Gehirne: Novellen - 1

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Gehirne
Novellen
von
Gottfried Benn


Leipzig
Kurt Wolff Verlag
1916


Gedruckt bei E. Haberland in Leipzig-R.
Oktober 1916 als fünfunddreißigster Band
der Bücherei »Der jüngste Tag«


Copyright 1916 by Kurt Wolff Verlag · Leipzig


Inhalt

Gehirne
Die Eroberung
Die Reise
Die Insel
Der Geburtstag



Gehirne

Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch
Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos
verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut
angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen
ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer
merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft.
Jetzt saß er auf einem Eckplatz und sah in die Fahrt: es geht also durch
Weinland, besprach er sich, ziemlich flaches, vorbei an Scharlachfeldern,
die rauchen von Mohn. Es ist nicht allzu heiß; ein Blau flutet durch den
Himmel, feucht und aufgeweht von Ufern; an Rosen ist jedes Haus gelehnt,
und manches ganz versunken. Ich will mir ein Buch kaufen und einen Stift;
ich will mir jetzt möglichst vieles aufschreiben, damit nicht alles so
herunterfließt. So viele Jahre lebte ich, und alles ist versunken. Als ich
anfing, blieb es bei mir? Ich weiß es nicht mehr.
Dann lagen in vielen Tunneln die Augen auf dem Sprung, das Licht wieder
aufzufangen; Männer arbeiteten im Heu, Brücken aus Holz, Brücken aus Stein;
eine Stadt und ein Wagen über Berge vor ein Haus.
Veranden, Hallen und Remisen, auf der Höhe eines Gebirges, in einen Wald
gebaut -- hier wollte Rönne den Chefarzt ein paar Wochen vertreten. Das
Leben ist so allmächtig, dachte er, diese Hand wird es nicht unterwühlen
können, und sah seine Rechte an.
Im Gelände war niemand außer Angestellten und Kranken; die Anstalt lag
hoch; Rönne war feierlich zu Mute; umleuchtet von seiner Einsamkeit
besprach er mit den Schwestern die dienstlichen Angelegenheiten fern und
kühl.
Er überließ ihnen alles zu tun: das Herumdrehen der Hebel, das Befestigen
der Lampen, den Antrieb der Motore, mit einem Spiegel dies und jenes zu
beleuchten -- es tat ihm wohl, die Wissenschaft in eine Reihe von
Handgriffen aufgelöst zu sehen, die gröberen eines Schmiedes, die feineren
eines Uhrmachers wert. Dann nahm er selber seine Hände, führte sie über die
Röntgenröhre, verschob das Quecksilber der Quarzlampe, erweiterte oder
verengte einen Spalt, durch den Licht auf einen Rücken fiel, schob einen
Trichter in ein Ohr, nahm Watte und ließ sie im Gehörgang liegen und
vertiefte sich in die Folgen dieser Verrichtung bei dem Inhaber des Ohrs:
wie sich Vorstellungen bildeten von Helfer, Heilung, guter Arzt von
allgemeinem Zutrauen und Weltfreude, und wie sich die Entfernung von
Flüssigkeiten in das Seelische verwob. Dann kam ein Unfall und er nahm ein
Holzbrettchen mit Watte gepolstert, schob es unter den verletzten Finger,
wickelte eine Stärkebinde herum und überdachte, wie dieser Finger durch den
Sprung über einen Graben oder eine übersehene Wurzel, durch einen Übermut
oder einen Leichtsinn, kurz, in wie tiefem Zusammenhange mit dem Lauf und
dem Schicksal dieses Lebens er gebrochen schien, während er ihn jetzt
versorgen mußte wie einen Fernen und Entlaufenen, und er horchte in die
Tiefe, wie in dem Augenblick, wo der Schmerz einsetzte, eine fernere Stimme
sich vernehmen ließe.
Es war in der Anstalt üblich, die Aussichtslosen unter Verschleierung
dieses Tatbestandes in ihre Familien zu entlassen wegen der Schreibereien
und des Schmutzes, den der Tod mit sich bringt. Auf einen solchen trat
Rönne zu, besah ihn sich: die künstliche Öffnung auf der Vorderseite, den
durchgelegenen Rücken, dazwischen etwas mürbes Fleisch; beglückwünschte ihn
zu der gelungenen Kur und sah ihm nach, wie er von dannen trottete. Er wird
nun nach Hause gehen, dachte Rönne, die Schmerzen als eine lästige
Begleiterscheinung der Genesung empfinden, unter den Begriff der Erneuerung
treten, den Sohn anweisen, die Tochter heranbilden, den Bürger hochhalten,
die Allgemeinvorstellung des Nachbars auf sich nehmen, bis die Nacht kommt
mit dem Blut im Hals. Wer glaubt, daß man mit Worten lügen könne, könnte
meinen, daß es hier geschähe. Aber wenn ich mit Worten lügen könnte, wäre
ich wohl nicht hier. Überall wohin ich sehe, bedarf es eines Wortes, um zu
leben. Hätte ich doch gelogen, als ich zu diesem sagte: Glück auf!
Erschüttert saß er eines Morgens vor seinem Frühstückstisch; er fühlte so
tief: der Chefarzt würde verreisen, ein Vertreter würde kommen, in dieser
Stunde aus diesem Bette steigen und das Brötchen nehmen: man denkt, man
ißt, und das Frühstück arbeitet an einem herum. Trotzdem verrichtete er
weiter, was an Fragen und Befehlen zu verrichten war; klopfte mit einem
Finger der rechten Hand auf einen der linken, dann stand eine Lunge
darunter; trat an Betten: guten Morgen, was macht Ihr Leib? Aber es konnte
jetzt hin und wieder vorkommen, daß er durch die Hallen ging, ohne jeden
einzelnen ordnungsgemäß zu befragen, sei es nach der Zahl seiner
Hustenstöße, sei es nach der Wärme seines Darms. Wenn ich durch die
Liegehallen gehe -- dies beschäftigte ihn zu tief -- in je zwei Augen falle
ich, werde wahrgenommen und bedacht. Mit freundlichen und ernsten
Gegenständen werde ich verbunden, vielleicht nimmt ein Haus mich auf, in
das sie sich sehnen, vielleicht ein Stück Gerbholz, das sie einmal
schmeckten. Und ich hatte auch einmal zwei Augen, die liefen rückwärts mit
ihren Blicken; jawohl, ich war vorhanden: fraglos und gesammelt. Wo bin ich
hingekommen? Wo bin ich? Ein kleines Flattern, ein Verwehn.
Er sann nach, wann es begonnen hätte, aber er wußte es nicht mehr: ich gehe
durch eine Straße und sehe ein Haus und erinnere mich eines Schlosses, das
ähnlich war in Florenz, aber sie streifen sich nur mit einem Schein und
sind erloschen.
Es schwächt mich etwas von oben. Ich habe keinen Halt mehr hinter den
Augen. Der Raum wogt so endlos; einst floß er doch auf eine Stelle.
Zerfallen ist Rinde, die mich trug.
Oft, wenn er von solchen Gängen in sein Zimmer zurückgekehrt war, drehte er
seine Hände hin und her und sah sie an. Und einmal beobachtete eine
Schwester, wie er sie beroch oder vielmehr, wie er über sie hinging, als
prüfe er ihre Luft, und wie er dann die leicht gebeugten Handflächen, nach
oben offen, an den kleinen Fingern zusammenlegte, um sie dann einander zu
und ab zu bewegen, als bräche er eine große, weiche Frucht auf oder als
böge er etwas auseinander. Sie erzählte es den anderen Schwestern, aber
niemand wußte, was es zu bedeuten habe. Bis es sich ereignete, daß in der
Anstalt ein größeres Tier geschlachtet wurde. Rönne kam scheinbar zufällig
herbei, als der Kopf aufgeschlagen wurde, nahm den Inhalt in die Hände und
bog die beiden Hälften auseinander. Da durchfuhr es die Schwester, daß dies
die Bewegung gewesen sei, die sie auf dem Gang beobachtet hatte. Aber sie
wußte keinen Zusammenhang herzustellen und vergaß es bald.
Rönne aber ging durch die Gärten. Es war Sommer; Otternzungen schaukelten
das Himmelsblau, die Rosen blühten, süß geköpft. Er spürte den Drang der
Erde: bis vor seine Sohlen, und das Schwellen der Gewalten: nicht mehr
durch sein Blut. Vornehmlich aber ging er Wege, die im Schatten lagen und
solche mit vielen Bänken; häufig mußte er ruhen vor der Hemmungslosigkeit
des Lichtes, und preisgegeben fühlte er sich einem atemlosen Himmel.
Allmählich fing er an, seinen Dienst nur noch unregelmäßig zu versehen;
namentlich aber, wenn er sich gesprächsweise zu dem Verwalter oder der
Oberin über irgendeinen Gegenstand äußern sollte, wenn er fühlte, jetzt sei
es daran, eine Äußerung seinerseits dem in Frage stehenden Gegenstand
zukommen zu lassen, brach er förmlich zusammen. Was solle man denn zu einem
Geschehen sagen? Geschähe es nicht so, geschähe es ein wenig anders. Leer
würde die Stelle nicht bleiben. Er aber möchte nur leise vor sich hinsehn
und in seinem Zimmer ruhn.
Wenn er aber lag, lag er nicht wie einer, der erst vor ein paar Wochen
gekommen war, von einem See und über die Berge; sondern als wäre er mit der
Stelle, auf der sein Leib jetzt lag, emporgewachsen und von den langen
Jahren geschwächt; und etwas Steifes und Wächsernes war an ihm lang, wie
abgenommen von den Leibern, die sein Umgang gewesen waren.
Auch in der Folgezeit beschäftigte er sich viel mit seinen Händen. Die
Schwester, die ihn bediente, liebte ihn sehr; er sprach immer so
flehentlich mit ihr, obschon sie nicht recht wußte, um was es ging. Oft
fing er etwas höhnisch an: er kenne diese fremden Gebilde, seine Hände
hätten sie gehalten. Aber gleich verfiel er wieder: sie lebten in Gesetzen,
die nicht von uns seien und ihr Schicksal sei uns so fremd wie das eines
Flusses, auf dem wir fahren. Und dann ganz erloschen, den Blick schon in
einer Nacht: um zwölf chemische Einheiten handele es sich, die
zusammengetreten wären nicht auf sein Geheiß, und die sich trennen würden,
ohne ihn zu fragen. Wohin solle man sich dann sagen? Es wehe nur über sie
hin.
Er sei keinem Ding mehr gegenüber; er habe keine Macht mehr über den Raum,
äußerte er einmal; lag fast ununterbrochen und rührte sich kaum.
Er schloß sein Zimmer hinter sich ab, damit niemand auf ihn einstürmen
könne; er wollte öffnen und gefaßt gegenüberstehen.
Anstaltswagen, ordnete er an, möchten auf der Landstraße hin und her
fahren; er hatte beobachtet, es tat ihm wohl, Wagenrollen zu hören: das war
so fern, das war wie früher, das ging in eine fremde Stadt.
Er lag immer in einer Stellung: steif auf dem Rücken. Er lag auf dem
Rücken, in einem langen Stuhl, der Stuhl stand in einem geraden Zimmer, das
Zimmer stand im Haus und das Haus auf einem Hügel. Außer ein paar Vögeln
war er das höchste Tier. So trug ihn die Erde leise durch den Äther und
ohne Erschüttern an allen Sternen vorbei.
Eines Abends ging er hinunter zu den Liegehallen; er blickte die
Liegestühle entlang, wie sie alle still unter ihren Decken die Genesung
erwarteten; er sah sie an, wie sie dalagen: alle aus Heimaten, aus Schlaf
voll Traum, aus Abendheimkehr, aus Gesängen von Vater zu Sohn, zwischen
Glück und Tod -- er sah die Halle entlang und ging zurück.
Der Chefarzt wurde zurückgerufen; er war ein freundlicher Mann, er sagte,
eine seiner Töchter sei erkrankt. Rönne aber sagte: sehen Sie, in diesen
meinen Händen hielt ich sie, hundert oder auch tausend Stück; manche waren
weich, manche waren hart, alle sehr zerfließlich; Männer, Weiber, mürbe und
voll Blut. Nun halte ich immer mein eigenes in meinen Händen und muß immer
darnach forschen, was mit mir möglich sei. Wenn die Geburtszange hier ein
bißchen tiefer in die Schläfe gedrückt hätte . . .? Wenn man mich immer
über eine bestimmte Stelle des Kopfes geschlagen hätte . . .? Was ist es
denn mit den Gehirnen? Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der
Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall. Aber nun geben Sie mir bitte den
Weg frei, ich schwinge wieder -- ich war so müde -- auf Flügeln geht dieser
Gang -- mit meinem blauen Anemonenschwert -- in Mittagsturz des Lichts --
in Trümmern des Südens -- in zerfallendem Gewölk -- Zerstäubungen der
Stirne -- Entschweifungen der Schläfe.


Die Eroberung

Aus der Ohnmacht langer Monate und unaufhörlichen Vertriebenheiten --: Dies
Land will ich besetzen, dachte Rönne, und seine Augen rissen den weißen
Schein der Straße an sich, befühlten ihn, verglichen ihn mit den Schichten
nah am Himmel und mit der Helle der Mauer eines Hauses, und schon verging
er vor Glück in den Abend, in die deutliche Verlängerung des Lichtes, in
dieses kühle Ende eines Tages, der voll Frühling war.
Die Eroberung ist zu Ende, sagte er sich, es ist fester Fuß gefaßt. Sie
tragen ihre Ohnmacht noch in Farben an ihre Hütten, in Schleifen, rot und
gelb, und kleinen Fahnen an der Jacke; aber vertrieben werden wir hier
zunächst nicht werden. Dagegen alles, was geschieht, geschieht erstmalig.
Eine fremde Sprache, alles ist haßerfüllt und kommt zögernd über einen
Abgrund her. Hier will ich Schritt für Schritt vorgehen. Wenn irgendwo, muß
es mir hier gelingen.
Er schritt aus; schon blühte um ihn die Stadt. Sie wogte auf ihn zu, sie
erhob sich von den Hügeln, schlug Brücken über die Inseln, ihre Krone
rauschte. Über Plätze, vor Jahrhunderten liegen geblieben und von keinem
Fuß berührt, drängten alle Straßen hernieder in ein Tal; es war ein Abstieg
in der Stadt, sie ließ sich sinken in die Ebene, sie entsteinte ihr Gemäuer
einem Weinberg zu.
Er verhielt auf einem Platz, sank auf eine Mauer, schloß die Augen, spürte
mit den Händen durch die Luft wie durch Wasser und drängte: Liebe Stadt,
laß Dich doch besetzen! Beheimate mich! Nimm mich auf in die Gemeinschaft!
Du wächst nicht auf, Du schwillst oben nicht an, alles das ermüdet so. Du
bist so südlich; Deine Kirche betet in den Abend, ihr Stein ist weiß, der
Himmel blau. Du irrst so an das Ufer der Ferne, Du wirst Dich erbarmen,
schon umschweifst Du mich.
Er fühlte sich gefestigt. Er schwang über die Boulevards; es war ein Wogen
hin und her. Er ging beschwingt; die Frauen trug er in seinen Falten wie
Staub; die Entthronten; was gab es denn: kleine Höhlen und ein Büschel Erde
in der Achsel. Einer Blonden wogte beim Atmen eine Rose hin und her. Die
roch nun mit dem Blut der Brust zusammen irgendeinem Manne zu.
Ihr trieb er nach in ein Café. Er setzte sich und atmete tief: ja hier ist
die Gemeinschaft. Er sah sich um: Ein Mann versenkte sein Weiches in ein
Mädchen; die dachte, es käme von Gott, und strich sich glatt. Der
Unterkiefer eines Zurückgebliebenen meisterte mit Hilfe von zwei
verwachsenen Händen eine Tasse, die Eltern saßen dabei und verwahrten sich.
Auf allen Tischen standen Geräte, welche für den Hunger, welche für den
Durst. Ein Herr machte ein Angebot; Treue trat in sein Auge, Weib und Kind
verernsteten seine Züge. Einer bewertete sachlich ein Gespräch. Einer kaute
eine Landschaft an, der Wände Schmuck. Ja, hier ist das Glück, sagte er
sich und blähte seine Nüstern, als versenke er sich, -- das tiefe, gedehnte
Glück. Nehmt mich auf in die Gemeinschaft!
Schon erhob er die Blicke wie zu seinesgleichen. Seine Augen schweiften wie
die des Kauenden. Nicht mehr leugnen ließ sich, daß das Licht auf der
Straße sich verdunkelte, und daß tief gebeugt ein Mädchen sang. Klar zutage
lagen die Lüste zwischen den Soldaten und den Frauen, und der Kellner
gewann an Geltung. Und er fühlte, wie er wuchs und still ward, so kühl
umstanden zu sein von lauter Dingen, die geschahen.
Nun wurde er kühner; er entlastete sich auf die Stühle, und siehe -- sie
standen da. Er verteilte, was er unter der Stirne trug, um der Säulen Samt.
Die Marmorplatten wuchsen sich aus, die Klinken traten selbständig hervor.
Er schweifte sich innen aus: auf die Borde, auf die Simse häufte er aus
allen Höhlen und Falten Last um Last.
Nun hing sogar ein Bild an der Wand: eine Kuh auf einer Weide. Eine Kuh auf
einer Weide, dachte er; eine runde braune Kuh, Himmel und ein Feld. Nein,
was für ein namenloses Glück aus diesem Bild entstehen kann! Da steht sie
nun mit vier Beinen, mit eins, zwei, drei, vier Beinen, das läßt sich gar
nicht leugnen; sie steht mit vier Beinen auf einer Wiese aus Gras und sieht
drei Schafe an, eins, zwei, drei Schafe, -- o die Zahl, wie liebe ich die
Zahl, sie sind so hart, sie sind rundherum gleich unantastbar, sie starren
von Unangreifbarkeit, ganz unzweideutig sind sie, es wäre lächerlich,
irgend etwas an ihnen aussetzen zu wollen; wenn ich noch jemals traurig
bin, will ich immer Zahlen vor mich her sagen; er lachte froh und ging.
Himmel um sein Haupt, blühte er durch das leise Spiel der Nacht. Sein waren
die Gassen, für seine Gänge, ohne Demütigung vernahm er seiner Schritte
Widerhall. Er fühlte ein Erschließen, er stieg auf; eine Pore war er, aus
der es grünen wollte, eingeebnet fühlte er sich in das Schlenkern der Arme
eines Mannes, der hastig über die Straße schritt, gehürnt von einem Ziel.
Weich und mahlend bewältigte er die Schaufenster durch Gedanken über
Gegenstände in den Läden, stand herum prüfenden Blickes, als beabsichtige
er einzukaufen, ging weiter, nicht befriedigt von dem, was man ihm bot.
Hart heran an Gangart und Gesichtsausdruck von anderen Männern trat er,
schloß sich dem an, glättete seine Züge, um sie gelegentlich aufzucken zu
lassen in der Erinnerung an ein Vorkommnis im Laufe des Tages, sei es
heiterer, sei es ernster Art. Einen belebten großen Platz vollends nahm er
wahr, um plötzlich stehen zu bleiben, erschrocken mit der Hand an die Stirn
zu fassen und den Kopf zu schütteln: nein, zu ärgerlich! nun hatte er etwas
vergessen; entfallen war ihm etwas, das zu tun ihm oblag; ein Versäumnis
lag vor, das trotz aller bevorstehender Verabredungen des Abends
unverzüglich nachzuholen ihm die Pflicht gebot. Weitergehen erübrigte sich.
Es hieß jetzt, der Umkehr ins Auge sehen und vollbringen, was einmal als
Recht erkannt.
Erregt machte er kehrt; die einreihenden Gedanken der Nachblickenden
wärmten ihn und trieben ihn an: Vielleicht erzählte nun einer von ihm zu
Hause, vielleicht spöttelte er ein wenig, vielleicht sagte er etwas
schadenfroh: ein Herr, der etwas vergessen hatte -- vielleicht kam er nun
zu spät zu seiner Verabredung -- vielleicht blieb ihm nun die Tür
verschlossen während der Ouverture, -- er mußte noch einmal zurückgehen --
wahrscheinlich in sein Bureau --, wahrscheinlich ein Brief an einen
Geschäftsfreund --, man kennt das ja selbst -- ja ja, so ist das Leben --
man erzieht sich selbst -- man muß manches opfern -- aber nur den Kopf
nicht sinken lassen --, erhebt die Herzen, -- Sursum corda -- der gestirnte
Himmel -- das dienende Glied.
Er bog in ein Friseurgeschäft und unterzog sich der Pflege.
Ein Herr bekam den Hinterkopf gepudert. Warum, fragte sich Rönne, ich
bekomme ihn nicht gepudert. Er überlegte. Er war blond. Es geht daraus
hervor, daß das Prinzip des Weißen mit dem Prinzip des Blonden für diesen
Zweck identisch ist. Es dürfte sich um den Lichtreflex handeln, um den
Brechungskoeffizienten sozusagen. Jawohl, Brechungskoeffizient, sehr gut,
und er verweilte einen Augenblick.
Man muß nur an alles, was man sieht, etwas anzuknüpfen vermögen, es mit
früheren Erfahrungen in Einklang bringen und es unter allgemeine
Gesichtspunkte stellen, das ist die Wirkungsweise der Vernunft, dessen
entsinne ich mich.
Stark und gerüstet dehnte er sich in dem Rasierstuhl. Der junge Mann
tänzelte herum, tupfte hin und her und puderte und strich.
Er war wieder auf der Straße. Eine Frau bot einen flachen Korb herum mit
Veilchensträußen, blau wie Stücke der Nacht, mit Orchideenbündeln, weichen
Zusammenflusses aus hellblau und orange.
Die Orchidee, lachte er selbstgefällig, die Blüte des heißen Afrika, der
Liebling der Sammler, der Gegenstand so mancher Ausstellungen des In- und
Auslandes, jawohl, ich weiß Bescheid, jawohl, ich bin nicht unkundig,
selbst zu einem Fachmann fände ich Beziehungen.
Da fiel sein Blick auf die Inschrift eines Hauses, die hieß etwa:
Schlachthof.
Nun mußte er sich eingehend über Schlachthof äußern. Der Dresdener
Schlachthof vergleichsweise, erbaut Anfang der siebziger Jahre von Baurat
Köhler, versehen mit den hygienisch-sanitären Vorrichtungen modernsten
Systems -- bahnbrechend war in dieser Richtung die Entdeckung des Dänen
Johannsen. Es war ein Junitag des denkwürdigen Jahres der finnischen
Expedition. Da ging er am Morgen durch die Östergaade und sah zwei Kühe
ankommen, alter jütländischer Art -- -- heraus aus einer solchen Fülle des
Tatsächlichen sprach er; so äußerte er sich, so stand er Antwort und Rede,
klärte manches auf, half über Irrtümer hinweg, diente der Sache und
unterstand der Allgemeinheit, die ihm dankte.
Messer und Geräte, Griffe und Anerkennung des Raumes Erforderndes, traten
ihm entgegen. Nun wurde er gar ein Jäger, eine starke, geschlossene
Gestalt. Er scheute sich nicht, durch grüne Joppe und Hornknöpfe Aufschluß
über sein Gewerbe jedem Vorübergehenden zu geben. Er war wetterhart und
gebräunt und einen kräftigen Schluck zum zweiten Frühstück, jawohl die
Herren, und noch einmal! Er erzählte in einem größeren Kreise von dem
Sechserbock, wie er den Drilling an die Backe nahm, und das Silberkorn
flimmerte in der Kimme. Er prüfte und begutachtete einen Standhauer,
erinnerte an die ungünstigen Erfahrungen mit dem Modell eines Försters aus
der Nachbarschaft; er nickte bedächtig, schüttelte mit dem Kopf und sprach
starken Atems in die rauhe Morgenluft, kurz, er war der geachtete Mann, dem
im Umfang seines Faches Vertrauen zukam, eine bodenständige Natur, festen
Schrittes und aufrechter Art.
Nun erkrankte ihm vollends sein Kind; an einem Frühlingsmorgen, das junge
Geschöpf! Er schluchzte mit seinem Weibe; aber mit dem kurzen Daumen des
Broterwerbers strich er sich durch den Bart, den Schmerz zu meistern. Er
stand demütig vor dem Unbegreiflichen; aller Rätsel wurde auch er nicht
Herr; das Mythische ragte in sein Leben hinein, die guten und die bösen
Dinge, die Träne und das Blut.
Allmählich aber war die Nacht tiefer geworden und schloß ihn ein. Nun
schwoll wirklich um ihn der Wald. Er sank auf Moos unter Stern und stillen
Lauten. Blau stand zwischen Bäumen, Tier und Dorf. In ihrem Bett die
Quelle. In ihrem Silberheim die Hügel. Und im Schauer seiner Haut, im
Sprunge seiner Glieder, im Trunk der Augen, in seines Ohres Rausch: er, als
der Blüten eine, er, als der Tiere Beischlaf, unter einem Himmel, unter
einer Nacht --
Im Taumel halb, und halb weil Klänge riefen, stieg er die Stufen hinunter
in den Saal.
Da tanzte eine hinter Schleiern, die Brüste gebunden, und ein
Korallengaumen, aus dem sie lachte. Zwei wehten mit ihren Händen an ihren
Leibern vorbei und trieben Geruch und Lust den Männern zu. Eine stieß Leib
und Brüste hervor nach Enthüllungen. Zwei, die sich lieben wollten,
streiften die Ringe ab, die hatten rauhe Steine.
Er aber spürte die Hände alle auf den Hüften, den Drang, sich abzuflachen
auf die Erde, die Zuckungen, das Zusammenströmen und den Aufwuchs, und
plötzlich stand vor ihm die Schwangere: breites, schweres Fleisch, triefend
von Säften aus Brust und Leib; ein magerer, verarmter Schädel über feuchtem
Blattwerk, über einer Landschaft aus Blut, über Schwellungen aus tierischen
Geweben, hervorgerufen durch eine unzweifelhafte Berührung.
Da sprang er eine an, brach sie auf biß in Gebein, das wie seines war,
entriß ihm Schreie, die wie seine klangen, und verging an einer Hüfte,
erstürmt von einem fremden Rund. --
Dann stieß der Morgen hervor, rot und siegreich. Rönne schritt durch die
Wellen der Frühe, durch das Meer, das über die Wolken brach.
Rein und klar sah er hinter sich die Nacht, nun ging er den Weg zu den
Palmengärten am Rande der Stadt.
Das Licht wuchs an, der Tag erhob sich; immer der gleiche ewige Tag, immer
das unverlierbare Licht.
Die letzten Straßen, Brut quoll aus den Kellern; vorbei schabte ein Mönch,
der Triumph des Inhalts; Frauen, Geruch aus Nestern und Begattung hinter
sich herschleifend, führten ihre bejahenden Versenkungen dem Nachbar zu. Zu
ihnen gehörten sie alle: Der Jäger und der Krüppel, der Vergeßliche und der
Tänzer, -- alle glaubten, versteckt oder frei, an die großen Gehirne, um
die die Götter schwebten.
Er, der Einsame; blauer Himmel, schweigendes Licht. Über ihm die weiße
Wolke: die sanftgekappten Rande, das schweifende Vergehen.
Er wehte sich über die Stirn: Am Abend, als ich ausging, schien ich mir
noch des Schmerzes wert. Nun mag ich unter Farren liegen, die Stämme
anschielen und überall die Fläche sehen.
Die Türen sanken nieder, die Glashäuser bebten, auf einer Kuppel aus
Kristall zerbarst ein Strom des unverlierbaren Lichts: -- so trat er ein
--.
Ich wollte eine Stadt erobern, nun streicht ein Palmenblatt über mich hin.
Er wühlte sich in das Moos: am Schaft, wasserernährt, meine Stirn,
handbreit, und dann beginnt es.
Bald darauf ertönte eine Glocke. Die Gärtner gingen an ihre Arbeit; da
schritt auch er an eine Kanne und streute Wasser über die Farren, die aus
einer Sonne kamen, wo viel verdunstete.


Die Reise

Rönne wollte nach Antwerpen fahren, aber wie ohne Zerrüttung? Er konnte
nicht zu Mittag kommen. Er mußte angeben, er könne heute nicht zu Mittag
kommen, er fahre nach Antwerpen. Nach Antwerpen hätte der Zuhörer gedacht?
Betrachtung? Aufnahme? Sich ergehen? Das erschien ihm ausgeschlossen. Er
zielte auf Bereicherung und den Aufbau des Seelischen.
Und nun stellte er sich vor, er säße im Zug und müßte sich plötzlich
erinnern, wie jetzt bei Tisch davon gesprochen wurde, daß er fort sei; wenn
auch nur nebenbei, als Antwort auf eine kurz hingeworfene Frage, jedenfalls
aber doch so viel, er seinerseits suche Beziehungen zu der Stadt, dem
Mittelalter und den Scheldequais.
Erschlagen fühlte er sich, Schweißausbrüche. Eine Krümmung befiel ihn, als
er seine unbestimmten und noch gar nicht absehbaren, jedenfalls aber doch
so geringen und armseligen Vorgänge zusammengefaßt erblickte in Begriffen
aus dem Lebensweg eines Herrn.
Ein Wolkenbruch von Hemmungen und Schwäche brach auf ihn nieder. Denn wo
waren Garantien, daß er überhaupt etwas von der Reise erzählen könnte,
mitbringen, verlebendigen, daß etwas in ihn träte im Sinne des Erlebnisses?
Große Rauheiten, wie die Eisenbahn, sich einem Herrn gegenüber gesetzt
fühlen, das Heraustreten vor den Ankunftsbahnhof mit der zielstrebigen
Bewegung zu dem Orte der Verrichtung, das alles waren Dinge, die konnten
nur im geheimen vor sich gehen, in sich selber erlitten, trostlos und tief.
Wie war er denn überhaupt auf den Gedanken gekommen, zu verlassen, darin er
seinen Tag erfüllte? War er tollkühn, herauszutreten aus der Form, die ihn
trug? Glaubte er an Erweiterung, trotzte er dem Zusammenbruch?
Nein sagte er sich, nein. Ich kann es beschwören: nein. Nur als ich vorhin
aus dem Geschäft ging, nach Veilchen roch man wieder, gepudert war man
auch, ein Mädchen kam heran mit weißer Brust, es erschien nicht
ausgeschlossen, daß man sie eröffnet. Es erschien nicht ausgeschlossen, daß
man prangen würde und strömen. Ein Strand rückte in den Bereich der
Möglichkeiten, an den die blaue Brust des Meeres schlug. Aber nun zur
Versöhnung will ich essen gehn.
* * *
Durch Verbeugung in der Türe anerkannte er die Individualitäten. Wer wäre
er gewesen? Still nahm er Platz. Groß wuchteten die Herren.
Nun erzählte Herr Friedhoff von den Eigentümlichkeiten einer tropischen
Frucht, die einen Kern enthalte von Eigröße. Das Weiche äße man mit einem
Löffel, es habe gallertartige Konsistenz. Einige meinten, es schmecke nach
Nuß. Er demgegenüber habe immer gefunden, es schmecke nach Ei. Man äße es
mit Pfeffer und Salz. Es handelte sich um eine schmackhafte Frucht. Er habe
davon das Tages 3--4 gegessen und einen ernstlichen Schaden nie bemerkt.
Hierin trat Herrn Körner das Außerordentliche entgegen. Mit Pfeffer und
Salz eine Frucht? Das erschien ihm ungewöhnlich, und er nahm dazu Stellung.
Wenn es ihm doch aber nach Ei schmeckt, wies Herr Mau auf das Subjektive
des Urteils hin, gleichzeitig etwas wegwerfend, als ob er seinerseits
nichts Unüberbrückbares sähe. Außerdem so ungewöhnlich sei es doch nun
nicht, führte Herr Offenberg zur Norm zurück, denn z. B. die Tomate? Wie
nun vollends, wenn Herr Kritzler einen Oheim aufzuweisen hatte, der noch
mit 70 Jahren Melone mit Senf gegessen hatte, und zwar in den Abendstunden,
wo Derartiges bekanntlich am wenigsten bekömmlich sei?
Alles in allem: Lag denn in der Tat eine Erscheinung von so ungewöhnlicher
Art vor, ein Vorkommnis sozusagen, das die Aufmerksamkeit weiterer Kreise
auf sich zu lenken geeignet war, sei es, weil es in seinen
Verallgemeinerungen bedenkliche Folgeerscheinungen hätte zeitigen können,
sei es, weil es als Erlebnis aus der besonderen Atmosphäre des Tropischen
zum Nachdenken anzuregen geeignet war?
Soweit war es gediehen, als Rönne zitterte, Erstickung auf seinem Teller
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