Boccaccio - 1

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DIE DICHTUNG BD. VII
_BOCCACCIO VON_
_HERMANN HESSE_


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_DIE DICHTUNG_
*EINE SAMMLUNG VON MONOGRAPHIEEN*
HERAUSGEGEBEN VON _PAUL REMER_
BUCHSCHMUCK VON HEINRICH VOGELER
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_Jeder Band elegant kartoniert M. 1.50_
_Jeder Band in echt Leder geb. M. 2.50_
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_DIE DICHTUNG_
*EINE SAMMLUNG VON MONOGRAPHIEEN*
HERAUSGEGEBEN VON _PAUL REMER_
BUCHSCHMUCK VON HEINRICH VOGELER
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Wilhelm Busch von Richard Schaukal
Die Sammlung wird fortgesetzt.
Es sind einhundert Bände vorgesehen.
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VON
HERMANN HESSE
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DER SIGNORA MARIA IN
ERINNERUNG AN UNSERN
SPAZIERGANG IM MUGNONETAL
IN VEREHRUNG
ZUGEEIGNET!


... conciossiecosachè le buone novelle sempre possan giovare,
con attento animo son da ricogliere, chi che d’esse sia il
dicitore.
Decamerone, giornata prima.

[Illustration: FLORENZ. Nach einem alten Holzschnitt]



Verehrte Herrschaften und vor allem Ihr, schöne und angebetete Damen! Es
ist üblich, dass demjenigen, der ein schönes Geschenk oder Kleinod
überbringt, ein guter Dank und Lohn zuteil wird; und so werdet auch Ihr,
wenn ich Euch einen reichen Schatz ohne allen Anspruch auf Gewinn oder
Lohn übergebe und anpreise, es freundlich aufnehmen und mir im stillen
Dank dafür wissen. Dies tue ich aber, indem ich Euch das Buch meines
Freundes Giovanni Boccaccio aus Florenz in die Hände lege; denn Ihr
werdet, sofern Ihr es verständig leset, in demselben eine solche Fülle
von schönen, klugen, erfreulichen, rührenden und lächerlichen
Geschichten entdecken, wie sie vielleicht ausserdem kein anderes Buch
irgend eines Dichters enthält.
Seid Ihr nie an einem schönen, warmen Tage im Frühsommer an einem
fremden Garten vorüber gegangen? Ihr waret allein und verdrossen, und
aus dem Garten brachte der Wind den Geruch von Rosen und Orangeblüten,
das Silbergetön einer plätschernden Fontäne, die Klänge einer Guitarre
und das von Gelächter unterbrochene Plaudern fröhlicher junger Leute zu
Euch heraus. Da ergriff Euch Traurigkeit und eine mächtige Sehnsucht,
hinein zu gehen, die staubige Landstrasse mit grünem Rasen und
Blumenbeeten zu vertauschen, die Lieder der Sänger und die frohen
Gespräche der Glücklichen anzuhören und Eure Sehnsucht an all der
Heiterkeit und Freude nach Herzenslust zu ersättigen.
Wohlan, Ihr werten Leute, hier ist das Tor des Gartens: es ist geöffnet,
und aus den Büschen dringt Blütenduft, Gelächter, Liedergesang und
Saitenspiel. Tretet ein, nehmet Platz, sättiget Euer Verlangen! Höret
Ihr gerne schöne Lieder an? Oder habt Ihr Lust, Euch eine traurige
Liebesmäre erzählen zu lassen? Oder freut es Euch, einen Witz, eine
Posse, eine kräftige Anekdote zu vernehmen? Oder von Beispielen des
Edelsinns und höchster Tugend zu hören? Traget Ihr Verlangen nach
vielfältigen und unerhörten Abenteuern, oder mehr nach galanten
Historien, bei welchen die Damen erröten und sich, der guten Sitte
halber, ein wenig entrüstet stellen?
Ihr alle möget eintreten, und jeder wird finden, wonach er sich sehnte.
Denn die hundert Geschichten des edlen Herrn Boccaccio sind so
beschaffen, dass sie die Jünglinge zum Entzücken, die Mädchen zum
Erröten oder zur Rührung, die Männer zum Lachen, die Weisen zum
Nachdenken nötigen. Man findet in diesen Geschichten die verschiedenen
Arten der menschlichen Natur und Temperamente, der Liebe und
Freundschaft, der Schicksale in Leben und Sterben, alles auf eine
anmutige und wahrhaftige Art erzählt und dargestellt. Für Kinder von
zartem und unerfahrenem Alter sind sie nicht geeignet, auch nicht für
blöd gewordene Greise, auch nicht für Leute von feindseliger,
kleinlicher und mürrischer Sinnesart. Ausser diesen aber mögen sie von
Jungen und Alten jeder Art mit grossem Vergnügen und gewiss auch nicht
ohne Nutzen gelesen werden.
Ehe ich weiter von diesem merkwürdigen Buche mit Euch rede, will ich
aber erzählen, wer eigentlich jener Herr Boccaccio war (denn er ist
leider schon seit längeren Zeiten verstorben), und wie er das Dekameron
geschrieben hat.




Wer jemals auch nur die kleinste Novelle von ihm gelesen hat, der kann
nicht daran zweifeln, dass jener ein echter Florentiner war. Denn wenn
es auch einem Fremden vielleicht möglich gewesen wäre, die schöne und
glänzende florentinische Sprache so vollkommen zu erlernen, so würde ihm
doch immer noch der bewegliche, kecke und witzige Geist des geborenen
Florentiners mangeln, den man nicht lernen kann. Denn wohl haben in
späteren Zeiten auch manche weichliche Neapolitaner, leichtsinnige
Mailänder, träge Venetianer und plumpe Sienesen hübsche Novellen
geschrieben; allein diese alle hatten den Boccaccio zum Lehrmeister,
welcher der Vater und Urheber dieser Kunst gewesen ist.
Wenn man nun bedenkt, in welcher Zeit das Buch Dekameron verfasst wurde,
so begreift man leicht, weshalb die Stadt Florenz seine Heimat sein
musste. Diese reiche und prächtige Stadt, welche auch heute noch eine
der schönsten auf Erden ist, befand sich eben zu jener Zeit zwar in
mancherlei Kämpfen und politischen Nöten, jedoch begann sie schon
sichtbar nach jener unvergleichlichen Blüte hinzustreben, welche sie
hundert Jahre später erreichte. So erfreute sie sich einer emsigen und
glücklichen Tätigkeit auf allen Gebieten und nahm nicht weniger im
Handel als in den Künsten täglich an Ruhm und Glücke zu, während das
mächtige Rom kläglich darnieder lag, indem der Papst samt seinem ganzen
Hofhalte sich nach Avignon in der Provence verzogen hatte. Es war von
Florenz sowohl der berühmte Petrarca als der grosse Dichter Dante
gebürtig, obwohl dieser in der Verbannung gestorben war, wie denn auch
infolge beständiger Bürgerkriege des Petrarca Familie vertrieben war und
in Arezzo lebte. Und was die Florentiner an jenem göttlichen Dichter
gesündigt hatten, suchten sie desto eifriger zu sühnen, indem sie damals
und noch lange nachher eine grosse Zahl von Gelehrten, Dichtern,
Künstlern und anderen Männern beherbergten, deren Ruhm ihrer Stadt zur
Ehre gereichte und sie gewürdigt hat, bis auf diesen Tag die eigentliche
Geburtsstätte des rinascimento zu heissen. Zugleich unterhielten die
Kaufleute einen grossen Verkehr nach allen Ländern der Welt, und es
lebten viele Florentiner Bürger als Händler und Geldwechsler in Rom,
Neapel, Mailand, Paris, Byzanz, London, Flandern, auf Sizilien, Malta,
Kreta, Cypern und anderwärts, von wo nicht nur Geld und Wohlstand,
sondern auch mannigfaltige Nachricht und Kunde fremder Gegenden, Sitten
und Begebenheiten täglich in die Stadt kamen.
Aus einer so beschaffenen Zeit und Stadt entstammte also der Verfasser
des Dekameron. Aber dennoch ist er nicht in Florenz oder in dem
benachbarten Certaldo, von wo sein Geschlecht herkam, geboren. Vielmehr
fügte es das Schicksal, das ja stets der grösste Dichter gewesen ist,
dass das Leben dieses weitbekannten Novellenerzählers in einiger
Dunkelheit und nicht anders als eine Abenteuernovelle begann.
Höret denn, Ihr lieben Herren und Damen, das Wenige, was man vom Leben
dieses herrlichen Dichters heute noch weiss, denn leider ist es lange
nicht so viel, als man wünschen möchte!
Aus dem Städtchen Certaldo im Elsatal gebürtig, lebte zu Florenz ein
Kaufmann namens Boccaccio. Er war ein fleissiger und kluger, allein auch
geldgieriger und leichtfertiger Mensch, welcher zahlreiche Handelsreisen
teils für fremde, teils für eigene Rechnung unternahm, wobei er ebenso
sehr für seinen Vorteil wie für sein Vergnügen zu sorgen verstand,
jedoch nach Art der Kaufleute auch öfteren Zufällen und Glückswechseln
ausgesetzt war. Längere Zeit war er an dem grossen Bankgeschäfte des
altberühmten Hauses der Bardi beteiligt, welches auch in Paris, wie in
anderen Städten, eine Filiale besass und hohes Ansehen genoss. Diesem
Pariser Hause hat unser Kaufmann eine Zeitlang vorgestanden, und wenn er
dabei sich als einen tüchtigen Handelsmann erwies, so liess er doch in
dieser grossen und üppigen Hauptstadt auch sein Vergnügen nicht ausser
Augen.
[Illustration: Jugendbildnis BOCCACCIOS]
Wenigstens sah er daselbst eines Tages eine junge und sehr hübsche
Witwe, welche ihm überaus wohlgefiel und deren Gunst er sogleich zu
erwerben sich bemühte. Dies tat er denn auch, als ein gewiegter Mann,
auf jede Weise, indem er sich für einen Edelmann ausgab, was ihm bei
seiner hübschen Gestalt sehr wohl gelang. Er spielte den Feinen und trat
nicht anders auf, als wenn er der Sohn des vornehmsten Hauses gewesen
wäre, obwohl er im Grunde wenig mehr als ein bäuerisch gebildeter
Geldwechsler war. Bald hatte er die Augen der schönen Witwe auf sich
gelenkt und sie seinen ehrerbietigen Bitten zugänglich gemacht, und da
er ihr mit vielen Schwüren die Ehe versprach, sah er sich in kurzem am
äussersten Ziel seiner Wünsche angelangt. Zu beiderseitigem Vergnügen
erfreuten sie sich längere Zeit ihrer Liebe ohne Hindernisse, und gewiss
hätte der Florentiner noch lange nicht an die Rückkehr nach seiner
Heimat gedacht, wäre nicht infolge dieser Liebschaft jene Witwe nach
Jahresfrist mit einem hübschen Knäblein niedergekommen. Dieses passte
keineswegs in die Pläne des leichtsinnigen Italieners, und da die Dame
ausser ihrer Schönheit keine Reichtümer besass, verliess er, ohne sich
seiner Schwüre mehr zu erinnern, sie und die Stadt Paris in aller Stille
und begab sich als ein lediger Mann nach Florenz zurück, wie es stets
die Art solcher Leute war, sich um eine leere Flasche und um eine
schwanger gewordene Geliebte mit keinem Blicke mehr zu bekümmern.
Das Knäblein aber, das die arme Frau im Jahre 1313 gebar, war Giovanni
Boccaccio.
Von Schmerz und Sorge entkräftet, lebte die unglückliche Dame nur noch
wenige Jahre, und nach ihrem Tode ward Giovanni in zartem Knabenalter
nach Florenz zu seinem Vater gebracht. Dort besuchte er eine gute
Schule, erwarb sich einige Kenntnis der lateinischen Sprache und wäre am
liebsten bei den Büchern sitzen geblieben, um sich ganz den Studien
hinzugeben. Aber kaum war er etwa dreizehn Jahr alt, so nahm ihn der
Vater zu sich, lehrte ihn die notwendigsten Handgriffe und Rechenkünste
der Handelsleute und übergab ihn sodann einem Geldwechsler, damit er bei
diesem die Kaufmannschaft erlernen sollte. Sechs Jahre blieb er denn bei
diesem Gewerbe, ohne jedoch etwas Erkleckliches zu lernen oder gar den
Handel lieb zu gewinnen. Vielmehr lief er überall hin, wo er Verse
singen oder vortragen hören konnte, und lernte viele Stücke aus den
grossen Gedichten des Dante und des Virgil auswendig, welche ihn
höchlich begeisterten und mit einer unauslöschlichen Liebe zur Poesie
erfüllten.
Am Ende dieser sechs Jahre sah jedermann deutlich, dass Giovanni in die
Handelschaft passte wie der Fisch aufs Trockene. Dies sah auch der Vater
wohl ein und beschloss daher, seinen Sohn den Studien an Universitäten
zu widmen, und zwar wählte er für ihn das Studium des kanonischen
Rechts, indem es ihm als einem klugen Manne schien, es sei mit diesem
Handwerk nicht wenig Geld zu verdienen, wenn einer es ordentlich
verstehe. Weil aber Giovanni um diese Zeit sich eben in Neapel befand,
schien es dem Vater am wohlfeilsten, dass er dort seine Studien abmache,
ohne dass er geahnt hätte, welcherlei Kenntnisse derselbe sich dort
erwerben würde.
Es war nämlich Neapel zu jener Zeit gewiss die allerüppigste Stadt in
ganz Italien, zumal da gerade unter dem Könige Robert die Einwohner
eines längeren Friedens genossen, woran sie nur schlecht gewöhnt waren.
Von dem Leben bei Hofe brauche ich wenig zu sagen, indem jedermann die
Namen der sechs Neffen des Königs, sowie seiner Schwägerin, der
sogenannten Kaiserin von Konstantinopel, und seiner Enkeltochter Johanna
kennt, welche sämtlich durch alle Welt einen bösen Leumund hatten. Vorab
jene Johanna führte ein überaus freches und tadelnswertes Leben, hatte
ihres Gatten Bruder zum Buhlen und nahm ihn später, nachdem sie sich des
andern durch Mord entledigt hatte, ohne päpstlichen Dispens zum Gemahl.
Auch sonst war in der Stadt, zumal unter den Edelleuten, ein
vergnügliches Schlemmen, auch Hader und kleinere Mordtaten im Schwang,
und bei Hofe war längst zwischen echten Kindern und Bastarden weder von
den Vätern, noch von anderen mehr zu unterscheiden. An diesem Hofe, wo
er noch zu Lebzeiten des Königs von seinem jungen Landsmanne Niccolo
Acciajuoli eingeführt wurde, ging nun das Studentlein ab und zu.
Daselbst war mit Festen, Mahlzeiten, Ball, Tanz und Maskenscherzen ein
verschwenderisches Leben, und gewiss hat Boccaccio niemals irgend eine
üppige oder lüsterne Geschichte erzählt, welche er nicht in Neapel viel
toller und gründlicher selbst mitangesehen hatte. Dass er auf dem
Gebiete der gelehrten Studien (das Latein ausgenommen) etwas Erhebliches
geleistet oder den Grad eines Doctoris juris canonici erlangt hätte,
wird nirgends berichtet. Statt dessen legte er damals den Grund zu
seiner tiefen Kenntnis der menschlichen Leidenschaften, da er von
hervorragenden Beispielen der Verschwendung und Habgier, des
Aberglaubens, der Wollust, der Gefrässigkeit, Mordgier, Verschlagenheit
und Eitelkeit rings umgeben war. Am gründlichsten jedoch unterzog er
sich dem Studium der Liebe, deren Leiden und Freuden er bis zur Neige an
sich selber erfuhr.
Eines Tages nämlich, um die Zeit der Ostern, vermutlich im Jahre 1334,
erblickte er in einer Kirche zu Neapel die Dame, welche sein Herz zu
Lust und Pein von da an jahrelang gefangen hielt. Diese war Donna Maria,
die natürliche Tochter des Königs Robert, welche für eine Tochter des
Grafen von Aquino galt und mit einem angesehenen Edelmann vermählt war.
Die schöne und vornehme Dame betrachtete bald auch von ihrer Seite den
hübschen jungen Florentiner mit Teilnahme und ist eine lange Zeit, nicht
ohne Gewissensbisse und Furcht vor ihrem Eheherrn, seine Geliebte
gewesen. So genoss, wie in der schönsten Abenteuernovelle, der Bastard
eines kleinen Kaufmanns die Tochter eines grossen Königs.
Über alledem liess Boccaccio das kanonische Recht unbehelligt in den
Pergamentrollen schlummern und vom Lehrstuhl ertönen. Er trieb nach
seiner Neigung Latein und Astrologie, im übrigen wandte er sich der
heiteren Seite des Lebens zu und ward nach Kräften seiner Jugend froh.
Er verfasste in diesen Jahren, zumeist für seine Geliebte, eine
unglaubliche Menge von Gedichten und mehrere Romane, von welchen heute
niemand mehr redet. In diesen legte er seiner Dame den Namen Fiammetta
bei, und noch manche Jahre später hat er in wehmütiger Liebeserinnerung
diesen Namen einer von den Damen des Dekameron gegeben. Ohne Zweifel ist
jene Zeit die heiterste und glücklichste in seinem Leben gewesen. Allein
wie wir sehen, dass auch den goldensten Tagen zu früh die Sonne sinkt,
so nahm auch diese Lust zu ihrer Zeit ein Ende.
Im Jahre 1341 befahl der Vater seinem Sohne, nach Florenz
zurückzukehren, und nach längerem Zögern machte dieser sich unmutig auf
den Heimweg. Der Alte, für den Giovanni ohnehin keine allzu starke
Zärtlichkeit empfand, hatte inzwischen auch noch eine gewisse Monna Bice
Bostichi geheiratet, worüber der heimkehrende Sohn nicht eben erfreut
war. Es geschahen jedoch weit schlimmere und wichtigere Dinge, über
welchen er diese kleineren Sorgen vergass. Es war die Zeit, in welcher
der in Florenz so übel beleumdete Herr Gautier von Brienne, genannt
Herzog von Athen, sich für eine kurze Zeit zum Tyrannen der Stadt
emporschwang. Dieser war ein frecher Abenteurer und hatte im Solde der
Republik gegen Pisa gedient, warf sich nun aber mit Hilfe des
niedrigsten Pöbels zum Herrscher auf und schlürfte die Monate seiner
Herrlichkeit zügellos wie ein Trunkener den letzten Becher. Die Stadt
und das ganze Staatswesen drohten in Trümmer zu gehen.
Boccaccio, ein unbestechlicher Republikaner, hat das Schicksal des
Herzogs von Athen, der mit Schimpf von der Bürgerschaft vertrieben
wurde, in einer Abhandlung beschrieben. Nun schienen ihm allmählich die
Zustände in Florenz und im väterlichen Hause so wenig erträglich, dass
er schon im Jahre 1344 von neuem nach Neapel ging. Die Rechtsgelehrtheit
hatte er schon früher aufgegeben. Und so genau er auch im Dekameron die
Pest in Florenz geschildert hat, ist er zurzeit derselben doch nicht
daselbst gewesen, sondern in Neapel, wo freilich der schwarze Tod nicht
weniger grauenhaft wütete. Es starb damals auch seine Geliebte Maria,
und er widmete ihrem Tode zwar einige trauernde Verse, jedoch war seine
ursprünglich so heftige Leidenschaft mit den Jahren erloschen. Es
scheint ausserdem, als habe Donna Maria ihn schon früher wieder fahren
lassen, obwohl er in seiner Erzählung „Fiammetta“ das Gegenteil
darstellt. Nicht lange darauf starb auch sein Vater, und er musste
wieder nach Florenz zurückkehren.
Von da an erblicken wir sein Bild verändert; sein Leben verlief ohne
heftige Erschütterungen, und er alterte als ein tüchtiger und
angesehener Bürger. Im Alter von ungefähr 40 Jahren schrieb er sein
unsterbliches Dekameron, und man könnte glauben, er habe alle seine
Schalkhaftigkeit und fröhlich lachende Untugend darin liegen lassen. Nur
noch einmal widerfuhr ihm eine bittere Liebesgeschichte. Er verliebte
sich heftig in eine vornehme Witwe, welche ihm aber einen bösen Possen
spielte. Nämlich sie stellte sich, als wäre sie geneigt, die Wünsche des
Dichters zu erfüllen, und benutzte alsdann die erste Gelegenheit, ihm
eine Nase zu drehen und ihn unter dem Hohngelächter all ihrer Bekannten
und Freunde kläglich heimzuschicken. Das war Boccaccios letzte Liebe.
Im übrigen, da der Vater ihm eine kleine Erbschaft hinterlassen hatte,
lebte er als ein stillgewordener Mann und widmete sich allerlei
gelehrten Studien. Den Griechen Leontius Pilatus hatte er, um seine
Sprache zu lernen, über zwei Jahre lang bei sich im Hause. Öfters
übernahm er im Dienste der Stadt politische Aufträge und Ambassaden,
unter anderem besuchte er dreimal als Gesandter den Papsthof zu Avignon.
Mit grossem Eifer forschte er dem Leben und den Schriften des Dante
nach, den er ungemein verehrte. Mit dem etwas älteren Petrarca, welcher
damals von sich selber und von jedermann für den grössten lebenden
Dichter gehalten wurde, pflegte er eine edle und herzliche Freundschaft
und war untröstlich, als dieser im Jahre 1374 starb.
Aber das Leben dieses merkwürdigen Mannes, dessen Anfang ein Abenteuer
und dessen erste Hälfte ein Hymnus der Liebe zu sein scheinen,
verwandelte sich zum Schlusse noch in eine fromme Posse. Noch als ein
rüstiger Mann hatte er das Dekameron geschrieben, welches bald auf
schalkhafte, bald auf leidenschaftliche Art dem Dienste schöner Frauen
huldigt und über Mönche und Priester unerschöpflichen Hohn ergiesst.
Nicht gar viel später aber gelang es einem schwindelhaften Mönche,
namens Ciani, ihn zu bekehren, und zwar vermittelst einer nicht einmal
sehr durchtriebenen Bauernfängerei, und von da an hörte man ihn seine
schönsten Werke nie anders denn als verwerfliche Jugendsünden und
Verirrungen bezeichnen. Noch viel schlimmer aber und lächerlicher ist
es, dass der vormalige Schalk und Weiberfreund in seinen älteren Tagen
zu einem argen Frauenverächter ward und ein Buch mit dem Titel Corbaccio
geschrieben hat, in welchem man, wenn man Lust hat, hunderte von
schimpflichen, grausamen, hasserfüllten und anklagenden Reden über die
Weiber finden kann — dazu in einer Redeweise, welche an Unflätigkeit
auch die kühnsten Stellen seiner früheren Werke zehnmal übertrifft. Das
sollte seine Rache an jener grausamen Witwe sein; allein der Dichter tat
damit, wie wir es oft sich ereignen sehen, nur einen Schnitt ins eigene
Fleisch.
Eine späte Ehre ward ihm zuteil, indem er nach mannigfachen Studien und
Reisen im Jahre 1373 zum öffentlichen Ausleger der göttlichen Komödie
des Dante zu Florenz ernannt wurde, wofür er jährlich hundert Goldgulden
bezog. Diese Vorlesungen hielt er unter grossem Zulaufe in der Kirche
Santo Stefano bis kurz vor seinem Tode. Er starb am 21. Dezember 1375,
zweiundsechzig Jahre alt, und wurde ehrenvoll bestattet. Die Liebe zu
der grossen Dichtung des Dante verlieh seinen späteren Tagen, trotz des
bösen Corbaccio, noch eine gewisse ehrwürdige Glorie. Für die
nachfolgenden Jahrhunderte aber ist er wieder der Geschichtenerzähler
mit der Schelmenmiene geworden, und dem heutigen Geschlecht ist an einem
einzigen Witz aus einer seiner Novellen mehr gelegen als an der ganzen
Gelehrsamkeit und Ehrbarkeit seines ehrenvollen Alters.



Über die Dichtergrösse des Boccaccio, welchen man gerne den dritten
unter den grossen italienischen Poeten nennt, steht in vielen Büchern
viel geschrieben, was alles zu wiederholen nicht vonnöten ist. Er war
unter denen, welche jemals kunstgerechte Novellen verfasst haben, nicht
nur der Erste, sondern indem er diese scheinbar geringe Kunst früher als
irgend ein anderer betrieben, ja eigentlich erfunden hat, übte er sie
sogleich mit einer solchen Vollendung aus, dass er von keinem seiner
unzähligen Nachfolger übertroffen oder auch nur erreicht werden konnte.
Nicht weniger gross ist aber sein Verdienst um die italienische Sprache,
welche er nicht etwa nur verschönert und ausgeschmückt, sondern in
gewissem Sinne eigentlich neu geschaffen hat. Denn obwohl schon lange
vor ihm der Florentiner Dante das grösste und schönste italienische
Gedicht verfasst hat, war doch das Gebiet der Erzählung und die
Prosasprache überhaupt noch von keinem mit einiger Kunst gepflegt
worden, indem die Gelehrten häufig lateinisch geschrieben hatten. Die
mündliche Sprache des Volks, welche in Florenz mit besonderer Schönheit
und Reinheit gebraucht wird, hat Boccaccio als der Erste in seinen
Erzählungen mit ihrer natürlichen Anmut und Mannigfaltigkeit verwendet
und zugleich mit so grosser Kunst gepflegt, dass sie in seinen Händen
sich in etwas ganz neues und herrliches verwandelte.
In den Büchern des Dekameron zu lesen, ist für einen, welcher seine Lust
an einer schönen und lebendigen Sprache hat, nicht anders als ein
Wandeln unter blühenden Bäumen und als ein Baden in einem reinen
Gewässer. Die Worte klingen so frisch, als wären sie soeben erschaffen
und vorher noch in keinem Munde gewesen; in jedem kleinen Satze springen
klare, lachende Quellen auf, und die Sätze tanzen bald leicht und
zierlich, bald rollen sie tönend und wohllaut hin. Vielen will es
scheinen, es habe Boccaccio zuweilen seiner Sprache Gewalt angetan, und
es mag ein wenig Wahrheit daran sein. Während er die Worte aus der
Sprache des Volkes von Gassen und Märkten nahm, bildete er hinwieder den
Bau seiner Perioden vornehmlich nach dem Muster der römischen Redner und
Autoren, zumal des Cicero, den er ungemein verehrte.
Dadurch mag vielen, auch wenn sie der heutigen italienischen Sprache
mächtig sind, das Lesen des Dekameron ein schweres und mühsames Werk
erscheinen. Allein es ist nicht nur der Anfang dieses Buches der langen
Perioden wegen schwieriger zu lesen als die Folge, sondern es pflegen
ohnehin nach einigen Versuchen die meisten an dieser Sprache ein solches
Gefallen zu finden, dass sie schnell einige Übung darin erlangen. Und
vornehmlich darf derjenige, welchem etwa das Lesen des Dante zu
schwerster Mühsal gereichte, so dass er ermüdet davon abliess, durchaus
nicht fürchten, hier auf dieselben Schwierigkeiten zu stossen. Kurzum,
wer einigermassen italienisch versteht, möge sich nicht scheuen, das
Dekameron im originalen Texte zu lesen.* Sobald er nur einige Übung
erlangt hat, wird ihm über den Seiten dieses Buches sein, als höre er
Vögel zwitschern, Kinder lachen und Wasser rauschen, eine solche innere
Kraft und freudige Lebensfülle ist in dieser Sprache verborgen.
[*] Wodurch aber niemand von der Lektüre einer Übersetzung
abgeschreckt werden soll! Vor den zahlreichen verkürzten und
verstümmelten Ausgaben aber sei dringend gewarnt! Das Dekameron
muss notwendig unverkürzt gelesen werden. Zur Zeit ist die einzige
vollständige, übrigens ganz vortreffliche deutsche Übersetzung die
von Schaum, deren neue Ausgabe in drei Bänden 1903 im Insel-Verlag
in Leipzig erschienen ist.
Was das Dekameron als Dichtung anbelangt, so ist es überaus merkwürdig
zu sehen, wie alle Kräfte und Vorzüge des Dichters, welcher ja auch eine
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