfte; und Erde, die den Himmel bestieg. Am Ranft gegen
die Schatten rang gebreitet das Licht. Hin und her war die Zunge einer
Lockung: aus ihrem Gefieder Blütengüsse entwichen der Magnolie in ein
Wehen, das vorübertrieb.
Edmée lachte: Rosen und helles Wasser.
Edmée ging: Durch Steige, zwischen Veilchen, in einem Licht von Inseln, aus
osmiumblauen Meeren, kurz von Quader und Stern; Tauben, Feldflüchter,
hackten Silber mit den Schwingen.
Edmée bräunte sich, ein bläuliches Oval. Vor Palmen spielte sie, sie hatte
viel geliebt. Wie eine Schale trug sie ihre Scham kühl durch die Beugung
des erwärmten Schritts, auf der Hüfte die Hand schwer, erntegelb, unter
Korn und Samen.
Im Garten wurde Vermischung. Nicht mehr von Farben hallte das Beet,
Bienengesumm nicht mehr bräunte die Hecke. Erloschen war Richtung und
Gefälle: Eine Blüte, die trieb, hielt inne und stand im Blauen, Angel der
Welt. Kronen lösten sich weich, Kelche sanken ein, der Park ging unter im
Blute des Entformten. Edmée breitete sich hin. Ihre Schultern glätteten
sich, zwei warme Teiche. Nun schloß sie die Hand, langsam, um einen Schaft,
die Reife in ihrer Fülle, bräunlich abgemäht an den Fingern, unter großen
Garben verklärter Lust -- --:
Nun war ein Strömen in ihm, nun ein laues Entweichen. Und nun verwirrte
sich das Gefüge, es entsank fleischlich sein Ich --:
-- Es hallten Schritte über das Gefälle eines Tals durch eine flache weiße
Stadt; dunkle Gärten schlossen die Gassen. Auf Simsen und Architraven, die
zerfallend Götter und Mysterien herhielten, verteilt durch ein
florentinisches Land, lagen Tropfen hellen Bluts. Ein Schatten taumelte
zwischen Gliedern, die stumm waren, zwischen Trauben und einer Herde; ein
Brunnen rann, ein splitterndes Spiel.
Im Rasen lag ein Leib. Aus Kellern spülte ein Dunst; es war Essenszeit,
Pfeifen und Grieben, der schlechte Atem eines Sterbenden.
Aufsah der Leib: Fleisch, Ordnung und Erhaltung riefen. Er lächelte und
schloß sich wieder; schon vergehend sah er auf das Haus: was war geschehen?
Welches war der Weg der Menschheit gewesen bis hierher? Sie hatte Ordnung
herstellen wollen in etwas, das hätte Spiel bleiben sollen. Aber
schließlich war es doch Spiel geblieben, denn nichts war wirklich. War er
wirklich? Nein; nur alles möglich, das war er.
Tiefer bettete er den Nacken in das Maikraut, das roch nach Thyrsos und
Walpurgen. Schmelzend durch den Mittag kieselte bächern das Haupt.
Er bot es hin: das Licht, die starke Sonne rann unaufhaltsam zwischen das
Hirn. Da lag es: kaum ein Maulwurfshügel, mürbe, darin scharrend das Tier.
* * *
Was aber ist mit dem Morellenviertel, fragte er sich bald darauf? Hinter
dem Palast, um dessen Pfeiler Lorbeer steht, brechen Gassen in die Tiefe,
den Hang hinunter steht Haus bei Haus klein herab.
Einäugige lungern um Schneckenwagen. Sie legen Geld hin. Frauen kerben die
Schale auf. Ein Schnitt im Kreis und das Fleisch hängt rosa aus der
Muschel. Sie tauchen es in eine Tasse mit Brühe und beißen. Die Frau
hustet, und sie müssen weiter.
Wahrsager mit Hilfe von Ideenübertragung klingeln unaufhörlich schrill
namentlich an Damen gewandt und haben Batterien.
Zigeunerinnen vor Karren, Rochen, flacher, violett und silbern, mit
abgehackten Köpfen; welche zur Hälfte gespalten, eingekerbt und zum
Trocknen gehangen; dazwischen krumme, dürre Fische, kupfern und schillernd.
Es riecht nach Brand und alten Fetten. Unzählige Kinder verrichten ihre
Notdurft, ihre Sprache ist fremd.
Was ist es mit dem Morellenviertel, fragte sich Rönne. Ich muß es bestehen!
Auf! Hinab! Ich schwor mir, nie will ich dieses Bild vergessen: des
Sommers, der eine Mauer schlug mit Büschen, flammend von Gefieder, mit
Strauchgerten, beißend von dichten, blauen Fleischen, gegen eine Mauer, die
nicht strömte, die feuchte, blaue Ranke!
Er jagte herunter. Um die hohe Gasse rann es zusammen: kleine Häuser,
unterwühlt von langen, schmalen Höhlen, die spieen Gebein aus, Junges
strotzend, Altes mürbe, hochgegürtet die Scham.
Was wurde verkauft: Holzpantoffeln für die Notdurft, grüne Klöße für das
Ich, Ankerschnäpse für die Lust, Nötigstes des Leibes und der Seele,
Salbenbüchsen und Madonnen.
Was ging vor sich: kleine Kinder vor Knieenden, dicht, eben ihrer Brust
entsprungen; rauhe Stimmen, verkommen über verbranntes Gestein; tiefer als
denkbar grub ein Herr in die Tasche; Schädel, eine Wüste, Leiber, eine
Gosse, tretend Erde, kauend: Ich und du.
Auge, fernevolles, Blut, traumrauschend, rief er sich zu, deine
Mittagsflüge, wehe sie! muß Rönne schon vergehen, unverschanzt?:
Große Woge ist die Frau, gute Mutter, die die Fische wendet hin und her,
auf dem Rücken sind sie braun gefleckt, Bröckel Blütenstaub und
Samenpulver?
Eines Rahmens wert erschien das schlichte Bild: Einbrecher, böser Mann am
Kassentisch, die brave Besitzerin niedergeschlagen, letzter Blick vom Boden
gilt dem Hund??:
Und du ins Gras gelümmelt, Mittagshengst -- und jetzt schon Überwölkung???
Dreißigjährig -- und Kahlkropf ungefiedert??
Er floh tiefer in die Gasse. Aber da: ein kleines Denkmal: dem Gründer
eines Jugendstifts: die Menschenseele, das Gemeinsystem, die
Lebensverlängerung und der Stadtrat strotzten Vollbart und Vermehrung. Der
Aufbau tat sich auf: Proben der Tüchtigkeit wurden abgelegt und zwar dies
wiederholt, Untersuchungen vorgenommen, die zu Feststellungen führten.
Wo war sein Süden hin? Der Efeufelsen? Der Eukalyptos, wo am Meer? Ponente,
Küste des Niedergangs, silberblaue die Woge her!
Er hetzte in eine Kaschemme; er schlug sich mit Getränken heißen, braunen.
Er legte sich auf die Bank, damit der Kopf nach unten hinge wegen der
Schwerkraft und des Bluts. Hilfe, schrie er! Überhöhung!
Stühle, Gegenstände für Herren, die bei nach vorn gebogenen Knien einen
Stützpunkt unter der Hinterfläche der Beine haben wollten, trockneten dumpf
und nördlich. Tische für Gespräche wie diese: Na, wie geht's, schelmisch
und männlich und um die Schenkel herum liefen ehrbar durch die Zeit. Kein
Tod schleuderte die triefäugige Mamsell stündlich, wenn die Uhr schlug, vor
das Nichts. Krämer scharrten; keine Lava über den toten Schotter!
Und er? Was war er? Da saß er zwischen seinen Reizen, das Pack geschah mit
ihm. Sein Mittag war Hohn.
Wieder quoll das Gehirn herauf, der dumpfe Ablauf des ersten Tages. Immer
noch zwischen seiner Mutter Schenkel -- so geschah er. Wie der Vater stieß,
so rollte er ab. Die Gasse hatte ihn gebrochen, zurück: die Hure schrie.
Schon wollte er gehen, da geschah ein Ton. Eine Flöte schlug auf der grauen
Gasse, zwischen den Hütten blau ein Lied. Es mußte ein Mann gehen, der sie
blies. Ein Mund war tätig an dem Klang, der aufstieg und verhallte. Nun hub
er wieder an.
Von Ohngefähr. Wer hieß ihn blasen? Keiner dankte ihm. Wer hätte denn
gefragt, wo die Flöte bliebe? Doch wie Gewölke zog er ein: wehend seinen
weißen Augenblick und schon verwehend in alle Schluchten der Bläue.
Rönne sah sich um: verklärt, doch nichts hatte sich verändert. Aber ihm:
bis an die Lippen stand das Glück. Sturz auf Sturz, Donner um Donner;
rauschend das Segel, lohend der Mast: Zwischen kleinen Becken dröhnte
gestreckt das Dock: Groß glühte heran der Hafenkomplex:
Über die Felsen steigt das Licht, schon nimmt es Schatten an, die Villen
schimmern und der Hintergrund ist bergerfüllt. Eine schwarze Rauchpinne
verfinstert die Mole, indes mit der gekräuselten Welle das winzige
Lokalboot kämpft. Über die Landungsbrücke, die schwankt, eilt der
geschäftige Facchini; Hojo -- tirra -- Hoy --, klingt es; es flutet der
volle Lebensstrom. Gegen tropische und subtropische Striche, Salzminen und
Lotosflüsse, Berberkarawanen, ja gegen den Antipoden selbst steht der
Schiffsbauch gerichtet; eine Ebene, die die Mimose säumt, entleert
rötliches Harz, ein Abhang zwischen Kalkmergel, den fetten Ton. Europa,
Asien, Afrika: Bisse, tödliche Wirkungen, gehörnte Vipern; am Kai das
Freudenhaus tritt dem Ankömmling entgegen, in der Wüste schweigend steht
das Sultanhuhn. --
Noch stand es schweigend, schon geschah ihm die Olive.
Auch die Agave war schön, aber die Taggiaska kam, feinölig, die
blauschwarze, schwermütig vor dem Ligurischen Meer.
Himmel, selten bewölkt, Rosen ein Gefälle; durch alle Büsche der blaue
Golf, aber die endlosen lichten Wälder, welch ein schattenschwerer Hain!
Wurde um den Stamm das Tuch gebreitet, lag Arbeit vor. Gemisch von Hörnern,
Klauen, Ledern und wollenen Lumpen, jedes vierte Jahr war Speisung gewesen.
Jetzt aber schlugen Männer, sonst dem Kegelspiel mit spannungsvollem Eifer
hingegeben, die Kronen, jäh den Früchten zugewandt.
In der Mulme der Rüsselkäfer. Eine Zygäne flackernd aus der Myrte. Kleine
Presse wird gedreht, schieferner Keller still durchgangen. Ernte naht sich,
Blut der Hügel, um den Hain, bacchantisch, die Stadt.
Kam Venedig, rann er über den Tisch. Er fühlte Lagune, und ein Lösen,
schluchzend. Scholl dumpf das Lied aus alten Tagen des Dogen Dandolo,
stäubte er in ein warmes Wehn.
Ein Ruderschlag: Ein Eratmen; ein Barke: Stütze des Haupts.
Fünf eherne Rosse, die Asien gab, und um die Säulen sang es: manchmal eine
Stunde, da bist Du; der Rest ist das Geschehen. Manchmal die beiden Fluten
schlagen hoch zu einem Traum. Manchmal rauscht es: wenn Du zerbrochen bist.
Rönne lauschte. Tieferes mußte es noch geben. Aber der Abend kam schnell
vom Meer.
Blute, rausche, dulde, sagte er vor sich hin. Männer sahen ihn an. Jawohl,
sagte er, ihre Sommersprossen, ihr kahler Hals, über dessen Adamsapfel das
Haar stachelt -- unter meine Kreuzigung, ich will zur Rüste gehen.
Er bezahlte rasch und erhob sich. Aber an der Tür nahm er den Blick noch
einmal zurück an das Dunkel der Taverne, an die Tische und Stühle, an denen
er so gelitten hatte und immer wieder leiden würde. Aber da, aus dem
gerippten Schaft des Tafelaufsatzes neben der leckäugigen Frau glühte aus
großem, sagenhaftem Mohn das Schweigen unantastbaren Landes, rötlichen,
toten, den Göttern geweiht. Dahin ging, daß fühlte er tief, nun für immer
sein Weg. Eine Hingebung trat in ihn, ein Verlust von letzten Rechten,
still bot er die Stirn, laut klaffte ihr Blut.
Es war dunkel geworden. Die Straße nahm ihn auf darüber der Himmel, grüner
Nil der Nacht.
Über das Morellenviertel aber klang noch einmal der Ton der Flöte: manchmal
die beiden Fluten schlagen hoch zu einem Traum.
Da enteilte ein Mann. Da schwang sich einer in seine Ernte, Schnitter
banden ihn, gaben Kränze und Spruch. Da trieb einer, glühend aus seinen
Feldern, unter Krone und Gefieder, unabsehbar: er, Rönne.

Ende.
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