Boccaccio - 2

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nicht geringe Zahl von anderen Werken geschrieben hat, in diesem einen
Hauptwerke sich schön und harmonisch vereinigen. Die früheren, allmeist
in Neapel entstandenen Dichtungen des Meisters handeln fast ohne eine
einzige Ausnahme von der Liebe, und die Erzählung „Fiammetta“ ist bei
weitem die schönste unter ihnen. Jedoch weiss in allen diesen Dichtungen
Boccaccio nichts anderes darzustellen als seine eigenen Gefühle und
Liebesgedanken, ohne genügende Mannigfaltigkeit, und die Verse, soweit
es sich um solche handelt, sind mit grossem Fleisse, aber geringer
Erfindungskraft dem Muster des Petrarca nachgeformt, wie denn stets die
jungen Poeten solche Berühmtere nachzuahmen bestrebt waren. Von diesen
Dichtungen erwecken mehrere eine Ahnung von seinem späteren Werke, als
habe die Idee desselben ihm schon längere Jahre am Herzen gelegen.
[Illustration: BOCCACCIOS Handschrift]
Aber wie ein frischer und tüchtiger Mann erst in den Jahren der völligen
Reife die schwere Kunst des Lebens lernt, die darin besteht, dass der
einzelne Mensch seine Schicksale und Gefühle gleich der Welle im Meer
ansehen und mit heiterer Bescheidenheit im grösseren Leben der
Gesamtheit verbergen kann, so besann sich auch dieser Boccaccio erst in
späteren Jahren, als schon die Leidenschaft seiner Jugendzeit verglommen
war, auf alle seine Kräfte. Was er von Kind auf, aus seiner
Bastardkindschaft her, und alsdann in Florenz und Neapel und auf manchen
Reisen erfahren hatte, wurde nun zu plötzlicher Klarheit erhoben und im
stillen entbunden. Nicht weniger die Leiden und die Wollust der
Frauenliebe als der Zauber des Reisens und Schauens, die Erlebnisse und
Sitten der Studenten ebenso wie die Sorgen und Plagen der Kaufleute, die
Gebräuche, Tugenden und Laster derer, die bei Hofe und die in der
Wechselbank und die auf den Märkten oder zu Schiffe leben und ihr Brot
zu erwerben suchen, die Eigenschaften der Narren wie der Weisen, die
Lebensart der Priester, der Richter, der Soldaten, der Seefahrer, der
Frauen, der Dirnen sowie alles Ernste, Schöne, Seltsame, Lächerliche und
Traurige des menschlichen Lebens, soweit nur jemals ein Mensch es
erfahren und beobachtet hat — dieses alles zog er nun aus seinem
Gedächtnisse hervor.
Gewisslich sind von den hundert Erzählungen des Buches Dekameron nur
sehr wenige von Boccaccio selbst erfunden worden. Vielmehr hatte er die
einen erzählen hören, die anderen selbst erlebt oder sich zutragen
sehen, andere auch aus alten Sagen und Liedern und Fabeln genommen. Nur
ein Tor möchte wünschen, er hätte sie alle selbst sich ausgedacht. Im
Gegenteil ist es einer der grössten Vorzüge des Dekameron, dass es
gleich einem Speicher oder Juwelenschrank die Erfahrungen und Schicksale
unzähliger Menschen und Zeiten in sich beschlossen hält. Viele von den
Geschichten kamen aus dem Morgenlande, aus Griechenland und aus
Frankreich, Spanien und Germanien her, viele sind schon sehr alt
gewesen, andere wieder erst von gestern. Dass aber ein einzelner Mann
diese zahllosen kleinen Stücke in seinem Gedächtnis gesammelt, alsdann
geordnet und verbessert und am Ende zu einem grossen, wundervollen
Ganzen zusammengesetzt hat, dazu in einer von ihm selbst geschaffenen,
vollkommenen Sprache — und das Ganze so ebenmässig, rein und klar und in
sich selber einig, als wäre alles am selben Tag und aus demselben Geist
entstanden — dieses ist, so oft man es auch betrachte, ein fast
unbegreifliches Wunder. Begebenheiten und Lehren, Spässe und weise
Erfahrungen, die eine uralt, die andere frisch von der Gasse, die eine
von Hofe, die andre aus dem Bettelvolk, die eine arabischen, die andre
deutschen, die dritte französischen Ursprungs, lustige und klägliche,
edle und gemeine, diese alle zusammen zu einem einzigen prächtigen Werk
vereinigt, aneinander gefügt und wie die Steine eines Geschmeides jede
die Nachbarin hebend und verzierend, und dennoch jede einzelne bis in
die geringsten Teile mit aller Kunst und Sorgfalt ausgebaut und zur
Vollkommenheit gebracht! Wahrlich, wenn Boccaccio in seinem Leben eine
grosse Torheit und Sünde begangen hat, so war es, als er sein
unsterbliches Werk selber als eine müssige und leichtfertige
Jugendarbeit und Verirrung verleumdete.
Allerdings genoss er zu seinen Lebzeiten den meisten Ruhm nicht um der
Novellen, sondern um seiner gelehrten Werke willen, von welchen heute
nur noch die Vita di Dante einigen Wert hat. Dennoch zählte er zu den
unterrichtetsten Männern seiner Zeit, und indem er einen schönen
lateinischen Stil schrieb, sich sehr um die alten Autoren bemühte und
auch die damals nur wenig gepflegte Kenntnis des Griechischen
auszubreiten bestrebt war, hat er ebenso wie Petrarca einen ruhmvollen
Anteil an der Begründung des italienischen rinascimento.
Von der Beschaffenheit, Einrichtung und Konstruktion des Dekameron will
ich später sprechen. Über das Schicksal desselben ist wenig zu sagen,
als dass es — unendlichen Anklagen und Verleumdungen zum Trotze — schon
nach kurzer Zeit über mehrere Länder verbreitet war, auch seither in
vielen Übersetzungen und hunderten von Ausgaben immer wieder gedruckt
worden ist. Unglücklicherweise ist keine Handschrift der Novellen von
der eigenen Hand des Boccaccio erhalten geblieben, und lange Zeit wurde
mit dem Texte so nach Willkür umgesprungen, dass es erst später
fleissigen Gelehrten gelang, ihn so ziemlich wieder auf den status quo
ante zu bringen.
Das Dekameron hat häufige Wiedergeburten im Geiste anderer grosser
Dichter und Künstler gefeiert. Gleichwie in dem Schauspiel „Nathan der
Weise“ die dritte Novelle, von den drei Ringen, eine neue Gestalt annahm
und wieder Tausende erfreute, so haben früher und später viele andere,
vor allem Shakespeare, aus dem Schatze des Florentiners geschöpft,
dessen Spuren in zahlreichen Dichtungen aller Völker zu finden sind.
Nicht weniger haben die Zeichner und Maler sich an ihm vergnügt und
viele seiner Novellen in Bildern dargestellt; und noch im Jahre 1849 hat
der britische Malermeister Millais aus der Novelle vom Basilikumtopf
(Tag 4, Novelle 5) eine Szene in einem berühmten Gemälde abgebildet.
Der vielen anstössigen Stellen wegen hat man schon früher des öfteren
sogenannte verbesserte und purgierte Ausgaben veranstaltet. Was in
solchen Fällen, zumeist von geistlichen Herren, am Text verballhornt und
geschändet worden ist, lässt sich leicht denken. Dabei kümmerte man sich
übrigens wenig um die derben und heiklen Stellen, sondern vor allem um
jene, in welchen Boccaccio der Geistlichkeit unliebsame Wahrheiten
gesagt hat. Einmal, ums Jahr 1570, wurden zu Florenz vier Herren ernannt
zu der Aufgabe, das Dekameron endgültig von allen gegen die Satzungen
der Kirche verstossenden Stellen zu säubern. Da wurden, wo immer es
nötig schien, aus den Mönchen Bürger und Ritter, aus den Nonnen
Edeldamen gemacht, zwei von den Novellen wurden zu einem mysteriösen
Unsinn verbessert, und als nach langer Mühe die Ausgabe vollendet war,
zeigte es sich, dass den Herren eine der heitersten Geschichten durch
die Finger geschlüpft war, und jenes Dekameron hatte statt hundert nur
neunundneunzig Novellen. Ausserdem ist das Buch häufige Male „für die
Jugend“ ediert worden und wird es in Italien „per giovani modesti“ heute
noch.
Besonders schlimm erging es ihm mehr als hundert Jahre nach seines
Verfassers Tod, zur Zeit des wohlbekannten oder übelbekannten
Savonarola. Dieser wütende und vermutlich geisteskranke Mönch, welcher
nach Kräften dazu beitrug, Florenz und Italien dem Untergang näher zu
bringen, hat ausser einer Menge von anderen schönen Dingen auch sehr
viele Exemplare des Dekameron öffentlich verbrennen lassen.
Wo jedoch eine kräftige Quelle aus der Erde gebrochen ist, hat das
Verbauen und das Exorzieren niemals viel geholfen, und es ist schwerer,
etwas geistig Lebendiges zu ertöten, als etwas Totes wieder zum Leben zu
bringen. So hat denn auch Boccaccio manche Zeitgenossen und Nachfolger
gehabt, deren erloschenen Ruhm die Gelehrten mit unsäglichen Mühen bis
auf heute herüber geschleppt haben, indessen er selber inmitten aller
Keulenschläge am Leben blieb und heute noch den gleichen Glanz und
Zauber hat wie seinerzeit.
Indem ich dieses schreibe, träumt mir von einem Cypressenbaum am
Hügelabhang zwischen Vincigliata und Settignano, wo ich vor Zeiten zum
erstenmal, im Grase liegend, das köstliche Buch genoss. Es lief ein
lauer Wind talab, mit Blütenduft von Limonen und Mandeln beladen, es lag
ein süsses Licht über Florenz und allen Bergen, und es sang aus einem
fernen Garten eine welsche Laute herüber, allein ich sah es nicht und
hörte es nicht; ein süsserer Duft und ein viel köstlicherer Klang stieg
mir aus den gelben Blättern des alten Buches zu Häupten.



Das Buch Dekameron ist auf eine solche Art eingerichtet, dass seine
hundert Novellen an zehn Tagen von zehn jungen und edlen Leuten erzählt
werden, und darunter sind sieben Mädchen und drei Jünglinge. Auf diese
Weise kommt daher jede Novelle nicht aus unbestimmter Ferne, sondern
frisch aus dem Munde eines jungen Erzählenden zu uns her geklungen. Und
überdies ist also diese Zahl von hundert Geschichten und Schwänken von
einer lebendigen Erzählung umflochten, hat auch jeder von den zehn Tagen
seine besondere Art und Färbung.
Die Erfindung des Boccaccio ist diese: Zur Zeit des schwarzen Todes,
welcher die Stadt Florenz im Jahre 1348 heimsuchte, waren in dieser
Stadt alle früheren Ordnungen und Gewohnheiten vollkommen aufgelöst. Es
lagen in den Häusern, auf den Treppen und vor den Türen, ja in allen
Gassen da und dort teils Tote, teils Todkranke umher, und die Gefahr der
Ansteckung war so gross, dass Eltern und Kinder, Brüder und Schwestern
einander flohen und die Erkrankten einsam und ohne Pflege dahinsterben
liessen, welche Zustände Herr Boccaccio im Beginn seines Buches mit der
grössten Genauigkeit und Sichtbarkeit uns schildert. Bei solcher
grausamen Verwirrung und Schrecknis trafen sich eines Morgens sieben
junge Damen in der herrlichen Kirche Santa Maria Novella, welche zwar
damals noch der berühmten Wandmalereien des Ghirlandajo entbehrte, aber
auch schon zu jener Zeit eine der schönsten Kirchen von Florenz gewesen
ist.
Diese Sieben, da sie sich unter gemeldeten Umständen nicht allein in
beständiger Todesgefahr, sondern auch jeglicher Freude und Lustbarkeit
durchaus beraubt sahen, beschlossen auf den Rat der Pampinea, welche die
Älteste von ihnen war, sich in Gesellschaft auf das Land zu begeben und
dort einige Zeit in Ruhe und heiteren Gesprächen zu verweilen, wobei sie
die gegenwärtige Trauer und Bangnis ein wenig vergessen könnten. Und
siehe, während sie noch über einige etwa passende Begleiter und über den
Ort ihres Aufenthaltes beratschlagten, traten drei edle Jünglinge in
dieselbe Kirche, von welchen jeder in eine unter diesen Damen verliebt
war. Ihnen eröffnete Pampinea, welche mit einem derselben verwandt war,
ihr Vorhaben und forderte sie auf, als Führer und Kavaliere mit ihnen zu
kommen; und sogleich waren die jungen Herren, wie man sich denken kann,
von Herzen gern dazu bereit. Auch diejenigen von den Mädchen, welche
anfänglich einige Scheu gehabt hatten, freuten sich nun darüber, denn es
war sogleich vereinbart worden, dass Sitte und Ehrbarkeit in jeder Weise
gewahrt blieben.
Also begab sich diese hübsche und fröhliche Gesellschaft edler junger
Leute aus der Stadt und hatte die Wahl des Aufenthaltes zwischen gar
vielen Landsitzen, denn infolge der Pest stand auch auf dem Lande alles
leer und verlassen. Nur zwei Meilen weit vor den Toren fand sie denn
auch auf einem Hügel gelegen einen Palast in der schönsten Umgebung, von
Blumenmatten, wohlriechenden Gebüschen und Bäumen und fliessendem Wasser
umkränzt, mit Garten, Hof und Brunnen; auch waren Säle, Kammern und
Keller wohl versehen. Hier liessen sie sich mit grossem Vergnügen samt
ihrer mitgebrachten Dienerschaft nieder, und der Jüngling Dioneus war
der Erste, welcher allen vorschlug, die Sorgen in der Stadt dahinten zu
lassen und sich, so lange es ihnen gefiele, heitere Tage zu machen.
Alsbald schien es ihnen, auf den Rat der Pampinea, gut, dass an jedem
Tage einer aus der Gesellschaft zum Könige ernannt würde, welcher die
übrigen samt der Dienerschaft zu beherrschen und alles zum Wohlbehagen
und zu guter Unterhaltung dienliche anzuordnen habe. Und es wurde für
diesen ersten Tag als Königin die Pampinea gewählt. Diese wieder
bestimmte einen aus der Dienerschaft zum Seneschall, andere zum
Aufwarten, zum Kochen und zu sonstigen Diensten, wie in einem
wohleingerichteten Hofstaat. Hierauf begab sich jedermann, wohin er
wollte, und betrachtete die schönen Gärten, Säle, Lauben, Wiesen,
Brunnen und Quellen, bis es Zeit zu Tische war. Die Tafel war voll von
trefflichen Speisen und ganz mit Ginsterblüten bestreut, es fehlte nicht
an blanken Gläsern noch an Handwasser und weissem Linnengedeck. Nach der
Mahlzeit aber suchte jeder sich einen Ort zur Ruhe und schlief eine
Weile, bis die Königin aufs neue alle zusammen berief und auf einen
schattigen Rasenanger führte. Nachdem sie ein wenig getanzt und gesungen
hatten, standen wohl Schach- und Damenbretter und genug andere Spiele
bereit, allein der Königin und auch allen anderen schien es
unterhaltsamer und erfreulicher, dass jeder eine Geschichte, die er
wisse, vortrage. So erzählte also jeder eine nach seinem Belieben, und
am Ende der zehn Novellen war es Abend geworden, und sie beschlossen
diesen ersten Tag damit, dass Emilia eine schöne Canzone sang, während
Lauretta einen Tanz dazu aufführte, von Musikinstrumenten begleitet.
Darauf übertrug die Königin ihr Regiment an Philomena, und diese hübsche
und kluge junge Dame ordnete an, es sollten am Tage ihrer Regierung
solche Geschichten erzählt werden, in welchen einer aus grossem Unheil
unerwartet doch noch entrinnt und ein glückliches Ziel erreicht. In
einer ähnlichen Weise verliefen alle zehn Tage und zwar in dieser
Ordnung:
Erster Tag: Unter der Königin Pampinea erzählt ein jeder, was ihm
beliebt und einfällt.
Zweiter Tag: Unter der Königin Philomena werden die Schicksale solcher
vorgetragen, welche unerwartet aus grossem Unheil zu neuem Glücke
hervorgingen.
Dritter Tag: Unter der Königin Neiphile spricht man davon, wie einer
durch Scharfsinn ein ersehntes Ziel erreichte oder etwas Verlorenes
zurück gewann.
Vierter Tag: Unter dem König Philostratus redet man von Verliebten,
deren Liebe ein tragisches Ende nahm.
Fünfter Tag: Unter der Königin Fiammetta werden Geschichten erzählt, in
welchen Liebende nach allerlei Hindernissen und Unfällen doch noch zum
Glücke gelangen.
Sechster Tag: Unter der Königin Elisa ist die Rede von schnellen und
witzigen Aussprüchen, Antworten und Neckereien.
Siebenter Tag: Unter dem Könige Dioneus werden Streiche erzählt, welche
Ehemännern von ihren Weibern gespielt wurden.
Achter Tag: Unter der Königin Lauretta spricht man von Streichen und
Possen, welche so wohl Eheleute wie beliebige andere Personen einander
gespielt haben.
Neunter Tag: Unter der Königin Emilia trägt ein jeder vor, was ihm
behagt.
Zehnter Tag: Unter dem König Pamphilus ist die Rede ausschliesslich von
Taten des Edelmutes und der Hochherzigkeit.
Ausserdem dass jede dieser hundert Novellen durch die Art und Person
dessen, der sie erzählt, einen besonderen Ton und eine eigene Art von
Anmut gewinnt, sind die Erzählungen unter einander noch auf vielfache
und zierliche Weise verbunden. Denn indem zumeist über die soeben
vorgetragene Novelle sich ein kürzeres oder längeres Gespräch in der
Gesellschaft entspinnt, knüpft alsdann der nachfolgende Erzähler fast
immer an dieselbe an und bringt eine Historie zum Vortrag, welche das
angeschlagene Thema von einer neuen Seite beleuchtet und deutlicher
macht, jedoch ohne dass hierdurch jemals der Anschein der Eintönigkeit
erweckt würde. Denn bei mancher Ähnlichkeit des Themas ist dennoch jede
von diesen Novellen von allen anderen scharf unterschieden, und es gibt
keine zwei darunter, die man so leicht mit einander verwechseln könnte.
Nächstdem aber ist jeder Schatten von Gleichförmigkeit auch noch durch
andere feine Künste vermieden worden, indem z. B. Dioneus, welcher der
Hauptspassvogel der Gesellschaft ist, stets mit völlig unerwarteten
neuen Einfällen dazwischen tritt, auch allerlei Anspielungen und
Neckereien zwischen den Erzählenden vorfallen.
[Illustration: DIE KIRCHE SAN STEFANO IN FLORENZ]
Dazu kommt, dass jeder von den zehn Tagen seine eigene Geschichte hat,
mit allerlei kleinen Zwischenfällen, so dass wir ausser den täglich
erzählten zehn Geschichten auch die übrigen Beschäftigungen und
Lustbarkeiten der Gesellschaft erfahren. Daneben ist der Ort, an welchem
sie sich aufhält und welchen sie zwischenein auch wechselt, mit Hainen,
Teichen, Bächen, Blumen, Wild und Fischen stets auf das Anmutigste und
Lebhafteste geschildert, wodurch im Gemüt des Lesenden teils ein
fortwährendes Behagen, teils auch eine milde, angenehme Sehnsucht nach
solchen auserlesen köstlichen Gegenden erregt wird. Denn der Dichter hat
dieselben zwar einigen Örtern ähnlich gebildet, welche man in der Nähe
von Florenz und namentlich im Tal des Mugnone antrifft, allein dennoch
hat er sie in solcher Art geschmückt und dargestellt, wie es nur ein
wahrer Künstler vermag, so dass sie alle etwas Verschöntes und wahrhaft
Paradiesisches an sich tragen.
So ist denn unter den zahlreichen Büchern, in welchen ein Einzelner
viele verstreute Erzählungen gesammelt hat, in aller Welt kein einziges,
welches irgendwie an Schönheit und Kunst dem Dekameron vergleichbar
wäre. Der es seinerzeit geschrieben hat, tat es zum Trost der
unglücklichen Liebenden und vornehmlich zur Erfreuung der Frauen,
welchen denn auch das ganze Werk in einem vortrefflichen Prologe
zugeeignet ist.



Man hört gar häufig sagen, das Dekameron sei ein unanständiges und
verwerfliches Buch. Und diejenigen, welche dies sagen und gerne
predigen, sagen es zum Teil nach dem blossen Hörensagen, zum Teil aber
kennen sie das verwerfliche Buch sehr gut und lesen es in der Stille
häufig. Was nun die Unanständigkeit betrifft, welche stets in Büchern
viel heftiger als im Leben bekämpft wird, so kann und mag ich sie
keineswegs leugnen. Als ich einstmals in demselben Tal des Mugnone, wo
es seinen Schauplatz hat, das Dekameron in einem schönen Frühlingsmonat
ganz durchlas, pflegte ich der Wärme wegen frische Limonen dazu zu
speisen. Und nun hatte ich die Gewohnheit, dass ich bei jeder Novelle,
die mir unanständig erschien, einen Limonenkern in meine Tasche steckte,
und als ich ganz zu Ende gelesen hatte, zählte ich neununddreissig
solche Kerne. Hiernach wäre denn etwas mehr als ein Dritteil des
Dekameron von unanständiger Beschaffenheit.
Obwohl ich glaube, dass gerade diese neununddreissig Novellen zu den
schönsten und ergötzlichsten gehören, will ich doch den Inhalt derselben
nicht zu verteidigen unternehmen. Es ist eine Ordnung der Natur, dass
die Menschen gleich anderen lebenden Geschöpfen ihre Art nicht (wie
manche Pflanzen tun) sich durch Knollen fortsetzen, sondern in zwei
Geschlechter zerfallen, woraus beiden Teilen ebenso wohl viel Vergnügen
als häufiger Kummer entsteht. Und es ist eine andere Ordnung (diese
jedoch nicht von der Natur), dass die meisten wohlgesitteten Menschen
diese natürlichen Dinge zwar billigen und ihren Gesetzen folgen, aber
durchaus nicht davon gesprochen wissen wollen. Und auch noch viele,
welche mündlich nicht selten davon zu sprechen und zu hören pflegen,
sehen es doch in gedruckten Büchern nicht gerne.
Unser Novellenbuch hat das Bestreben und die Eigenschaft, ein Spiegel
des wirklichen Lebens zu sein. Wie ich für sicher glaube, hat wohl an
der Hälfte aller wichtigen menschlichen Begebnisse, Leidenschaften,
Schicksale, Freuden und Leiden das Verhältnis der Geschlechter grossen
Anteil. Wenn nun das Geschichtenbuch des Boccaccio nur zu einem Dritteil
von solchen Stoffen handelt, ist es also doch immer noch um ein
Erkleckliches anständiger und schamhafter als das Leben selber.
Ausserdem sind diese Stoffe von den Erzählern teils so zart und mit
guten Nutzanwendungen vorgetragen, teils so fein und erheiternd mit Witz
und Wortspiel verziert, teils auch so burlesk und drollig, dass ihnen
die natürliche Gemeinheit zum guten Teil genommen ist und dass sie bei
gesunden und vernünftigen Lesern gewiss keinen Schaden anzurichten
vermögen. Dazu kommt, dass neben diesen anderen so viele Geschichten
voll Reinheit und Edelsinn stehen, ja auch unter denen, welche
ausschliesslich von der Liebe handeln, finden sich nicht wenige
Beispiele von seltener Keuschheit, Treue und Ehrbarkeit. Überdies war
der Meister ehrlich genug, jeder Geschichte ihren kurzen Inhalt in
Überschriften voranzustellen, so dass, wer gewisse Dinge verabscheut,
die davon handelnden Novellen ungelesen überschlagen kann.
Ein besonderer Vorwurf wird ungerechter Weise dem Dekameron darüber
gemacht, dass die einzelnen Geschichten von Erzählern beiderlei
Geschlechts berichtet werden und dass die jungen Damen nicht nur manche
derbe Posse mit anhören, sondern auch selbst solche erzählen. Mir ist
zwar nicht bekannt, weshalb die Frauen so viel mehr als die Männer vor
jenen Dingen Scheu haben sollten, auch kann man jeden Tag sehen, dass
dem in Wirklichkeit nicht so ist; dennoch hat auch hierfür der Meister
sich fein und deutlich entschuldigt, indem fast jede Novelle im Beginn
oder am Schlusse einleuchtend erklärt, warum und in welcher Absicht sie
erzählt sei. Die Einführung der Erzählungen heiklen Inhalts hat
Boccaccio auf eine ungemein heitere und kluge Weise gegeben. Unter den
drei Jünglingen der Gesellschaft befindet sich einer namens Dioneus, ein
Witzemacher, Spötter und Schalk vom reinsten Wasser. Dieser nun ist der
erste, welcher am ersten Tage es wagt, eine sogenannte saftige
Geschichte vorzutragen, und er behält sich das Recht vor, ohne Zwang
jedesmal gerade das zu erzählen, was er im Augenblick besonders
unterhaltend fände. Dieser Dioneus fährt denn auch stets, ohne sich
sonderlich an das vorgeschlagene Thema zu halten, in der begonnenen Art
fort, und unter den zehn von ihm erzählten Novellen sind nur zwei, die
nicht anstössig wären, und auch von diesen beiden ist noch die eine,
obwohl frei von Liebesabenteuern, voll von anderen kräftigen Scherzen
und Spöttereien.
Die erste von Dioneus erzählte Posse, worin ein Mönch sich in die Liebe
einer Dirne mit dem Abte teilt, erregt bei den Damen Erröten und
Schelten. Allmählich wagen es nun auch die beiden anderen Jünglinge,
Ähnliches vorzutragen, bei den Mädchen überwiegt bald das Gelächter den
Unwillen, und nach und nach entschlüpft auch ihnen da und dort eine
derbe Historie, bis am Ende die Scheu ganz überwunden ist und alle ihren
natürlichen Eingebungen folgen, so dass zuletzt auch von den Damen jede
wenigstens eine oder zwei derartige Anekdoten zum Besten gegeben hat.
Dioneus freilich bleibt hierin obenan, nicht nur was die Anzahl, sondern
auch was die Stärke seiner Possen betrifft. Welcher Novelle in dieser
schlimmen Hinsicht der Vorrang gebühre, mag jeder für sich entscheiden.
Aber auch davon abgesehen, dass alle diese von der sinnlichen Liebe
handelnden Stoffe mit vieler Schönheit und Kunst vorgetragen werden,
sind Reden und Benehmen der zehn jungen Leute im übrigen so ehrbar und
tadelfrei, dass man wohl sehen kann, wie Reden und Tun zweierlei Dinge
sind und wie Freimütigkeit sich mit guter Sitte sehr wohl verträgt.
Darin könnte sogar mancher von den Erzählern der hundert Novellen viel
Nützliches lernen.
Im Ernst möchte ich keinem klugen Leser raten, die unanständigeren
Novellen des Dekameron völlig zu überschlagen. Wer selbst von guter und
reinlicher Natur ist, wird gewiss das wirklich Unsäuberliche von selber
liegen lassen. Davon abgesehen, offenbart sich aber gerade in einigen
der derberen Geschichten die Art des Boccaccio am besten, so dass man in
ihnen ebenso die grosse Anschaulichkeit und Wahrheit der Darstellung wie
die Lebendigkeit der Sprache bewundern muss. Es sind von Alters her die
Florentiner in Witzworten, Anspielungen und schalkhaften Wendungen der
Rede sehr geübt gewesen und sind es auch heute noch in hohem Grade. Da
nun Boccaccio in jenen Anekdoten und Possen durchaus dieselbe Sprache
redet wie das florentinische Volk auf der Gasse, zeigen dieselben ihrem
Inhalte zum Trotz häufig eine Anmut und Natürlichkeit, welche fast nie
von anderen Schriftstellern erreicht wurde.
Wer noch weiteres zur Verteidigung des armen Giovanni gegen fromme
Vorwürfe für notwendig hält, möge seine eigenen Rechtfertigungen lesen,
welche am ausführlichsten in der Einleitung, sowie in der Vorrede zum
vierten Tage und im Epilog sich finden. Wohl dem, der dessen nicht
bedarf und sich frohen Herzens des dargebotenen reichen Genusses
erfreut!
[Illustration: BOCCACCIO nach einem Gemälde von Andrea del Castagno]
Übrigens sind die Novellen des Boccaccio vor Zeiten keineswegs
vornehmlich deshalb so getadelt worden, weil sie öfters in freimütiger
Weise von den Vergnügungen der Liebe handeln; denn von diesen Dingen
wurde in jenen Zeiten viel natürlicher und freier gesprochen, als es
heute Sitte ist, wo man zwar in allen Verderbtheiten grosse Übung hat,
aber davon zu reden sich gewaltig scheut. Auch ist sowohl die deutsche
wie die englische Literatur der älteren Zeit reich an Unflätereien,
neben welchen die bösesten Stellen des Boccaccio noch wie Gebete
klingen.
Vielmehr zielten die vielen Anklagen damaliger Zensoren fast
ausschliesslich darauf, dass im Dekameron häufig, wie man meinte, die
heilige Religion und Kirche angetastet und verhöhnt werde. In dieser
Hinsicht ist nun freilich die heutige Zeit weniger eilig zum Verdammen
geneigt.
In Wirklichkeit findet man in dem ganzen Werke keine noch so kleine
Stelle, welche wider die Religion gerichtet wäre oder die Absicht hätte,
sie zu verspotten. Im Gegenteil ist öfters von göttlichen Gesetzen und
vom christlichen Glauben in den aufrichtigsten und gläubigsten
Ausdrücken die Rede. So wird auch von der Gesellschaft der Zehne
jedesmal der Freitag und Samstag mit Strenge gefeiert, und an diesen
Tagen hören wir weder von Geschichtenerzählen noch von sonstigen
Lustbarkeiten. Was aber uns heute billig und gerecht erscheint, damals
jedoch zu grosser Verdammung gereichte, das ist der Umstand, dass
Boccaccio bei jeder Gelegenheit von Priestern, Mönchen und Nonnen, auch
von Äbten, Bischöfen, Prioren und hohen geistlichen Herren mit der
kühnsten Freimütigkeit gesprochen hat. Er tat dieses teils, indem er die
unanständigen und lasterhaften Handlungen, wenn er solche berichtet,
fast immer solchen Klerikern in die Schuhe schob, teils redete er aber
auch unverhüllt in den strengsten und heftigsten Ausdrücken über
Priester und Mönche. Von diesen sagt er, ausser an vielen anderen Orten,
in der siebenten Novelle des dritten Tages:
„Sie schreien über die Üppigkeit gegen die Männer, damit, wenn sie diese
sich vom Halse geschafft haben, die Weiber für die Schreier
zurückbleiben. Sie verdammen den Wucher, damit sie, wenn der Sünder
durch ihre Hände den ungerechten Gewinst zurückerstattet, sich vorher
daraus die weitesten Kutten machen lassen und Bistümer und Prälaturen
kaufen können. Sie predigen lauter Gutes — aber warum? Damit sie selbst
das tun können, was, wenn sie es den Weltlichen nicht verböten, sie
nicht tun könnten! Wenn du den Weibern nachläufst, so kann der Frater
nicht bei ihnen ankommen. Wenn du nicht geduldig bist und Beleidigungen
vergibst, so darf der Frater es nicht wagen, dir in’s Haus zu dringen
und deine Familie zu beschmutzen. Ich habe in meinem Leben tausende von
ihnen gesehen, welche nicht allein weltliche Frauen, sondern auch solche
aus den Klöstern liebten, verführten und besuchten, und das waren jene,
die den meisten Lärm auf den Kanzeln machten.“
Von den allerhöchsten Kirchenfürsten aber handelt die von Neiphile
erzählte zweite Novelle des ersten Tages. Nämlich einem reichen und
redlichen jüdischen Kaufmann zu Paris, namens Abraham, liegt sein
Herzensfreund dringlich an, er möchte doch die Taufe nehmen und Christ
werden, um nicht der ewigen Seligkeit dereinst ledig zu bleiben. Der
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