Die Verwandlung - 2

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an den festgeriegelten Türflügel, so daß sein Leib nur zur Hälfte und
darüber der seitlich geneigte Kopf zu sehen war, mit dem er zu den
anderen hinüberlugte. Es war inzwischen viel heller geworden; klar stand
auf der anderen Straßenseite ein Ausschnitt des gegenüberliegenden,
endlosen, grauschwarzen Hauses -- es war ein Krankenhaus -- mit seinen
hart die Front durchbrechenden regelmäßigen Fenstern; der Regen fiel
noch nieder, aber nur mit großen, einzeln sichtbaren und förmlich auch
einzelnweise auf die Erde hinuntergeworfenen Tropfen. Das
Frühstücksgeschirr stand in überreicher Zahl auf dem Tisch, denn für den
Vater war das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages, die er bei
der Lektüre verschiedener Zeitungen stundenlang hinzog. Gerade an der
gegenüberliegenden Wand hing eine Photographie Gregors aus seiner
Militärzeit, die ihn als Leutnant darstellte, wie er, die Hand am Degen,
sorglos lächelnd, Respekt für seine Haltung und Uniform verlangte. Die
Tür zum Vorzimmer war geöffnet, und man sah, da auch die Wohnungstür
offen war, auf den Vorplatz der Wohnung hinaus und auf den Beginn der
abwärts führenden Treppe.
»Nun,« sagte Gregor und war sich dessen wohl bewußt, daß er der einzige
war, der die Ruhe bewahrt hatte, »ich werde mich gleich anziehen, die
Kollektion zusammenpacken und wegfahren. Wollt ihr, wollt ihr mich
wegfahren lassen? Nun, Herr Prokurist, Sie sehen, ich bin nicht
starrköpfig und ich arbeite gern; das Reisen ist beschwerlich, aber ich
könnte ohne das Reisen nicht leben. Wohin gehen Sie denn, Herr
Prokurist? Ins Geschäft? Ja? Werden Sie alles wahrheitsgetreu berichten?
Man kann im Augenblick unfähig sein zu arbeiten, aber dann ist gerade
der richtige Zeitpunkt, sich an die früheren Leistungen zu erinnern und
zu bedenken, daß man später, nach Beseitigung des Hindernisses, gewiß
desto fleißiger und gesammelter arbeiten wird. Ich bin ja dem Herrn Chef
so sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe
ich die Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme,
ich werde mich aber auch wieder herausarbeiten. Machen Sie es mir aber
nicht schwieriger, als es schon ist. Halten Sie im Geschäft meine
Partei! Man liebt den Reisenden nicht, ich weiß. Man denkt, er verdient
ein Heidengeld und führt dabei ein schönes Leben. Man hat eben keine
besondere Veranlassung, dieses Vorurteil besser zu durchdenken. Sie
aber, Herr Prokurist, Sie haben einen besseren Überblick über die
Verhältnisse, als das sonstige Personal, ja sogar, ganz im Vertrauen
gesagt, einen besseren Überblick, als der Herr Chef selbst, der in
seiner Eigenschaft als Unternehmer sich in seinem Urteil leicht
zuungunsten eines Angestellten beirren läßt. Sie wissen auch sehr wohl,
daß der Reisende, der fast das ganze Jahr außerhalb des Geschäftes ist,
so leicht ein Opfer von Klatschereien, Zufälligkeiten und grundlosen
Beschwerden werden kann, gegen die sich zu wehren ihm ganz unmöglich
ist, da er von ihnen meistens gar nichts erfährt und nur dann, wenn er
erschöpft eine Reise beendet hat, zu Hause die schlimmen, auf ihre
Ursachen hin nicht mehr zu durchschauenden Folgen am eigenen Leibe zu
spüren bekommt. Herr Prokurist, gehen Sie nicht weg, ohne mir ein Wort
gesagt zu haben, das mir zeigt, daß Sie mir wenigstens zu einem kleinen
Teil recht geben!«
Aber der Prokurist hatte sich schon bei den ersten Worten Gregors
abgewendet, und nur über die zuckende Schulter hinweg sah er mit
aufgeworfenen Lippen nach Gregor zurück. Und während Gregors Rede stand
er keinen Augenblick still, sondern verzog sich, ohne Gregor aus den
Augen zu lassen, gegen die Tür, aber ganz allmählich, als bestehe ein
geheimes Verbot, das Zimmer zu verlassen. Schon war er im Vorzimmer, und
nach der plötzlichen Bewegung, mit der er zum letztenmal den Fuß aus dem
Wohnzimmer zog, hätte man glauben können, er habe sich soeben die Sohle
verbrannt. Im Vorzimmer aber streckte er die rechte Hand weit von sich
zur Treppe hin, als warte dort auf ihn eine geradezu überirdische
Erlösung.
Gregor sah ein, daß er den Prokuristen in dieser Stimmung auf keinen
Fall weggehen lassen dürfe, wenn dadurch seine Stellung im Geschäft
nicht aufs äußerste gefährdet werden sollte. Die Eltern verstanden das
alles nicht so gut; sie hatten sich in den langen Jahren die Überzeugung
gebildet, daß Gregor in diesem Geschäft für sein Leben versorgt war, und
hatten außerdem jetzt mit den augenblicklichen Sorgen so viel zu tun,
daß ihnen jede Voraussicht abhanden gekommen war. Aber Gregor hatte
diese Voraussicht. Der Prokurist mußte gehalten, beruhigt, überzeugt und
schließlich gewonnen werden; die Zukunft Gregors und seiner Familie hing
doch davon ab! Wäre doch die Schwester hier gewesen! Sie war klug; sie
hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem Rücken lag. Und gewiß
hätte der Prokurist, dieser Damenfreund, sich von ihr lenken lassen;
sie hätte die Wohnungstür zugemacht und ihm im Vorzimmer den Schrecken
ausgeredet. Aber die Schwester war eben nicht da, Gregor selbst mußte
handeln. Und ohne daran zu denken, daß er seine gegenwärtigen
Fähigkeiten, sich zu bewegen, noch gar nicht kannte, ohne auch daran zu
denken, daß seine Rede möglicher- ja wahrscheinlicherweise wieder nicht
verstanden worden war, verließ er den Türflügel; schob sich durch die
Öffnung; wollte zum Prokuristen hingehen, der sich schon am Geländer des
Vorplatzes lächerlicherweise mit beiden Händen festhielt; fiel aber
sofort, nach einem Halt suchend, mit einem kleinen Schrei auf seine
vielen Beinchen nieder. Kaum war das geschehen, fühlte er zum erstenmal
an diesem Morgen ein körperliches Wohlbehagen; die Beinchen hatten
festen Boden unter sich; sie gehorchten vollkommen, wie er zu seiner
Freude merkte; strebten sogar darnach, ihn fortzutragen, wohin er
wollte; und schon glaubte er, die endgültige Besserung alles Leidens
stehe unmittelbar bevor. Aber im gleichen Augenblick, als er da
schaukelnd vor verhaltener Bewegung, gar nicht weit von seiner Mutter
entfernt, ihr gerade gegenüber auf dem Boden lag, sprang diese, die doch
so ganz in sich versunken schien, mit einemmale in die Höhe, die Arme
weit ausgestreckt, die Finger gespreizt, rief: »Hilfe, um Gottes willen
Hilfe!«, hielt den Kopf geneigt, als wolle sie Gregor besser sehen, lief
aber, im Widerspruch dazu, sinnlos zurück; hatte vergessen, daß hinter
ihr der gedeckte Tisch stand; setzte sich, als sie bei ihm angekommen
war, wie in Zerstreutheit, eilig auf ihn, und schien gar nicht zu
merken, daß neben ihr aus der umgeworfenen großen Kanne der Kaffee in
vollem Strome auf den Teppich sich ergoß.
»Mutter, Mutter,« sagte Gregor leise und sah zu ihr hinauf. Der
Prokurist war ihm für einen Augenblick ganz aus dem Sinn gekommen;
dagegen konnte er sich nicht versagen, im Anblick des fließenden Kaffees
mehrmals mit den Kiefern ins Leere zu schnappen. Darüber schrie die
Mutter neuerdings auf, flüchtete vom Tisch und fiel dem ihr
entgegeneilenden Vater in die Arme. Aber Gregor hatte jetzt keine Zeit
für seine Eltern; der Prokurist war schon auf der Treppe; das Kinn auf
dem Geländer, sah er noch zum letzten Male zurück. Gregor nahm einen
Anlauf, um ihn möglichst sicher einzuholen; der Prokurist mußte etwas
ahnen, denn er machte einen Sprung über mehrere Stufen und verschwand;
»Huh!« aber schrie er noch, es klang durchs ganze Treppenhaus. Leider
schien nun auch diese Flucht des Prokuristen den Vater, der bisher
verhältnismäßig gefaßt gewesen war, völlig zu verwirren, denn statt
selbst dem Prokuristen nachzulaufen oder wenigstens Gregor in der
Verfolgung nicht zu hindern, packte er mit der Rechten den Stock des
Prokuristen, den dieser mit Hut und Überzieher auf einem Sessel
zurückgelassen hatte, holte mit der Linken eine große Zeitung vom Tisch
und machte sich unter Füßestampfen daran, Gregor durch Schwenken des
Stockes und der Zeitung in sein Zimmer zurückzutreiben. Kein Bitten
Gregors half, kein Bitten wurde auch verstanden, er mochte den Kopf noch
so demütig drehen, der Vater stampfte nur stärker mit den Füßen. Drüben
hatte die Mutter trotz des kühlen Wetters ein Fenster aufgerissen, und
hinausgelehnt drückte sie ihr Gesicht weit außerhalb des Fensters in
ihre Hände. Zwischen Gasse und Treppenhaus entstand eine starke Zugluft,
die Fenstervorhänge flogen auf, die Zeitungen auf dem Tische rauschten,
einzelne Blätter wehten über den Boden hin. Unerbittlich drängte der
Vater und stieß Zischlaute aus, wie ein Wilder. Nun hatte aber Gregor
noch gar keine Übung im Rückwärtsgehen, es ging wirklich sehr langsam.
Wenn sich Gregor nur hätte umdrehen dürfen, er wäre gleich in seinem
Zimmer gewesen, aber er fürchtete sich, den Vater durch die zeitraubende
Umdrehung ungeduldig zu machen, und jeden Augenblick drohte ihm doch von
dem Stock in des Vaters Hand der tödliche Schlag auf den Rücken oder auf
den Kopf. Endlich aber blieb Gregor doch nichts anderes übrig, denn er
merkte mit Entsetzen, daß er im Rückwärtsgehen nicht einmal die Richtung
einzuhalten verstand; und so begann er, unter unaufhörlichen ängstlichen
Seitenblicken nach dem Vater, sich nach Möglichkeit rasch, in
Wirklichkeit aber doch nur sehr langsam umzudrehen. Vielleicht merkte
der Vater seinen guten Willen, denn er störte ihn hierbei nicht, sondern
dirigierte sogar hie und da die Drehbewegung von der Ferne mit der
Spitze seines Stockes. Wenn nur nicht dieses unerträgliche Zischen des
Vaters gewesen wäre! Gregor verlor darüber ganz den Kopf. Er war schon
fast ganz umgedreht, als er sich, immer auf dieses Zischen horchend,
sogar irrte und sich wieder ein Stück zurückdrehte. Als er aber endlich
glücklich mit dem Kopf vor der Türöffnung war, zeigte es sich, daß sein
Körper zu breit war, um ohne weiteres durchzukommen. Dem Vater fiel es
natürlich in seiner gegenwärtigen Verfassung auch nicht entfernt ein,
etwa den anderen Türflügel zu öffnen, um für Gregor einen genügenden
Durchgang zu schaffen. Seine fixe Idee war bloß, daß Gregor so rasch als
möglich in sein Zimmer müsse. Niemals hätte er auch die umständlichen
Vorbereitungen gestattet, die Gregor brauchte, um sich aufzurichten und
vielleicht auf diese Weise durch die Tür zu kommen. Vielleicht trieb er,
als gäbe es kein Hindernis, Gregor jetzt unter besonderem Lärm
vorwärts; es klang schon hinter Gregor gar nicht mehr wie die Stimme
bloß eines einzigen Vaters; nun gab es wirklich keinen Spaß mehr, und
Gregor drängte sich -- geschehe was wolle -- in die Tür. Die eine Seite
seines Körpers hob sich, er lag schief in der Türöffnung, seine eine
Flanke war ganz wundgerieben, an der weißen Tür blieben häßliche Flecke,
bald steckte er fest und hätte sich allein nicht mehr rühren können, die
Beinchen auf der einen Seite hingen zitternd oben in der Luft, die auf
der anderen waren schmerzhaft zu Boden gedrückt -- da gab ihm der Vater
von hinten einen jetzt wahrhaftig erlösenden starken Stoß, und er flog,
heftig blutend, weit in sein Zimmer hinein. Die Tür wurde noch mit dem
Stock zugeschlagen, dann war es endlich still.


II.

Erst in der Abenddämmerung erwachte Gregor aus seinem schweren
ohnmachtähnlichen Schlaf. Er wäre gewiß nicht viel später auch ohne
Störung erwacht, denn er fühlte sich genügend ausgeruht und
ausgeschlafen, doch schien es ihm, als hätte ihn ein flüchtiger Schritt
und ein vorsichtiges Schließen der zum Vorzimmer führenden Tür geweckt.
Der Schein der elektrischen Straßenbahn lag bleich hier und da auf der
Zimmerdecke und auf den höheren Teilen der Möbel, aber unten bei Gregor
war es finster. Langsam schob er sich, noch ungeschickt mit seinen
Fühlern tastend, die er jetzt erst schätzen lernte, zur Türe hin, um
nachzusehen, was dort geschehen war. Seine linke Seite schien eine
einzige lange, unangenehm spannende Narbe, und er mußte auf seinen zwei
Beinreihen regelrecht hinken. Ein Beinchen war übrigens im Laufe der
vormittägigen Vorfälle schwer verletzt worden -- es war fast ein
Wunder, daß nur eines verletzt worden war -- und schleppte leblos nach.
Erst bei der Tür merkte er, was ihn dorthin eigentlich gelockt hatte; es
war der Geruch von etwas Eßbarem gewesen. Denn dort stand ein Napf mit
süßer Milch gefüllt, in der kleine Schnitte von Weißbrot schwammen. Fast
hätte er vor Freude gelacht, denn er hatte noch größeren Hunger als am
Morgen, und gleich tauchte er seinen Kopf fast bis über die Augen in die
Milch hinein. Aber bald zog er ihn enttäuscht wieder zurück; nicht nur,
daß ihm das Essen wegen seiner heiklen linken Seite Schwierigkeiten
machte -- und er konnte nur essen, wenn der ganze Körper schnaufend
mitarbeitete --, so schmeckte ihm überdies die Milch, die sonst sein
Lieblingsgetränk war und die ihm gewiß die Schwester deshalb
hereingestellt hatte, gar nicht, ja er wandte sich fast mit Widerwillen
von dem Napf ab und kroch in die Zimmermitte zurück.
Im Wohnzimmer war, wie Gregor durch die Türspalte sah, das Gas
angezündet, aber während sonst zu dieser Tageszeit der Vater seine
nachmittags erscheinende Zeitung der Mutter und manchmal auch der
Schwester mit erhobener Stimme vorzulesen pflegte, hörte man jetzt
keinen Laut. Nun vielleicht war dieses Vorlesen, von dem ihm die
Schwester immer erzählte und schrieb, in der letzten Zeit überhaupt aus
der Übung gekommen. Aber auch ringsherum war es so still, trotzdem doch
gewiß die Wohnung nicht leer war. »Was für ein stilles Leben die Familie
doch führte,« sagte sich Gregor und fühlte, während er starr vor sich
ins Dunkle sah, einen großen Stolz darüber, daß er seinen Eltern und
seiner Schwester ein solches Leben in einer so schönen Wohnung hatte
verschaffen können. Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand,
alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollte? Um sich nicht
in solche Gedanken zu verlieren, setzte sich Gregor lieber in Bewegung
und kroch im Zimmer auf und ab.
Einmal während des langen Abends wurde die eine Seitentüre und einmal
die andere bis zu einer kleinen Spalte geöffnet und rasch wieder
geschlossen; jemand hatte wohl das Bedürfnis hereinzukommen, aber auch
wieder zu viele Bedenken. Gregor machte nun unmittelbar bei der
Wohnzimmertür Halt, entschlossen, den zögernden Besucher doch irgendwie
hereinzubringen oder doch wenigstens zu erfahren, wer es sei; aber nun
wurde die Tür nicht mehr geöffnet und Gregor wartete vergebens. Früh,
als die Türen versperrt waren, hatten alle zu ihm hereinkommen wollen,
jetzt, da er die eine Tür geöffnet hatte und die anderen offenbar
während des Tages geöffnet worden waren, kam keiner mehr, und die
Schlüssel steckten nun auch von außen.
Spät erst in der Nacht wurde das Licht im Wohnzimmer ausgelöscht, und
nun war leicht festzustellen, daß die Eltern und die Schwester so lange
wachgeblieben waren, denn wie man genau hören konnte, entfernten sich
jetzt alle drei auf den Fußspitzen. Nun kam gewiß bis zum Morgen niemand
mehr zu Gregor herein; er hatte also eine lange Zeit, um ungestört zu
überlegen, wie er sein Leben jetzt neu ordnen sollte. Aber das hohe
freie Zimmer, in dem er gezwungen war, flach auf dem Boden zu liegen,
ängstigte ihn, ohne daß er die Ursache herausfinden konnte, denn es war
ja sein seit fünf Jahren von ihm bewohntes Zimmer -- und mit einer halb
unbewußten Wendung und nicht ohne eine leichte Scham eilte er unter das
Kanapee, wo er sich, trotzdem sein Rücken ein wenig gedrückt wurde und
trotzdem er den Kopf nicht mehr erheben konnte, gleich sehr behaglich
fühlte und nur bedauerte, daß sein Körper zu breit war, um vollständig
unter dem Kanapee untergebracht zu werden.
Dort blieb er die ganze Nacht, die er zum Teil im Halbschlaf, aus dem
ihn der Hunger immer wieder aufschreckte, verbrachte, zum Teil aber in
Sorgen und undeutlichen Hoffnungen, die aber alle zu dem Schlusse
führten, daß er sich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und
größte Rücksichtnahme der Familie die Unannehmlichkeiten erträglich
machen müsse, die er ihr in seinem gegenwärtigen Zustand nun einmal zu
verursachen gezwungen war.
Schon am frühen Morgen, es war fast noch Nacht, hatte Gregor
Gelegenheit, die Kraft seiner eben gefaßten Entschlüsse zu prüfen, denn
vom Vorzimmer her öffnete die Schwester, fast völlig angezogen, die Tür
und sah mit Spannung herein. Sie fand ihn nicht gleich, aber als sie ihn
unter dem Kanapee bemerkte -- Gott, er mußte doch irgendwo sein, er
hatte doch nicht wegfliegen können -- erschrak sie so sehr, daß sie,
ohne sich beherrschen zu können, die Tür von außen wieder zuschlug. Aber
als bereue sie ihr Benehmen, öffnete sie die Tür sofort wieder und trat,
als sei sie bei einem Schwerkranken oder gar bei einem Fremden, auf den
Fußspitzen herein. Gregor hatte den Kopf bis knapp zum Rande des
Kanapees vorgeschoben und beobachtete sie. Ob sie wohl bemerken würde,
daß er die Milch stehen gelassen hatte, und zwar keineswegs aus Mangel
an Hunger, und ob sie eine andere Speise hereinbringen würde, die ihm
besser entsprach? Täte sie es nicht von selbst, er wollte lieber
verhungern, als sie darauf aufmerksam machen, trotzdem es ihn eigentlich
ungeheuer drängte, unterm Kanapee vorzuschießen, sich der Schwester zu
Füßen zu werfen und sie um irgend etwas Gutes zum Essen zu bitten. Aber
die Schwester bemerkte sofort mit Verwunderung den noch vollen Napf, aus
dem nur ein wenig Milch ringsherum verschüttet war, sie hob ihn gleich
auf, zwar nicht mit den bloßen Händen, sondern mit einem Fetzen, und
trug ihn hinaus. Gregor war äußerst neugierig, was sie zum Ersatze
bringen würde, und er machte sich die verschiedensten Gedanken darüber.
Niemals aber hätte er erraten können, was die Schwester in ihrer Güte
wirklich tat. Sie brachte ihm, um seinen Geschmack zu prüfen, eine ganze
Auswahl, alles auf einer alten Zeitung ausgebreitet. Da war altes
halbverfaultes Gemüse; Knochen vom Nachtmahl her, die von festgewordener
weißer Sauce umgeben waren; ein paar Rosinen und Mandeln; ein Käse, den
Gregor vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte; ein trockenes Brot,
ein mit Butter beschmiertes Brot und ein mit Butter beschmiertes und
gesalzenes Brot. Außerdem stellte sie zu dem allen noch den
wahrscheinlich ein für allemal für Gregor bestimmten Napf, in den sie
Wasser gegossen hatte. Und aus Zartgefühl, da sie wußte, daß Gregor vor
ihr nicht essen würde, entfernte sie sich eiligst und drehte sogar den
Schlüssel um, damit nur Gregor merken könne, daß er es sich so behaglich
machen dürfe, wie er wolle. Gregors Beinchen schwirrten, als es jetzt
zum Essen ging. Seine Wunden mußten übrigens auch schon vollständig
geheilt sein, er fühlte keine Behinderung mehr, er staunte darüber und
dachte daran, wie er vor mehr als einem Monat sich mit dem Messer ganz
wenig in den Finger geschnitten, und wie ihm diese Wunde noch vorgestern
genug wehgetan hatte. »Sollte ich jetzt weniger Feingefühl haben?«
dachte er und saugte schon gierig an dem Käse, zu dem es ihn vor allen
anderen Speisen sofort und nachdrücklich gezogen hatte. Rasch
hintereinander und mit vor Befriedigung tränenden Augen verzehrte er den
Käse, das Gemüse und die Sauce; die frischen Speisen dagegen schmeckten
ihm nicht, er konnte nicht einmal ihren Geruch vertragen und schleppte
sogar die Sachen, die er essen wollte, ein Stückchen weiter weg. Er war
schon längst mit allem fertig und lag nur noch faul auf der gleichen
Stelle, als die Schwester zum Zeichen, daß er sich zurückziehen solle,
langsam den Schlüssel umdrehte. Das schreckte ihn sofort auf, trotzdem
er schon fast schlummerte, und er eilte wieder unter das Kanapee. Aber
es kostete ihn große Selbstüberwindung, auch nur die kurze Zeit, während
welcher die Schwester im Zimmer war, unter dem Kanapee zu bleiben, denn
von dem reichlichen Essen hatte sich sein Leib ein wenig gerundet, und
er konnte dort in der Enge kaum atmen. Unter kleinen Erstickungsanfällen
sah er mit etwas hervorgequollenen Augen zu, wie die nichtsahnende
Schwester mit einem Besen nicht nur die Überbleibsel zusammenkehrte,
sondern selbst die von Gregor gar nicht berührten Speisen, als seien
also auch diese nicht mehr zu gebrauchen, und wie sie alles hastig in
einen Kübel schüttete, den sie mit einem Holzdeckel schloß, worauf sie
alles hinaustrug. Kaum hatte sie sich umgedreht, zog sich schon Gregor
unter dem Kanapee hervor und streckte und blähte sich.
Auf diese Weise bekam nun Gregor täglich sein Essen, einmal am Morgen,
wenn die Eltern und das Dienstmädchen noch schliefen, das zweitemal nach
dem allgemeinen Mittagessen, denn dann schliefen die Eltern gleichfalls
noch ein Weilchen, und das Dienstmädchen wurde von der Schwester mit
irgendeiner Besorgung weggeschickt. Gewiß wollten auch sie nicht, daß
Gregor verhungere, aber vielleicht hätten sie es nicht ertragen können,
von seinem Essen mehr als durch Hörensagen zu erfahren, vielleicht
wollte die Schwester ihnen auch eine möglicherweise nur kleine Trauer
ersparen, denn tatsächlich litten sie ja gerade genug.
Mit welchen Ausreden man an jenem ersten Vormittag den Arzt und den
Schlosser wieder aus der Wohnung geschafft hatte, konnte Gregor gar
nicht erfahren, denn da er nicht verstanden wurde, dachte niemand daran,
auch die Schwester nicht, daß er die anderen verstehen könne, und so
mußte er sich, wenn die Schwester in seinem Zimmer war, damit begnügen,
nur hier und da ihre Seufzer und Anrufe der Heiligen zu hören. Erst
später, als sie sich ein wenig an alles gewöhnt hatte -- von
vollständiger Gewöhnung konnte natürlich niemals die Rede sein --,
erhaschte Gregor manchmal eine Bemerkung, die freundlich gemeint war
oder so gedeutet werden konnte. »Heute hat es ihm aber geschmeckt,«
sagte sie, wenn Gregor unter dem Essen tüchtig aufgeräumt hatte, während
sie im gegenteiligen Fall, der sich allmählich immer häufiger
wiederholte, fast traurig zu sagen pflegte: »Nun ist wieder alles
stehengeblieben.«
Während aber Gregor unmittelbar keine Neuigkeit erfahren konnte,
erhorchte er manches aus den Nebenzimmern, und wo er nun einmal Stimmen
hörte, lief er gleich zu der betreffenden Tür und drückte sich mit
ganzem Leib an sie. Besonders in der ersten Zeit gab es kein Gespräch,
das nicht irgendwie wenn auch nur im geheimen, von ihm handelte. Zwei
Tage lang waren bei allen Mahlzeiten Beratungen darüber zu hören, wie
man sich jetzt verhalten solle; aber auch zwischen den Mahlzeiten sprach
man über das gleiche Thema, denn immer waren zumindest zwei
Familienmitglieder zu Hause, da wohl niemand allein zu Hause bleiben
wollte und man die Wohnung doch auf keinen Fall gänzlich verlassen
konnte. Auch hatte das Dienstmädchen gleich am ersten Tag -- es war
nicht ganz klar, was und wieviel sie von dem Vorgefallenen wußte --
kniefällig die Mutter gebeten, sie sofort zu entlassen, und als sie sich
eine Viertelstunde danach verabschiedete, dankte sie für die Entlassung
unter Tränen, wie für die größte Wohltat, die man ihr hier erwiesen
hatte, und gab, ohne daß man es von ihr verlangte, einen fürchterlichen
Schwur ab, niemandem auch nur das geringste zu verraten.
Nun mußte die Schwester im Verein mit der Mutter auch kochen; allerdings
machte das nicht viel Mühe, denn man aß fast nichts. Immer wieder hörte
Gregor, wie der eine den anderen vergebens zum Essen aufforderte und
keine andere Antwort bekam, als: »Danke ich habe genug« oder etwas
Ähnliches. Getrunken wurde vielleicht auch nichts. Öfters fragte die
Schwester den Vater, ob er Bier haben wolle, und herzlich erbot sie
sich, es selbst zu holen, und als der Vater schwieg, sagte sie, um ihm
jedes Bedenken zu nehmen, sie könne auch die Hausmeisterin darum
schicken, aber dann sagte der Vater schließlich ein großes »Nein«, und
es wurde nicht mehr davon gesprochen.
Schon im Laufe des ersten Tages legte der Vater die ganzen
Vermögensverhältnisse und Aussichten sowohl der Mutter als auch der
Schwester dar. Hie und da stand er vom Tische auf und holte aus seiner
kleinen Wertheimkassa, die er aus dem vor fünf Jahren erfolgten
Zusammenbruch seines Geschäftes gerettet hatte, irgendeinen Beleg oder
irgendein Vormerkbuch. Man hörte, wie er das komplizierte Schloß
aufsperrte und nach Entnahme des Gesuchten wieder verschloß. Diese
Erklärungen des Vaters waren zum Teil das erste Erfreuliche, was Gregor
seit seiner Gefangenschaft zu hören bekam. Er war der Meinung gewesen,
daß dem Vater von jenem Geschäft her nicht das Geringste übriggeblieben
war, zumindest hatte ihm der Vater nichts Gegenteiliges gesagt, und
Gregor allerdings hatte ihn auch nicht darum gefragt. Gregors Sorge war
damals nur gewesen, alles daranzusetzen, um die Familie das
geschäftliche Unglück, das alle in eine vollständige Hoffnungslosigkeit
gebracht hatte, möglichst rasch vergessen zu lassen. Und so hatte er
damals mit ganz besonderem Feuer zu arbeiten angefangen und war fast
über Nacht aus einem kleinen Kommis ein Reisender geworden, der
natürlich ganz andere Möglichkeiten des Geldverdienens hatte, und dessen
Arbeitserfolge sich sofort in Form der Provision zu Bargeld
verwandelten, das der erstaunten und beglückten Familie zu Hause auf den
Tisch gelegt werden konnte. Es waren schöne Zeiten gewesen, und niemals
nachher hatten sie sich, wenigstens in diesem Glanze, wiederholt,
trotzdem Gregor später so viel Geld verdiente, daß er den Aufwand der
ganzen Familie zu tragen imstande war und auch trug. Man hatte sich eben
daran gewöhnt, sowohl die Familie, als auch Gregor, man nahm das Geld
dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte
sich nicht mehr ergeben. Nur die Schwester war Gregor doch noch nahe
geblieben, und es war sein geheimer Plan, sie, die zum Unterschied von
Gregor Musik sehr liebte und rührend Violine zu spielen verstand,
nächstes Jahr, ohne Rücksicht auf die großen Kosten, die das verursachen
mußte, und die man schon auf andere Weise hereinbringen würde, auf das
Konservatorium zu schicken. Öfters während der kurzen Aufenthalte
Gregors in der Stadt wurde in den Gesprächen mit der Schwester das
Konservatorium erwähnt, aber immer nur als schöner Traum, an dessen
Verwirklichung nicht zu denken war, und die Eltern hörten nicht einmal
diese unschuldigen Erwähnungen gern; aber Gregor dachte sehr bestimmt
daran und beabsichtigte, es am Weihnachtsabend feierlich zu erklären.
Solche in seinem gegenwärtigen Zustand ganz nutzlose Gedanken gingen ihm
durch den Kopf, während er dort aufrecht an der Türe klebte und horchte.
Manchmal konnte er vor allgemeiner Müdigkeit gar nicht mehr zuhören und
ließ den Kopf nachlässig gegen die Tür schlagen, hielt ihn aber sofort
wieder fest, denn selbst das kleine Geräusch, das er damit verursacht
hatte, war nebenan gehört worden und hatte alle verstummen lassen. »Was
er nur wieder treibt,« sagte der Vater nach einer Weile, offenbar zur
Türe hingewendet, und dann erst wurde das unterbrochene Gespräch
allmählich wieder aufgenommen.
Gregor erfuhr nun zur Genüge -- denn der Vater pflegte sich in seinen
Erklärungen öfters zu wiederholen, teils, weil er selbst sich mit diesen
Dingen schon lange nicht beschäftigt hatte, teils auch, weil die Mutter
nicht alles gleich beim erstenmal verstand --, daß trotz allen Unglücks
ein allerdings ganz kleines Vermögen aus der alten Zeit noch vorhanden
war, das die nicht angerührten Zinsen in der Zwischenzeit ein wenig
hatten anwachsen lassen. Außerdem aber war das Geld, das Gregor
allmonatlich nach Hause gebracht hatte -- er selbst hatte nur ein paar
Gulden für sich behalten --, nicht vollständig aufgebraucht worden und
hatte sich zu einem kleinen Kapital angesammelt. Gregor, hinter seiner
Türe, nickte eifrig, erfreut über diese unerwartete Vorsicht und
Sparsamkeit. Eigentlich hätte er ja mit diesen überschüssigen Geldern
die Schuld des Vaters gegenüber dem Chef weiter abgetragen haben können,
und jener Tag, an dem er diesen Posten hätte loswerden können, wäre weit
näher gewesen, aber jetzt war es zweifellos besser so, wie es der Vater
eingerichtet hatte.
Nun genügte dieses Geld aber ganz und gar nicht, um die Familie etwa von
den Zinsen leben zu lassen; es genügte vielleicht, um die Familie ein,
höchstens zwei Jahre zu erhalten, mehr war es nicht. Es war also bloß
eine Summe, die man eigentlich nicht angreifen durfte, und die für den
Notfall zurückgelegt werden mußte; das Geld zum Leben aber mußte man
verdienen. Nun war aber der Vater ein zwar gesunder, aber alter Mann,
der schon fünf Jahre nichts gearbeitet hatte und sich jedenfalls nicht
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