Gehirne: Novellen - 2

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fand und nur mit Mühe das Fleisch aß.
Ob er aber nicht doch vielleicht eine Banane gemeint habe, bestand Herr
Körner, diese weiche, etwas mürbe und längliche Frucht?
Eine Banane, wuchs Herrn Friedhoff auf? Er, der Kongokenner?? Der
langjährige Befahrer des Moabangi? Nein, das nötigte ihm geradezu ein
Lächeln ab! Weit entschwand er über diesen Kreis. Was hatten sie denn für
Vergleiche? Eine Erdbeere oder eine Nuß, vielleicht hie und da eine Marone,
etwas südlicher. Er aber, der beamtete Vertreter in Hulemakong, der aus den
Dschungeln des Jambo kam?
Jetzt oder nie, Aufstieg oder Vernichtung, fühlte Rönne, und: wirklich nie
einen ernstlichen Schaden bemerkt? tastete er sich beherrschten Lautes in
das Gewoge, Erstaunen malend und am Zweifel des Fachmanns: Vor dem Nichts
stand er; ob Antwort käme?
Aber saß denn nicht schließlich auf dem Stuhl aus Holz er, schlicht
umrauscht von dem Wissen um das Gefahrvolle der Tropenfrucht, wie in Sinnen
und Vergleichen mit Angaben und Erzählungen ähnlicher Erlebnisse, der
schweigsame Forscher, der durch Beruf und Anlage wortkarge Arzt? Dünn sah
er durch die Lider, vom Fleisch auf, die Reihe entlang, langsam erglänzend.
Hoffnung war es noch nicht, aber ein Wehen ohne Not. Und nun eine
Festigung: mehreren Herren schien in der Tat die nochmalige Bestätigung
dieser Tatsache zur Behebung von etwa aufgestiegenen Bedenken von Wert zu
sein. Und nun war kein Zweifel mehr: einige nickten kauend.
Jubel brach aus, Triumphgesänge. Nun hallte Antwort mit Aufrechterhaltung
gegenüber Zweiflern, und das galt ihm. Einreihung geschah, Bewertung trat
ein; Fleisch aß er, ein wohlbekanntes Gericht; Äußerungen knüpften an ihn
an, zu Ansammlungen trat er, unter ein Gewölbe von großem Glück; selbst
Verabredung für den Nachmittag zuckte einen Augenblick lang ohne Erbeben
durch sein Herz.
Aus Erz saßen die Männer. Voll kostete Rönne seinen Triumph. Er erlebte
tief, wie aus jedem der Mitesser ihm der Titel eines Herrn zustieg, der
nach der Mahlzeit einen kleinen Schnaps nicht verschmähte und ihn mit einem
bescheidenen Witzwort zu sich nimmt, in dem Ermunterung für die andern,
aber auch die entschiedene Abwehr jeglichen übermäßigen Alkoholgenusses
eine gewisse Atmosphäre der Behaglichkeit verbreitete. Der Eindruck der
Redlichkeit war er und des schlichten Eintretens für die eigene
Überzeugung; aber auch einer anderweitigen Auffassung gegenüber würde er
gern zugeben; da ist was Wahres dran. Geordnet fühlte er seine Züge; kühler
Gelassenheit, ja Unerschütterlichkeit auf seinem Gesicht zum Siege
verholfen, und das trug er bis an die Tür, die er hinter sich schloß.
* * *
Schattenhaft ging er durch den Gang, nun wieder im Gefühl des Schlafes, in
den man sank ohne einen Wirbel über sich zu lassen, negativ verendet, nur
als Schnittpunkt bejaht. Zwei Huren wuschen den Gang auf, von weitem schon
ihn wahrnehmend, aber sich in die Arbeit versunken stellend, bis er da war.
Nun erst trat in die Augen das jähe Erkennen, Keuschheit und Verheißung aus
der Reife des Bluts.
Rönne aber dachte, ich kenne euch Tiere, über dreihundert Nackte jeden
Morgen! aber wie stark ihr die Liebe spielt! Eine kannte ich, die war an
einem Tag von Männern einem Viertelhundert der Rausch gewesen, die Schauer
und der Sommer, um den sie blühten. Sie stellte die Form, und es geschah
das Wirkliche. Ich will Formen suchen und mich hinterlassen; Wirklichkeiten
eine Hügelkette, o von Dingen ein Gelände.
Er trat aus dem Haus. Helle Avenuen waren da, Licht voll Entrückung,
Daphneen im Erblühn. Es war eine Vorstadt; Armes aus Kellern, Krüppel und
Gräber, soviel Ungelacht. Rönne aber dachte, jeder Mensch dem ich begegne,
ist noch ein Sturm zu seinem Glück. Nirgends meine schwere, drängende
Zerrüttung.
Er ging langsam, er schürfte sich vor. Es war eine ungewohnte
Straßenstunde, ihm seit Monaten nicht mehr bekannt. Er blätterte das
Entgegenkommende behutsam auseinander mit seinen tastenden, an der Spitze
leicht ermüdbaren Augen.
Aufzunehmen gilt es, rief er sich zu, einzuordnen oder prüfend zu übergehn.
Aus dem Einstrom der Dinge, dem Rauschen der Klänge, dem Fluten des Lichts
die stille Ebene herzustellen, die er bedeutete.
Es war eine fremde Gegend, durch die er ging, aber es mochte immerhin ein
Bekannter kommen und fragen, woher und wohin. Und obschon er einen
Patienten jederzeit hierfür zur Hand gehabt hätte, so war es doch nicht der
Fall, und ihm graute vor dem Erlebnis, vor dem er stehen würde: daß er aus
dem Nichts in das Fragwürdige schritt, im Antrieb eines Schatten, keiner
Verknotung mächtig, und dennoch auf Erhaltung rechnend.
Scheu sah er sich um; höhnisch standen Haus und Baum; unterwürfig eilte er
vorbei. Haus, sagte er zum nächsten Gebäude; Haus zum übernächsten; Baum zu
allen Linden seines Wegs. Nur um Vermittelung handele es sich, in
Unberührtheit blieben die Einzeldinge; wer wäre er gewesen, an sich zu
nehmen oder zu übersehen oder, sich auflehnend, zu erschaffen? Ein bißchen
durch die Sonne gehen, mehr wollte er ja nicht; es warm haben, und der
Himmel hatte ein Blau: nie endend, mütterlich und sanft vergehend.
Weit war er noch nicht von seinem Krankenhaus entfernt, da übermannte ihn
schon die Not. Wohin trug er sich denn, etwa in das All? War er der Träumer
denn, weich streifend den Hang, oder der Hirt auf den Hügeln? Trat an die
Maikastanie vielleicht er, den Ast beklopfend mit dem Hornmesser, bis in
Saft vom Zweige die Rinde glitt und wurde die gehöhlte Flöte? Gesänge,
hatte er sie? War er vielleicht der Freie, der in Segeln schritt, und
überall die Erde, löschend mit seinem Blick? O, er war wohl schon zuweit
gegangen! Schon schwankte vor der Straße Feld unter gelben Stürmen
gefleckter Himmel, und ein Wagen hielt am Saum der Stadt. Zurück! hieß es;
denn heran wogte das Ungeformte, und das Uferlose lag lauernd.
Nun nahm ihn wieder die Straße auf, schnurgerade und unter einem flachen
Licht. Von Tür zu Tür lief sie, und sachlich um den Fuß der Botenfrau; aus
den Kellern über sie wehte die Küche Nahrung und Notdurft; vor dem Spiegel
der Herr kämmte achtbar seinen Bart; klang der Fuß auf Metall, sorgte für
Entwässerung das Gemeinwohl; lag ein Gitterchen an der Mauer, kam im Winter
nicht der Frost, und in ihr Recht traten Förder und Schacht?
Wie einsam steht es um die Straße, dachte Rönne, sie ist eindeutig fixiert
und wird entwicklungsgeschichtlich kaum durchdacht; aber schön und sicher
ist es, hier zu wandeln, so dicht am Leib mündet sie, und eigentlich ist es
kein Gehen mehr, sondern ein Träumen auf dem Rücken des Zwecks.
Dann prangten zwischen Pelz und Locken Damen in den Abend ihr Geschlecht.
Blühen, Züngeln, Fliedern der Scham aus Samt und Bänder über Hüften. Rönne
labte sich an dem Geordneten einer Samtmantille, an der restlos gelungenen
Unterordnung des Stofflichen unter den Begriff der Verhüllung; ein Triumph
trat ihm entgegen zielstrebigen, kausal geleiteten Handelns. Aber -- und
plötzlich sah er die Frau nackt -- diese nicht; es müßte die Ernüchterte
sein, die sich noch einmal krümmen ließe.
Da trat ein Herr auf ihn zu, und ha ha, und schön Wetter ging es hin und
her, Vergangenheit und Zukunft eine Weile im kategorialen Raum. Als er fort
war, taumelte Rönne. Sie alle lebten mit Schwerpunkten auf Meridianen
zwischen Refraktor und Barometer, er nur sandte Blicke über die Dinge,
gelähmt von Sehnsüchten nach einem Azimuth, nach einer klaren logischen
Säuberung schrie er, nach einem Wort, das ihn erfaßte. Wann würde er der
erzene Mann, um den tags die Dinge brandeten und des Nachts der Schlaf, der
gelassen vor einem Bahnhof stände, wieviel Erde es auch gäbe, der
Verwurzelte, der Unerschütterliche!
Reisen hatte er gewollt, aber nun schienen Gleise über die Straße, und
schon sank sein Blick. Oh, daß es eine Erde gab, wirklich grün, stark
irden, silbern verfernt, über die die Augen strichen wie ein Flügel, und
Städte, flache weiße, an Küsten, und Kutter, braune, die man hinnahm,
liebte und vergaß.
Oder ein Leben um das Radwerk einer Uhr. Um Hyazinthenknollen die Hand. Die
Schulter, die das Fischnetz zog, silbern und ihr Abwurf auf den Strand.
Da, durch die helle dünne Luft, in die die Knospen ragten, und unter dem
ersten Stern, kam eine Frau vorbei und roch blau und langte Rönne nach dem
Schädel und legte ihn tief in den Nacken, bettend, und über der Stirn stand
die frühe Nacht.
Rönne schluchzte auf: wer knirschte so tief wie ich unter dem Stoff, wer
ist so geknechtet von den Dingen nach Zusammenhang als ich, aber eben dies
schweifende Gewässer, tief, dunkel und veilchenfarben, aus dem Aufklaff
einer Achsel -- mich stäubt Zermalmung an.
Zwischen die Straßen rinnt Nacht, über die weißen Steine blaut es, es
verdichtet sich die Entrückung; die Sträucher schmelzen, welches Vergehn!
--
Nun fiel ein Regen und löste die Form. Wohnungen traten unter laues Wasser,
in Frühlingsgewölke stand alle Stadt. Über ihr aber schwebte er, entrückt,
einsam, mit einer Krone irgendwoher. Jäh wurde er der Herr mit Koffer, der
auf die Reise ging durch Aue und Rand. Schon wogten Hügel heran, weich
bewäldert; nun brüderlich die Äcker, die Versöhnung kam.
Er sah die Straße entlang und fand wohin.
Einrauschte er in die Dämmerung eines Kinos, in das Unbewußte des
Parterres. In weiten Kelchen flacher Blumen bis an die verhüllten Ampeln
stand rötliches Licht. Aus Geigen ging es, nah und warm gespielt, auf der
Ründung seines Hirns, entlockend einen wirklich süßen Ton. Schulter neigte
sich an Schulter, eine Hingebung; Geflüster, ein Zusammenschluß;
Betastungen, das Glück. Ein Herr kam auf ihn zu, mit Frau und Kind,
Bekanntschaft zuwerfend, breiten Mund und frohes Lachen. Rönne aber
erkannte ihn nicht mehr.
Er war eingetreten in den Film, in die scheidende Geste, in die mythische
Wucht.
Groß vor dem Meer wölkte er um sich den Mantel, in hellen Briesen stand in
Falten der Rock; durch die Luft schlug er wie auf ein Tier, und wie kühlte
der Trunk den Letzten des Stamms.
Wie er stampfte, wie rüstig blähte er das Knie. Die Asche streifte er ab,
lässig, benommen von den großen Dingen, die seiner harrten aus dem Brief,
den der alte Diener brachte, auf dessen Knien der Ahn geschaukelt.
Zu der Frau am Bronnen trat edel der Greis. Wie stutzte die Amme, am Busen
das Tuch. Wie holde Gespielin! Wie Reh zwischen Farren! Wie ritterlich
Weidwerk! Wie Silberbart!
Rönne atmete kaum, behutsam, es nicht zu zerbrechen. Denn es war
vollbracht, es hatte sich vollzogen.
Über den Trümmern einer kranken Zeit hatte sich zusammengefunden die
Bewegung und der Geist, ohne Zwischentritt. Klar aus den Reizen segelte der
Arm; vom Licht zur Hüfte, ein heller Schwung, von Ast zu Ast.
In sich rauschte der Strom. Oder wenn es kein Strom war, ein Wurf von
Formen, ein Spiel in Fiebern, sinnlos und das Ende um allen Saum.
Rönne, ein Gebilde, ein heller Zusammentritt, zerfallend, von blauen
Buchten benagt, über den Lidern kichernd das Licht.
Er trat auf die Avenue. Er endete in einem Park.
Dunkel drohte es auf, bewölkt und schauernd, wieder aus dem Gefühl des
Schlafs, in den man sank, ohne einen Wirbel über sich zu lassen, negativ
verendet, nur als Schnittpunkt bejaht; aber noch ging er durch den
Frühling, und erschuf sich an den hellen Anemonen des Rasens entlang und
lehnte an eine Herme, verstorben weiß, ewig marmorn, hierher zerfallen aus
den Brüchen, vor denen nie verging das südliche Meer.


Die Insel

Daß dies das Leben sei, war eine Annahme, zu der Rönne, einen Arzt, das von
leitender Stelle aus Geregelte seiner Tage, das staatliche Genehmigte, ja
Vorgeschriebene seiner Bestimmung wohl berechtigte.
Tat es etwas, daß die Insel klein war, übersehbar von einem Hügel, ein
Streifen Stein zwischen Möwen und Meer -- es gab das Gefängnis da mit den
Sträflingen, daran Arzt zu sein er ausersehen, und dann gab es Strand, eine
große Strauchwiese voll Gezwitscher, ein Vogelhort, und weiter unten ein
elendes Dorf mit Fischern, das allerdings galt es noch näher zu beleuchten.
Ein Rachen war bepinselt, einer Meineidigen das Knie massiert, da erhob
sich Rönne und verließ das ummäuerte Gehöft. Davor lag weißer Strand;
darauf blühte Hafer und Distel; denn der Sommer war über das Meer gekommen
wie ein Gewitter: der Himmel donnerte von Bläue und es goß Wärme und Licht.
Unter Gedanken, wie die freie Zeit, die ihm nach Erledigung seiner
Dienstpflichten zur Verfügung stand, zweckmäßig zu verwenden sei, welches
ihr Sinn sei in Hinsicht des Staates und der Person, schritt er aus. Er
atmete tief die reine Seeluft ein, die schmächtige Brust ihr entgegen
spülend, dem Gesundheitlichen, das die bekanntermaßen dem Wanderer bot,
willig hingegeben. Eins fühlte er sich mit dem Geiste, der ihn hier
herberufen und gestellt, der sich ohne Zaudern zur Sicherstellung der
vorwärtszielenden bürgerlichen Verrichtung entschloß; der dem Schutze galt,
die die Öffentlichkeit dem strebenden Bemühen schuldete, mit einem Wort:
der die Ausmerzung des Schädlings anstrebte, ohne jedoch selbst hier außer
acht zu lassen das allgemein Menschliche noch des Gefallenen und in einer
Art stummer Anerkenntnis des großen allumschließenden Bandes des Seelischen
schlechthin nicht die Vernichtung wollte, sondern den Arzt beigab.
Und nun, die karge Schindel der ersten Hütte, war sie nicht Hut gegen Sturm
und Regen, der Unbill Abwehr, Traute und Behaglichkeit bedachend? Das Netz,
das vom Fang kommend der Gatte ausbreitete, sorgsam über Pfahl und Stein,
war es nicht umwittert vom Geruch der Diele, wo es sich vollzog, das
Natürliche, das Urgesunde? Und nun wehte gar ein Windstoß an eine Ölkappe,
und ein Arm griff an die Krempe --: jawohl, auf Reize antwortete hier
Organisches; betrieben wurden seine Symptome: der Stoffwechsel und die
Vermehrung; der Reflexbogen herrschte, hier war gut ruhn.
Vor einer Kneipe saßen Männer. Ihr Sinn? Sie saßen! Sie gingen nicht, sie
schonten Kraft. Sie tranken aus Krügen! Reine Lust? Niemals! Nährwert war
nicht zu leugnen. Und wenn? Erholung von Mann zu Mann?!
Erfahrungsaustausch?! Bestätigungen!!!?
Und der Düstere abseits? Der Grübeler, der sich ernster nahm? Flammte nicht
auch auf seiner Stirn noch durch das Dämonische, selbst gegen Götter
gerichtet, der geschlossenere Akt, der stärkere Aufbau, das
Lichtbringerische in eventuellen Abgrund?
Kurz und gut: lauter Wahrnehmungen, die wohl befriedigen durften. Nirgends
eine Störung, überall Sonne und heller Ablauf.
Rönne setzte sich. Ich habe etwas freie Zeit, sagte er sich, jetzt will ich
etwas denken. Also, eine Insel und etwas südliches Meer. Es sind nicht da,
aber es könnten da sein: Zimtwälder. Jetzt ist Juni, und es begönne die
Entborkung, und ein Zweiglein bräche dabei wohl ab. Ein überaus lieblicher
Geruch würde sich verbreiten, auch beim Abreißen eines Blattes ein
aromatisches Geschehen.
Denn alles in allem: vier bis sechs Fuß hohe Stauden, weiche grüne
lorbeerähnliche Blätter, indeß der Blütenstempel gelb getönt ist. Ist der
Schößling daumenstark, tritt die Einsammlung heran und es erfordert viele
Hände, Bündel, krumme Messer, Rinde und Bast; mit diesen Worten ist manches
schon erwiesen, aber erst in der Hütte wird das Häutchen abgeschält.
Ja, das war eine Insel, die in einem Meer vor Indien lag. Es nahte sich ein
Schiff, plötzlich trat es in den Wind, der das Land umfaßt hatte und nun
stand es im Atem des bräunlichen Walds. Der Zimtwald, dachte der Reisende,
und der Zimtwald, dachte Rönne. Schneeweiß war der Boden, und die Staude
saftig. Und durch die Insel schritt er, zwischen Roggen und Wein,
abgeschlossen und still umgrenzt. Sein Urteil ist Begehren, der Satzbau
Stellung nehmend. Er grübelt, doch über die Polle einer Pflanze, denn er
ist gewillt, sie einzusäen. Ferne ist die Zeit der Trauer, da er in der
Bahn hierher fuhr mit den Damen: das ist sehr hübsch hier, sagte die Mutter
zu den Töchtern, seht doch mal! und nun verarbeiteten sie aus den
Kupeefenstern heraus die Hügelkette, matt im blauen Dunst, davor das Tal
und eine Stadt, die hinter Wäldern und Klee versank; denn wenn die Mutter
es nicht gesagt hätte, mußte Rönne immer denken, wäre der Aufstieg nicht
erfolgt.
Hier aber herrschten keine solchen vagen Ausrufe. Hier wurde hingenommen,
was ins Auge traf. Sachliche Verarbeitung trat ein in bezug auf ein Netz,
im Hinblick auf eine Reuse. Und auch wenn er wie eben etwas dachte, lag
Andersartiges vor, keine Bereicherung, mehr ein Traum.
Hell saß er am Strand. Er fühlte sich leicht und durchsichtig und schien
sich nicht mehr unsauberer zu sein als ein bewegter Stein, als ein
abgerundeter Block, gehalten von einer leichten Organisation.
Und wenn er auf die Insel aus dem Gefühl einer Aufgabe heraus gekommen war,
an Gegenständen, die er möglichst isoliert unter wenig veränderlichen
Bedingungen beobachten konnte, den Begriff nachzuprüfen, so spürte er jetzt
schon etwas wie Erfüllung: Die Begriffe, schien ihm, sanken herab. Wie
hatte zum Beispiel Meer auf ihm gelegen, ein sprachlicher Bestand,
abgeschnürt von allen hellen Wässern, beweglich, aber doch höchstens als
Systemwiesel, das Ergebnis eines Denkprozesses, ein allgemeinster Ausdruck.
Jetzt aber, schien es ihm, wanderte er dahin zurück, wo es unabsehbare
Wässer gab im Süden und im Norden brackige Flut, und Wellen eine Lippe
unerwartet salzten. Leise schwand der Drang, es schärfer aufzurichten, es
unantastbarer zu umreißen gegenüber Dünen und einem See. Leise fühlte er
ihn vergessen, ihn zurückerstatten an seine Wesenheit, an die Möwe und den
Tang, den Sturmgeruch und alles Ruhelose. -- -- -- -- --
* * *
Rönne lebte einsam seiner Entwicklung hingegeben und arbeitete viel. Seine
Studien galten der Schaffung der neuen Syntax. Die Weltanschauung, die die
Arbeit des vergangenen Jahrhunderts erschaffen hatte, sie galt es zu
vollenden. Den Du-Charakter des Grammatischen auszuschalten, schien ihm
ehrlicherweise notwendig, denn die Anrede war mythisch geworden.
Er fühlte sich seiner Entwicklung verpflichtet und die ging auf
Jahrtausende zurück.
Die Umgestaltung der Bewegung zu einer Handlung unter Vorwegnahme des
Zieles lag im Unentschleierbaren, wo der Mensch begann. Das war gegeben.
Auch daß er hin und her die Augen aufschlug: in helle Himmel, über Wüsten,
am Nil, und an den Myrtenlagunen die Geigenvölker -- -- aber hier im Norden
drängte es zur Entscheidung: zwischen Hunger und Liebe war der dritte Trieb
getreten. Aus dem schlechten Atem der Asketen, aus ermatteten
Geschlechtlichkeiten unter den verdickten Lüften der Nebelländer wuchs sie
hervor, die Erkenntnis, Hekatomben röchelnd nach der Einheit des Denkens,
und die Stunde der Erfüllung schien gekommen.
Hatte Kartesius noch die Zirbeldrüse für den Sitz der Seele angenommen, da
ihr Äußeres dem Finger Gottes: gelblich, langgestreckt, milde und doch
drohend, gleichen mochte, so hatten die Hirnphysiologen festgestellt, wann
beim Einstich in die Hirnmasse Zucker im Harn, wann Indigo auftrat, ja wann
korrelativ der Speichel floß. Die Psychologie hatte den Begleitcharakter
des Gefühls zu den Empfindungen erkannt, den ihnen zustehenden generellen
Wert der Abwehr des Schädlichen in genauen Kurven festgelegt, die
Ablesbarkeit der individuellen Differenzen war vollendet. Die
Erkenntnistheorie schloß ab, mit der Erneuerung Berkeleyischer Ideen einem
Panpsychismus zum Durchbruch zu verhelfen, der dem Wirklichen den Rang
kondensierter Begriffe in der Bedeutung geschlechtlich besonders betonter
Umwelt zum Zwecke bequemer Arterhaltung zuwies.
Dies alles gilt als ausgemacht, sagte sich Rönne. Dies wird seit
Jahrfünften gelehrt und hingenommen. Wo aber blieb die Auseinandersetzung
innerhalb seiner selbst, wo fand die statt? Ihr Ausdruck, das Sprachliche,
wo vollzog sich das?
Unter Grübeln trat er vor ein Feld mit einem Mann, den er aus der Anstalt
mitgenommen hatte:
»Mohn, pralle Form des Sommers«, rief er, »Nabelhafter: Gruppierend
Bauchiges, Dynamit des Dualismus: Hier steht der Farbenblinde, die
Röte-Nacht. Ha, wie Du hinklirrst! Ins Feld gestürzt, Du Ausgezackter,
Reiz-Felsen, ins Kraut geschwemmt, -- und alle süßen Mittage, da mein Auge
auf Dir schlief letzte stille Schlafe, treue Stunden -- -- An Deiner Narbe
Blauschatten, an Deine Flatterglut gelehnt, gewärmt, getröstet, hingesunken
an Deine Feuer: angeblüht!: nun dieser Mann --: auch Du! Auch Du! -- -- An
meinen Randen spielend, in Sommersweite, all mein Gegenglück -- und nun: wo
bin ich nicht?«
Wo bin ich nicht, dachte er, und wandte sich in der Richtung nach der
Anstalt, und wo tritt das Ereignis nicht in das Gegebene? Da unten sind
Zimmer. An Tischen sitzen Männer, Direktoren und Beamte, zwischen
Denkanstößen geht der Zahnstocher hin und her.
Aus Ereignissen des täglichen Daseins und Rennberichten spielt der
psychische Komplex sich ab. Es tritt auf das Befremdende, das Abweichende,
ja bis zum Widersprechenden stellt es sich ein. Wachgerufen wird in den
Bewußtseinsabläufen das Bestreben, das Ungeklärte zu entwirren, das
Zweifelhafte sicherzustellen, der Überbrückung des Zwiespalts gilt das
Wort. Es tritt die Erfahrung hervor, Beweis und Abwehr gibt sie an die
Hand; und die Beobachtung, hier und da gemacht, wenn auch nicht eindeutig,
soll sie völlig wertlos sein? Schon weicht das Dunkle. Schon glättet sich
das Krause, und daß kein Widerspruch mehr besteht, nun blaut es herab.
Immer blaut bald etwas herab, zum Beispiel der Kalbsbraten, den doch jeder
kennt. Jäh tritt er an einem Stammtisch auf, und es ranken sich um ihn die
Individualitäten. Geographische Besonderheiten, Eigentümlichkeiten des
Geschmacklichen werden hervortreten, der Drang zur Nuance um ihn sein. Es
wird branden der Streit und das Erschlaffen, der Angriff und die Versöhnung
um den Kalbsbraten, den Entfesseler des Psychischen.
Und das Morgendliche, wem begegnet es? Einer Frau, die sich außergewöhnlich
in der Frühe erhebt; alle Kühle und sein Tau rinnen in das Wesen, das
schreitet. Weiterleitung tritt ein, ein Ausruf wird erfolgen, Bestände von
Erzählungen über frühe Gänge werden gebildet: -- Überall stehen die
Verarbeitungsbehälter und was und wird, ist längst geschehen.
Wann gab es Umströmte? Ich muß alles denken, ich muß alles zusammenfassen,
nichts entgeht der logischen Verknüpfung. Anfang und Ende, aber ich
geschehe. Ich lebe auf dieser Insel und denke Zimtwälder. In mir
durchwächst sich Wirkliches und Traum. Was blüht der Mohn, wenn er sich
entrötet; der Knabe spricht, aber der psychische Komplex ist vorhanden,
auch ohne ihn. --
Die Konkurrenz zwischen den Associationen, das ist das letzte Ich -- dachte
er und schritt zurück zur Anstalt, die auf einem Hügel am Meere lag. Hängt
aus meiner Tasche eine Zeitung, ein buchhändlerisches Phänomen, bietet es
Anknüpfungen zu Bewegungsvorgängen an Mitmenschen, sozusagen zu einem
Geschehnis zwischen Individualitäten. Sagt der Kollege, Sie gestatten das
Journal, liegt ein Reiz vor, der wirkt, ein Wille, der sich auf etwas
richtet, motorische Konkurrenzen, aber jedenfalls immer das Schema der
Seele, die Vitalreihe ist es, die die Fallen stellt.
Wir sind am Ende; fühlte er, wir überwanden unser letztes Organ. Ich werde
den Korridor entlang gehen, und mein Schritt wird hallen. Denn muß im
Korridor der Schritt nicht hallen? Jawohl, das ist das Leben, und im
Vorbeigehen ein Scherzwort an die Beamtin? Jawohl, auch dies! --
* * *
Da landete das Schiff, das alle Wochen an die Insel kam, und mit den Gästen
stieg eine Frau ans Land, die eine Weile hier wohnen wollte.
Rönne lernte sie kennen, warum sollte er sie nicht kennen lernen: einen
Haufen sekundärer Geschlechtsmerkmale, anthropoid gruppiert.
Aber bald fragte er sich beunruhigt, ich suche ihren Umgang, doch das
Denkerische ist es nicht, was aber ist es? Sie ist mittelgroß, blond, mit
Wasserstoff gebleicht und grau an den Schläfen. Ihre Augen liegen in der
Ferne, unverrückbar grau von Nebel die Pupille -- aber ich spüre es wie
Flucht, ich muß sie beformeln:
Ihr Wesen: sie liebt weiße Blumen, Katzen und Kristalle und sie kann des
Nachts allein nicht schlafen, denn sie liebt es so, ein Herz zu hören, wo
aber soll das Prinzip ansetzen und die Zusammenfassung erfolgen? Nie
begehrt sie eine Zärtlichkeit, aber wenn man sich ihr nähert, tritt man
unter das Dach der Liebe, und plötzlich steht sie über mir in einer
Stellung; die ihr Schmerzen machen muß, unbeweglich und lange -- -- welch
erschütternde Verwirrung!
Witternd Gefahr, hörend aus der Ferne einen Strom, der herangurgelte, ihn
aufzulösen, schlug er um sich die soziologischen Bestände.
Wie, auf der Nachbarinsel war die Hirse stockig? War es gut gehandelt an
dem kleinen Mann? Wo blieb Redlichkeit und Bruderkuß? Wenn die verging, was
blieb? -- Oder: wirklich hingegeben an die übliche Menge gemahlenen Tees,
in einer Flasche geschüttelt, gefüllt, gekorkt und nochmals geschüttelt,
und die übermittelt dem Bekannten, dem Nachbar oder dem Wißbegierigen
redlichen Sinnes und helfender Gesinnung, was blieb dann noch der
Verführung zugänglich; er, der schlichte Schamträger in seiner staatlichen
Verquickung, -- nun durfte wohl Friede sein, endlich, ja?
Aber schon wieder war die Lockung da, die Frau, das Strömende, und befreit
atmete er der Wärterin entgegen, die kam: ein krankes Knie! Wie verdichtet
es sich zur Wirklichkeit. Welch starke Formel! Amtlich verpflichtet zur
Anerkennung meinerseits! Kniekrankheiten, Schwellungen,
Entzündungsvorgänge. -- Fester Boden -- Männlichkeiten!
Dann wieder: Jede Erscheinung hat ihr oberstes Prinzip, und er schritt
getröstet an den Strand; es gilt nur festzulegen, welches das ihre ist; das
System ist allgütig, es enthält auch sie. Es enthält auch sie, die keine
Treue und keinen Wortbruch kennt, die zur Stunde nicht kommen kann, weil
die Fischerin eine Angel trug, und die Salpen glänzten -- Erfahrung
sammeln, Deduktionen, sein stiller Himmel auch über ihr! Aber dann: Ihre
Hüfte, wenn sie neben ihm ging, rauschte wie das Sinnlose und ihre Schulter
war behaart vom Chaos.
Tiefer warf er sich über seine Bücher, hämmernd seine Welt. Aber wie? In
den angesehendsten naturwissenschaftlichen Journalen konnten neuerdings
Raum finden, ja anerkennend besprochen werden Arbeiten dieses
eigentümlichen Inhalts?
Das Werk eines unbekannten jüdischen Arztes aus Danzig, der wörtlich über
die Gefühle aussagte, daß sie tiefer reichten als die geistige Funktion?
Daß das Gefühl das große Geheimnis unseres Lebens sei und die Frage seiner
Entstehung unbeantwortbar?? Um es vollends zu Ende zu denken: das Gefühl
gehöre nicht mehr zu den Empfindungen??
Wußte er denn, was es bedeutete, wenn die Gefühle nicht mehr vom Reiz
abhingen, wie er, Rönne, gelernt; wenn er sie den dunklen Strom nannte, der
aus dem Leibe brach? Das Unberechenbare?
Wußte der Verfasser wohl, vor welche Fragen die Konsequenzen seiner neuen
Lehre führten, wußte dieser völlig unbekannte Mann wohl die ganze Schwere
seiner Behauptung, die er ohne jede Ankündigung, ohne Sichtbarmachung auf
dem Titelblatt einfach in einem Buch mit farblosem grauen Deckel in die
Welt schickte, wußte er vielleicht, daß er die Frage beantwortete, ob es
Neues gäbe?
Rönne atmete tief. War dies etwa schon eine neue Wissenschaft, die nach ihm
kam? Jede Befruchtung enthielte den Keim eines unerhört Neuen, der
Zusammentritt von Einheiten war in der Generationsfolge fortgesetzt in der
Gestalt der Zweigeschlechtlichkeit, und in ihr galt es, die gewaltige
schöpferische Macht anzuerkennen, die das Leben zur Höhe erhoben hatte?
Rönne bebte. Er sah nochmals auf das Journal, das die Besprechung gebracht
hatte, auf den Namen des Referenten, der die Kritik gezeichnet hatte: er
war sein Lehrer gewesen.
Schöpferischer Mensch! Neuformung des Entwickelungsgedankens aus dem
Mathematischen ins Intuitive --: was aber wurde aus ihm, dem Arzt, gebannt
in das Quantitative, dem beruflichen Bejaher der Erfahrung?
Trat er vor einen Rachen, und die Schwellung war bedrohlich -- war sie
intuitiv coupierbar? mußte er sich nicht zusammenraffen zu analytischen
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