Die Verwandlung - 3

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viel zutrauen durfte; er hatte in diesen fünf Jahren, welche die ersten
Ferien seines mühevollen und doch erfolglosen Lebens waren, viel Fett
angesetzt und war dadurch recht schwerfällig geworden. Und die alte
Mutter sollte nun vielleicht Geld verdienen, die an Asthma litt, der
eine Wanderung durch die Wohnung schon Anstrengung verursachte, und die
jeden zweiten Tag in Atembeschwerden auf dem Sofa beim offenen Fenster
verbrachte? Und die Schwester sollte Geld verdienen, die noch ein Kind
war mit ihren siebzehn Jahren, und der ihre bisherige Lebensweise so
sehr zu gönnen war, die daraus bestanden hatte, sich nett zu kleiden,
lange zu schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen, an ein paar
bescheidenen Vergnügungen sich zu beteiligen und vor allem Violine zu
spielen? Wenn die Rede auf diese Notwendigkeit des Geldverdienens kam,
ließ zuerst immer Gregor die Türe los und warf sich auf das neben der
Tür befindliche kühle Ledersofa, denn ihm war ganz heiß vor Beschämung
und Trauer.
Oft lag er dort die ganzen langen Nächte über, schlief keinen Augenblick
und scharrte nur stundenlang auf dem Leder. Oder er scheute nicht die
große Mühe, einen Sessel zum Fenster zu schieben, dann die
Fensterbrüstung hinaufzukriechen und, in den Sessel gestemmt, sich ans
Fenster zu lehnen, offenbar nur in irgendeiner Erinnerung an das
Befreiende, das früher für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu
schauen. Denn tatsächlich sah er von Tag zu Tag die auch nur ein wenig
entfernten Dinge immer undeutlicher; das gegenüberliegende Krankenhaus,
dessen nur allzu häufigen Anblick er früher verflucht hatte, bekam er
überhaupt nicht mehr zu Gesicht, und wenn er nicht genau gewußt hätte,
daß er in der stillen, aber völlig städtischen Charlottenstraße wohnte,
hätte er glauben können, von seinem Fenster aus in eine Einöde zu
schauen in welcher der graue Himmel und die graue Erde ununterscheidbar
sich vereinigten. Nur zweimal hatte die aufmerksame Schwester sehen
müssen, daß der Sessel beim Fenster stand, als sie schon jedesmal,
nachdem sie das Zimmer aufgeräumt hatte, den Sessel wieder genau zum
Fenster hinschob, ja sogar von nun ab den inneren Fensterflügel offen
ließ.
Hätte Gregor nur mit der Schwester sprechen und ihr für alles danken
können, was sie für ihn machen mußte, er hätte ihre Dienste leichter
ertragen; so aber litt er darunter. Die Schwester suchte freilich die
Peinlichkeit des Ganzen möglichst zu verwischen, und je längere Zeit
verging, desto besser gelang es ihr natürlich auch, aber auch Gregor
durchschaute mit der Zeit alles viel genauer. Schon ihr Eintritt war für
ihn schrecklich. Kaum war sie eingetreten, lief sie, ohne sich Zeit zu
nehmen, die Türe zu schließen, so sehr sie sonst darauf achtete, jedem
den Anblick von Gregors Zimmer zu ersparen, geradewegs zum Fenster und
riß es, als ersticke sie fast, mit hastigen Händen auf, blieb auch,
selbst wenn es noch so kalt war, ein Weilchen beim Fenster und atmete
tief. Mit diesem Laufen und Lärmen erschreckte sie Gregor täglich
zweimal; die ganze Zeit über zitterte er unter dem Kanapee und wußte
doch sehr gut, daß sie ihn gewiß gerne damit verschont hätte, wenn es
ihr nur möglich gewesen wäre, sich in einem Zimmer, in dem sich Gregor
befand, bei geschlossenem Fenster aufzuhalten.
Einmal, es war wohl schon ein Monat seit Gregors Verwandlung vergangen,
und es war doch schon für die Schwester kein besonderer Grund mehr, über
Gregors Aussehen in Erstaunen zu geraten, kam sie ein wenig früher als
sonst und traf Gregor noch an, wie er, unbeweglich und so recht zum
Erschrecken aufgestellt, aus dem Fenster schaute. Es wäre für Gregor
nicht unerwartet gewesen, wenn sie nicht eingetreten wäre, da er sie
durch seine Stellung verhinderte, sofort das Fenster zu öffnen, aber sie
trat nicht nur nicht ein, sie fuhr sogar zurück und schloß die Tür; ein
Fremder hätte geradezu denken können, Gregor habe ihr aufgelauert und
habe sie beißen wollen. Gregor versteckte sich natürlich sofort unter
dem Kanapee, aber er mußte bis zum Mittag warten, ehe die Schwester
wiederkam, und sie schien viel unruhiger als sonst. Er erkannte daraus,
daß ihr sein Anblick noch immer unerträglich war und ihr auch weiterhin
unerträglich bleiben müsse, und daß sie sich wohl sehr überwinden mußte,
vor dem Anblick auch nur der kleinen Partie seines Körpers nicht
davonzulaufen, mit der er unter dem Kanapee hervorragte. Um ihr auch
diesen Anblick zu ersparen, trug er eines Tages auf seinem Rücken -- er
brauchte zu dieser Arbeit vier Stunden -- das Leintuch auf das Kanapee
und ordnete es in einer solchen Weise an, daß er nun gänzlich verdeckt
war, und daß die Schwester, selbst wenn sie sich bückte, ihn nicht sehen
konnte. Wäre dieses Leintuch ihrer Meinung nach nicht nötig gewesen,
dann hätte sie es ja entfernen können, denn daß es nicht zum Vergnügen
Gregors gehören konnte, sich so ganz und gar abzusperren, war doch klar
genug, aber sie ließ das Leintuch, so wie es war, und Gregor glaubte
sogar einen dankbaren Blick erhascht zu haben, als er einmal mit dem
Kopf vorsichtig das Leintuch ein wenig lüftete, um nachzusehen, wie die
Schwester die neue Einrichtung aufnahm.
In den ersten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über sich
bringen, zu ihm hereinzukommen, und er hörte oft, wie sie die jetzige
Arbeit der Schwester völlig anerkannten, während sie sich bisher häufig
über die Schwester geärgert hatten, weil sie ihnen als ein etwas
nutzloses Mädchen erschienen war. Nun aber warteten oft beide, der Vater
und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die Schwester dort
aufräumte, und kaum war sie herausgekommen, mußte sie ganz genau
erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen hatte, wie er
sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine Besserung zu
bemerken war. Die Mutter übrigens wollte verhältnismäßig bald Gregor
besuchen, aber der Vater und die Schwester hielten sie zuerst mit
Vernunftgründen zurück, denen Gregor sehr aufmerksam zuhörte, und die er
vollständig billigte. Später aber mußte man sie mit Gewalt zurückhalten,
und wenn sie dann rief: »Laßt mich doch zu Gregor, er ist ja mein
unglücklicher Sohn! Begreift ihr es denn nicht, daß ich zu ihm muß?«,
dann dachte Gregor, daß es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter
hereinkäme, nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der
Woche; sie verstand doch alles viel besser als die Schwester, die trotz
all ihrem Mute doch nur ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht
nur aus kindlichem Leichtsinn eine so schwere Aufgabe übernommen hatte.
Der Wunsch Gregors, die Mutter zu sehen, ging bald in Erfüllung. Während
des Tages wollte Gregor schon aus Rücksicht auf seine Eltern sich nicht
beim Fenster zeigen, kriechen konnte er aber auf den paar Quadratmetern
des Fußbodens auch nicht viel, das ruhige Liegen ertrug er schon während
der Nacht schwer, das Essen machte ihm bald nicht mehr das geringste
Vergnügen, und so nahm er zur Zerstreuung die Gewohnheit an, kreuz und
quer über Wände und Plafond zu kriechen. Besonders oben an der Decke
hing er gern; es war ganz anders, als das Liegen auf dem Fußboden; man
atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper, und in der
fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich Gregor dort oben befand,
konnte es geschehen, daß er zu seiner eigenen Überraschung sich losließ
und auf den Boden klatschte. Aber nun hatte er natürlich seinen Körper
ganz anders in der Gewalt als früher und beschädigte sich selbst bei
einem so großen Falle nicht. Die Schwester nun bemerkte sofort die neue
Unterhaltung, die Gregor für sich gefunden hatte -- er hinterließ ja
auch beim Kriechen hie und da Spuren seines Klebstoffes --, und da
setzte sie es sich in den Kopf, Gregor das Kriechen in größtem Ausmaße
zu ermöglichen und die Möbel, die es verhinderten, also vor allem den
Kasten und den Schreibtisch, wegzuschaffen. Nun war sie aber nicht
imstande, dies allein zu tun; den Vater wagte sie nicht um Hilfe zu
bitten; das Dienstmädchen hätte ihr ganz gewiß nicht geholfen, denn
dieses etwa sechzehnjährige Mädchen harrte zwar tapfer seit Entlassung
der früheren Köchin aus, hatte aber um die Vergünstigung gebeten, die
Küche unaufhörlich versperrt halten zu dürfen und nur auf besonderen
Anruf öffnen zu müssen; so blieb der Schwester also nichts übrig, als
einmal in Abwesenheit des Vaters die Mutter zu holen. Mit Ausrufen
erregter Freude kam die Mutter auch heran, verstummte aber an der Tür
vor Gregors Zimmer. Zuerst sah natürlich die Schwester nach, ob alles im
Zimmer in Ordnung war; dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor
hatte in größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten
gezogen, das Ganze sah wirklich nur wie ein zufällig über das Kanapee
geworfenes Leintuch aus. Gregor unterließ auch diesmal, unter dem
Leintuch zu spionieren; er verzichtete darauf, die Mutter schon diesmal
zu sehen, und war nur froh, daß sie nun doch gekommen war. »Komm nur,
man sieht ihn nicht,« sagte die Schwester, und offenbar führte sie die
Mutter an der Hand. Gregor hörte nun, wie die zwei schwachen Frauen den
immerhin schweren alten Kasten von seinem Platze rückten, und wie die
Schwester immerfort den größten Teil der Arbeit für sich beanspruchte,
ohne auf die Warnungen der Mutter zu hören, welche fürchtete, daß sie
sich überanstrengen werde. Es dauerte sehr lange. Wohl nach schon
viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter, man solle den Kasten doch
lieber hier lassen, denn erstens sei er zu schwer, sie würden vor
Ankunft des Vaters nicht fertig werden und mit dem Kasten in der Mitte
des Zimmers Gregor jeden Weg verrammeln, zweitens aber sei es doch gar
nicht sicher, daß Gregor mit der Entfernung der Möbel ein Gefallen
geschehe. Ihr scheine das Gegenteil der Fall zu sein; ihr bedrücke der
Anblick der leeren Wand geradezu das Herz; und warum solle nicht auch
Gregor diese Empfindung haben, da er doch an die Zimmermöbel längst
gewöhnt sei und sich deshalb im leeren Zimmer verlassen fühlen werde.
»Und ist es dann nicht so,« schloß die Mutter ganz leise, wie sie
überhaupt fast flüsterte, als wolle sie vermeiden, daß Gregor, dessen
genauen Aufenthalt sie ja nicht kannte, auch nur den Klang der Stimme
höre, denn daß er die Worte nicht verstand, davon war sie überzeugt,
»und ist es nicht so, als ob wir durch die Entfernung der Möbel zeigten,
daß wir jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und ihn rücksichtslos sich
selbst überlassen? Ich glaube, es wäre das beste, wir suchen das Zimmer
genau in dem Zustand zu erhalten, in dem es früher war, damit Gregor,
wenn er wieder zu uns zurückkommt, alles unverändert findet und um so
leichter die Zwischenzeit vergessen kann.«
Beim Anhören dieser Worte der Mutter erkannte Gregor, daß der Mangel
jeder unmittelbaren menschlichen Ansprache, verbunden mit dem
einförmigen Leben inmitten der Familie, im Laufe dieser zwei Monate
seinen Verstand hatte verwirren müssen, denn anders konnte er es sich
nicht erklären, daß er ernsthaft darnach hatte verlangen können, daß
sein Zimmer ausgeleert würde. Hatte er wirklich Lust, das warme, mit
ererbten Möbeln gemütlich ausgestattete Zimmer in eine Höhle verwandeln
zu lassen, in der er dann freilich nach allen Richtungen ungestört würde
kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem, schnellen, gänzlichen
Vergessen seiner menschlichen Vergangenheit? War er doch jetzt schon
nahe daran, zu vergessen, und nur die seit langem nicht gehörte Stimme
der Mutter hatte ihn aufgerüttelt. Nichts sollte entfernt werden, alles
mußte bleiben, die guten Einwirkungen der Möbel auf seinen Zustand
konnte er nicht entbehren; und wenn die Möbel ihn hinderten, das
sinnlose Herumkriechen zu betreiben, so war es kein Schaden, sondern ein
großer Vorteil.
Aber die Schwester war leider anderer Meinung; sie hatte sich,
allerdings nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Besprechung der
Angelegenheiten Gregors als besonders Sachverständige gegenüber den
Eltern aufzutreten, und so war auch jetzt der Rat der Mutter für die
Schwester Grund genug, auf der Entfernung nicht nur des Kastens und des
Schreibtisches, an die sie zuerst allein gedacht hatte, sondern auf der
Entfernung sämtlicher Möbel, mit Ausnahme des unentbehrlichen Kanapees,
zu bestehen. Es war natürlich nicht nur kindlicher Trotz und das in der
letzten Zeit so unerwartet und schwer erworbene Selbstvertrauen, das sie
zu dieser Forderung bestimmte; sie hatte doch auch tatsächlich
beobachtet, daß Gregor viel Raum zum Kriechen brauchte, dagegen die
Möbel, soweit man sehen konnte, nicht im geringsten benützte. Vielleicht
aber spielte auch der schwärmerische Sinn der Mädchen ihres Alters mit,
der bei jeder Gelegenheit seine Befriedigung sucht, und durch den Grete
jetzt sich dazu verlocken ließ, die Lage Gregors noch
schreckenerregender machen zu wollen, um dann noch mehr als bis jetzt
für ihn leisten zu können. Denn in einem Raum, in dem Gregor ganz allein
die leeren Wände beherrschte, würde wohl kein Mensch außer Grete jemals
einzutreten sich getrauen.
Und so ließ sie sich von ihrem Entschlusse durch die Mutter nicht
abbringen, die auch in diesem Zimmer vor lauter Unruhe unsicher schien,
bald verstummte und der Schwester nach Kräften beim Hinausschaffen des
Kastens half. Nun, den Kasten konnte Gregor im Notfall noch entbehren,
aber schon der Schreibtisch mußte bleiben. Und kaum hatten die Frauen
mit dem Kasten, an dem sie sich ächzend drückten, das Zimmer verlassen,
als Gregor den Kopf unter dem Kanapee hervorstieß, um zu sehen, wie er
vorsichtig und möglichst rücksichtsvoll eingreifen könnte. Aber zum
Unglück war es gerade die Mutter, welche zuerst zurückkehrte, während
Grete im Nebenzimmer den Kasten umfangen hielt und ihn allein hin und
her schwang, ohne ihn natürlich von der Stelle zu bringen. Die Mutter
aber war Gregors Anblick nicht gewöhnt, er hätte sie krank machen
können, und so eilte Gregor erschrocken im Rückwärtslauf bis an das
andere Ende des Kanapees, konnte es aber nicht mehr verhindern, daß das
Leintuch vorne ein wenig sich bewegte. Das genügte, um die Mutter
aufmerksam zu machen. Sie stockte, stand einen Augenblick still und ging
dann zu Grete zurück.
Trotzdem sich Gregor immer wieder sagte, daß ja nichts Außergewöhnliches
geschehe, sondern nur ein paar Möbel umgestellt würden, wirkte doch, wie
er sich bald eingestehen mußte, dieses Hin- und Hergehen der Frauen,
ihre kleinen Zurufe, das Kratzen der Möbel auf dem Boden, wie ein
großer, von allen Seiten genährter Trubel auf ihn, und er mußte sich, so
fest er Kopf und Beine an sich zog und den Leib bis an den Boden
drückte, unweigerlich sagen, daß er das Ganze nicht lange aushalten
werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm alles, was ihm lieb
war; den Kasten, in dem die Laubsäge und andere Werkzeuge lagen, hatten
sie schon hinausgetragen; lockerten jetzt den schon im Boden fest
eingegrabenen Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker, als
Bürgerschüler, ja sogar schon als Volksschüler seine Aufgaben
geschrieben hatte, -- da hatte er wirklich keine Zeit mehr, die guten
Absichten zu prüfen, welche die zwei Frauen hatten, deren Existenz er
übrigens fast vergessen hatte, denn vor Erschöpfung arbeiteten sie schon
stumm, und man hörte nur das schwere Tappen ihrer Füße.
Und so brach er denn hervor -- die Frauen stützten sich gerade im
Nebenzimmer an den Schreibtisch, um ein wenig zu verschnaufen --,
wechselte viermal die Richtung des Laufes, er wußte wirklich nicht, was
er zuerst retten sollte, da sah er an der im übrigen schon leeren Wand
auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen,
kroch eilends hinauf und preßte sich an das Glas, das ihn festhielt und
seinem heißen Bauch wohltat. Dieses Bild wenigstens, das Gregor jetzt
ganz verdeckte, würde nun gewiß niemand wegnehmen. Er verdrehte den Kopf
nach der Tür des Wohnzimmers, um die Frauen bei ihrer Rückkehr zu
beobachten.
Sie hatten sich nicht viel Ruhe gegönnt und kamen schon wieder; Grete
hatte den Arm um die Mutter gelegt und trug sie fast. »Also was nehmen
wir jetzt?« sagte Grete und sah sich um, Da kreuzten sich ihre Blicke
mit denen Gregors an der Wand. Wohl nur infolge der Gegenwart der Mutter
behielt sie ihre Fassung, beugte ihr Gesicht zur Mutter, um diese vom
Herumschauen abzuhalten, und sagte, allerdings zitternd und unüberlegt:
»Komm, wollen wir nicht lieber auf einen Augenblick noch ins Wohnzimmer
zurückgehen?« Die Absicht Gretes war für Gregor klar, sie wollte die
Mutter in Sicherheit bringen und dann ihn von der Wand hinunterjagen.
Nun, sie konnte es ja immerhin versuchen! Er saß auf seinem Bild und
gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht springen.
Aber Gretes Worte hatten die Mutter erst recht beunruhigt, sie trat zur
Seite, erblickte den riesigen braunen Fleck auf der geblümten Tapete,
rief, ehe ihr eigentlich zum Bewußtsein kam, daß das Gregor war, was sie
sah, mit schreiender, rauher Stimme: »Ach Gott, ach Gott!« und fiel mit
ausgebreiteten Armen, als gebe sie alles auf, über das Kanapee hin und
rührte sich nicht. »Du, Gregor!« rief die Schwester mit erhobener Faust
und eindringlichen Blicken. Es waren seit der Verwandlung die ersten
Worte, die sie unmittelbar an ihn gerichtet hatte. Sie lief ins
Nebenzimmer, um irgendeine Essenz zu holen, mit der sie die Mutter aus
ihrer Ohnmacht wecken könnte; Gregor wollte auch helfen -- zur Rettung
des Bildes war noch Zeit --; er klebte aber fest an dem Glas und mußte
sich mit Gewalt losreißen; er lief dann auch ins Nebenzimmer, als könne
er der Schwester irgendeinen Rat geben, wie in früherer Zeit; mußte aber
dann untätig hinter ihr stehen; während sie in verschiedenen Fläschchen
kramte, erschreckte sie noch, als sie sich umdrehte; eine Flasche fiel
auf den Boden und zerbrach; ein Splitter verletzte Gregor im Gesicht,
irgendeine ätzende Medizin umfloß ihn; Grete nahm nun, ohne sich länger
aufzuhalten, so viele Fläschchen, als sie nur halten konnte, und rannte
mit ihnen zur Mutter hinein; die Tür schlug sie mit dem Fuße zu. Gregor
war nun von der Mutter abgeschlossen, die durch seine Schuld vielleicht
dem Tode nahe war; die Tür durfte er nicht öffnen, wollte er die
Schwester, die bei der Mutter bleiben mußte, nicht verjagen; er hatte
jetzt nichts zu tun, als zu warten; und von Selbstvorwürfen und
Besorgnis bedrängt, begann er zu kriechen, überkroch alles, Wände,
Möbel und Zimmerdecke und fiel endlich in seiner Verzweiflung, als sich
das ganze Zimmer schon um ihn zu drehen anfing, mitten auf den großen
Tisch.
Es verging eine kleine Weile, Gregor lag matt da, ringsherum war es
still, vielleicht war das ein gutes Zeichen. Da läutete es. Das Mädchen
war natürlich in ihrer Küche eingesperrt und Grete mußte daher öffnen
gehen. Der Vater war gekommen. »Was ist geschehen?« waren seine ersten
Worte; Gretes Aussehen hatte ihm wohl alles verraten. Grete antwortete
mit dumpfer Stimme, offenbar drückte sie ihr Gesicht an des Vaters
Brust: »Die Mutter war ohnmächtig, aber es geht ihr schon besser. Gregor
ist ausgebrochen.« »Ich habe es ja erwartet,« sagte der Vater, »ich habe
es euch ja immer gesagt, aber ihr Frauen wollt nicht hören.« Gregor war
es klar, daß der Vater Gretes allzukurze Mitteilung schlecht gedeutet
hatte und annahm, daß Gregor sich irgendeine Gewalttat habe zuschulden
kommen lassen. Deshalb mußte Gregor den Vater jetzt zu besänftigen
suchen, denn ihn aufzuklären hatte er weder Zeit noch Möglichkeit. Und
so flüchtete er sich zur Tür seines Zimmers und drückte sich an sie,
damit der Vater beim Eintritt vom Vorzimmer her gleich sehen könne, daß
Gregor die beste Absicht habe, sofort in sein Zimmer zurückzukehren, und
daß es nicht nötig sei, ihn zurückzutreiben, sondern daß man nur die Tür
zu öffnen brauchte, und gleich werde er verschwinden.
Aber der Vater war nicht in der Stimmung, solche Feinheiten zu bemerken.
»Ah!« rief er gleich beim Eintritt in einem Tone, als sei er
gleichzeitig wütend und froh. Gregor zog den Kopf von der Tür zurück und
hob ihn gegen den Vater. So hatte er sich den Vater wirklich nicht
vorgestellt, wie er jetzt dastand; allerdings hatte er in der letzten
Zeit über dem neuartigen Herumkriechen versäumt, sich so wie früher um
die Vorgänge in der übrigen Wohnung zu kümmern, und hätte eigentlich
darauf gefaßt sein müssen, veränderte Verhältnisse anzutreffen.
Trotzdem, trotzdem, war das noch der Vater? Der gleiche Mann, der müde
im Bett vergraben lag, wenn früher Gregor zu einer Geschäftsreise
ausgerückt war; der ihn an Abenden der Heimkehr im Schlafrock im
Lehnstuhl empfangen hatte; gar nicht recht imstande war, aufzustehen,
sondern zum Zeichen der Freude nur die Arme gehoben hatte, und der bei
den seltenen gemeinsamen Spaziergängen an ein paar Sonntagen im Jahr und
an den höchsten Feiertagen zwischen Gregor und der Mutter, die schon an
und für sich langsam gingen, immer noch ein wenig langsamer, in seinen
alten Mantel eingepackt, mit stets vorsichtig aufgesetztem Krückstock
sich vorwärts arbeitete und, wenn er etwas sagen wollte, fast immer
stillstand und seine Begleitung um sich versammelte? Nun aber war er
doch gut aufgerichtet; in eine straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen
gekleidet, wie sie Diener der Bankinstitute tragen; über dem hohen
steifen Kragen des Rockes entwickelte sich sein starkes Doppelkinn;
unter den buschigen Augenbrauen drang der Blick der schwarzen Augen
frisch und aufmerksam hervor; das sonst zerzauste weiße Haar war zu
einer peinlich genauen, leuchtenden Scheitelfrisur niedergekämmt. Er
warf seine Mütze, auf der ein Goldmonogramm, wahrscheinlich das einer
Bank, angebracht war, über das ganze Zimmer im Bogen auf das Kanapee hin
und ging, die Enden seines langen Uniformrockes zurückgeschlagen, die
Hände in den Hosentaschen, mit verbissenem Gesicht auf Gregor zu. Er
wußte wohl selbst nicht, was er vorhatte; immerhin hob er die Füße
ungewöhnlich hoch, und Gregor staunte über die Riesengröße seiner
Stiefelsohlen. Doch hielt er sich dabei nicht auf, er wußte ja noch vom
ersten Tage seines neuen Lebens her, daß der Vater ihm gegenüber nur die
größte Strenge für angebracht ansah. Und so lief er vor dem Vater her,
stockte, wenn der Vater stehen blieb, und eilte schon wieder vorwärts,
wenn sich der Vater nur rührte. So machten sie mehrmals die Runde um das
Zimmer, ohne daß sich etwas Entscheidendes ereignete, ja ohne daß das
Ganze infolge seines langsamen Tempos den Anschein einer Verfolgung
gehabt hätte. Deshalb blieb auch Gregor vorläufig auf dem Fußboden,
zumal er fürchtete, der Vater könnte eine Flucht auf die Wände oder den
Plafond für besondere Bosheit halten. Allerdings mußte sich Gregor
sagen, daß er sogar dieses Laufen nicht lange aushalten würde, denn
während der Vater einen Schritt machte, mußte er eine Unzahl von
Bewegungen ausführen. Atemnot begann sich schon bemerkbar zu machen, wie
er ja auch in seiner früheren Zeit keine ganz vertrauenswürdige Lunge
besessen hatte. Als er nun so dahintorkelte, um alle Kräfte für den Lauf
zu sammeln, kaum die Augen offenhielt; in seiner Stumpfheit an eine
andere Rettung als durch Laufen gar nicht dachte; und fast schon
vergessen hatte, daß ihm die Wände freistanden, die hier allerdings mit
sorgfältig geschnitzten Möbeln voll Zacken und Spitzen verstellt waren
-- da flog knapp neben ihm, leicht geschleudert, irgend etwas nieder und
rollte vor ihm her. Es war ein Apfel; gleich flog ihm ein zweiter nach;
Gregor blieb vor Schrecken stehen; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn
der Vater hatte sich entschlossen, ihn zu bombardieren. Aus der
Obstschale auf der Kredenz hatte er sich die Taschen gefüllt und warf
nun, ohne vorläufig scharf zu zielen, Apfel für Apfel. Diese kleinen
roten Äpfel rollten wie elektrisiert auf dem Boden herum und stießen
aneinander. Ein schwach geworfener Apfel streifte Gregors Rücken, glitt
aber unschädlich ab. Ein ihm sofort nachfliegender drang dagegen
förmlich in Gregors Rücken ein; Gregor wollte sich weiterschleppen, als
könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel
vergehen; doch fühlte er sich wie festgenagelt und streckte sich in
vollständiger Verwirrung aller Sinne. Nur mit dem letzten Blick sah er
noch, wie die Tür seines Zimmers aufgerissen wurde, und vor der
schreienden Schwester die Mutter hervoreilte, im Hemd, denn die
Schwester hatte sie entkleidet, um ihr in der Ohnmacht Atemfreiheit zu
verschaffen, wie dann die Mutter auf den Vater zulief und ihr auf dem
Weg die aufgebundenen Röcke einer nach dem anderen zu Boden glitten, und
wie sie stolpernd über die Röcke auf den Vater eindrang und ihn
umarmend, in gänzlicher Vereinigung mit ihm -- nun versagte aber Gregors
Sehkraft schon -- die Hände an des Vaters Hinterkopf um Schonung von
Gregors Leben bat.


III.

Die schwere Verwundung Gregors, an der er über einen Monat litt -- der
Apfel blieb, da ihn niemand zu entfernen wagte, als sichtbares Andenken
im Fleische sitzen --, schien selbst den Vater daran erinnert zu haben,
daß Gregor trotz seiner gegenwärtigen traurigen und ekelhaften Gestalt
ein Familienglied war, das man nicht wie einen Feind behandeln durfte,
sondern dem gegenüber es das Gebot der Familienpflicht war, den
Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als dulden.
Und wenn nun auch Gregor durch seine Wunde an Beweglichkeit
wahrscheinlich für immer verloren hatte und vorläufig zur Durchquerung
seines Zimmers wie ein alter Invalide lange, lange Minuten brauchte --
an das Kriechen in der Höhe war nicht zu denken --, so bekam er für
diese Verschlimmerung seines Zustandes einen seiner Meinung nach
vollständig genügenden Ersatz dadurch, daß immer gegen Abend die
Wohnzimmertür, die er schon ein bis zwei Stunden vorher scharf zu
beobachten pflegte, geöffnet wurde, so daß er, im Dunkel seines Zimmers
liegend, vom Wohnzimmer aus unsichtbar, die ganze Familie beim
beleuchteten Tische sehen und ihre Reden, gewissermaßen mit allgemeiner
Erlaubnis, also ganz anders als früher, anhören durfte.
Freilich waren es nicht mehr die lebhaften Unterhaltungen der früheren
Zeiten, an die Gregor in den kleinen Hotelzimmern stets mit einigem
Verlangen gedacht hatte, wenn er sich müde in das feuchte Bettzeug hatte
werfen müssen. Es ging jetzt meist nur sehr still zu. Der Vater schlief
bald nach dem Nachtessen in seinem Sessel ein; die Mutter und Schwester
ermahnten einander zur Stille; die Mutter nähte, weit über das Licht
vorgebeugt, feine Wäsche für ein Modengeschäft; die Schwester, die eine
Stellung als Verkäuferin angenommen hatte, lernte am Abend Stenographie
und Französisch, um vielleicht später einmal einen besseren Posten zu
erreichen. Manchmal wachte der Vater auf, und als wisse er gar nicht,
daß er geschlafen habe, sagte er zur Mutter: »Wie lange du heute schon
wieder nähst!« und schlief sofort wieder ein, während Mutter und
Schwester einander müde zulächelten.
Mit einer Art Eigensinn weigerte sich der Vater, auch zu Hause seine
Dieneruniform abzulegen; und während der Schlafrock nutzlos am
Kleiderhaken hing, schlummerte der Vater vollständig angezogen auf
seinem Platz, als sei er immer zu seinem Dienste bereit und warte auch
hier auf die Stimme des Vorgesetzten. Infolgedessen verlor die gleich
anfangs nicht neue Uniform trotz aller Sorgfalt von Mutter und Schwester
an Reinlichkeit, und Gregor sah oft ganze Abende lang auf dieses über
und über fleckige, mit seinen stets geputzten Goldknöpfen leuchtende
Kleid, in dem der alte Mann höchst unbequem und doch ruhig schlief.
Sobald die Uhr zehn schlug, suchte die Mutter durch leise Zusprache den
Vater zu wecken und dann zu überreden, ins Bett zu gehen, denn hier war
es doch kein richtiger Schlaf und diesen hatte der Vater, der um sechs
Uhr seinen Dienst antreten mußte, äußerst nötig. Aber in dem Eigensinn,
der ihn, seitdem er Diener war, ergriffen hatte, bestand er immer
darauf, noch länger bei Tisch zu bleiben, trotzdem er regelmäßig
einschlief, und war dann überdies nur mit der größten Mühe zu bewegen,
den Sessel mit dem Bett zu vertauschen. Da mochten Mutter und Schwester
mit kleinen Ermahnungen noch so sehr auf ihn eindringen,
viertelstundenlang schüttelte er langsam den Kopf, hielt die Augen
geschlossen und stand nicht auf. Die Mutter zupfte ihn am Ärmel, sagte
ihm Schmeichelworte ins Ohr, die Schwester verließ ihre Aufgabe, um der
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