Viola Tricolor - 1

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VIOLA TRICOLOR
von THEODOR STORM
Novelle (1873)


Es war sehr still in dem großen Hause; aber selbst auf dem Flur spürte man
den Duft von frischen Blumensträußen. Aus einer Flügeltür, der breiten,
in das Oberhaus hinaufführenden Treppe gegenüber, trat eine alte, sauber
gekleidete Dienerin. Mit einer feierlichen Selbstzufriedenheit drückte
sie hinter sich die Tür ins Schloß und ließ dann ihre grauen Augen an den
Wänden entlangstreifen, als wolle sie auch hier jedes Stäubchen noch einer
letzten Musterung unterziehen; aber sie nickte beifällig und warf dann
einen Blick auf die alte englische Hausuhr, deren Glockenspiel eben zum
zweitenmal seinen Satz abgespielt hatte.
"Schon halb!" murmelte die Alte, "und um acht, so schrieb der Herr
Professor, wollten die Herrschaften da sein!"
Hierauf griff sie in ihrer Tasche nach einem großen Schlüsselbund und
verschwand dann in den hinteren Räumen des Hauses.--Und wieder wurde es
still; nur der Perpendikelschlag der Uhr tönte durch den geräumigen Flur
und in das Treppenhaus hinauf; durch das Fenster über der Haustür fiel
noch ein Strahl der Abendsonne und blinkte auf den drei vergoldeten
Knöpfen, welche das Uhrgehäuse krönten.
Dann kamen von oben herab kleine leichte Schritte, und ein etwa
zehnjähriges Mädchen erschien auf dem Treppenabsatz. Auch sie war frisch
und festlich angetan; das rot und weiß gestreifte Kleid stand ihr gut zu
dem bräunlichen Gesichtchen und den glänzend schwarzen Haarflechten. Sie
legte den Arm auf das Geländer und das Köpfchen auf den Arm und ließ sich
so langsam hinabgleiten, während ihre dunkeln Augen träumerisch auf die
gegenüberliegende Zimmertür gerichtet waren.
Einen Augenblick stand sie horchend auf dem Flur; dann drückte sie leise
die Tür des Zimmers auf und schlüpfte durch die schweren Vorhänge hinein.
--Es war schon dämmerig hier, denn die beiden Fenster des tiefen Raumes
gingen auf eine von hohen Häusern eingeengte Straße; nur seitwärts über
dem Sofa leuchtete wie Silber ein venezianischer Spiegel auf der
dunkelgrünen Sammettapete. In dieser Einsamkeit schien er nur dazu
bestimmt, das Bild eines frischen Rosenstraußes zurückzugeben, der in
einer Marmorvase auf dem Sofatische stand. Bald aber erschien in seinem
Rahmen auch das dunkle Kinderköpfchen. Auf den Zehen war die Kleine über
den weichen Fußteppich herangeschlichen; und schon griffen die schlanken
Finger hastig zwischen die Stengel der Blumen, während ihre Augen nach der
Tür zurückflogen. Endlich war es ihr gelungen, eine halberschlossene
Moosrose aus dem Strauße zu lösen; aber sie hatte bei ihrer Arbeit der
Dornen nicht geachtet, und ein roter Blutstropfen rieselte über ihren Arm.
Rasch--denn er wäre fast in das Muster der kostbaren Tischdecke
gefallen--sog sie ihn mit ihren Lippen auf; dann, leise, wie sie gekommen,
die geraubte Rose in der Hand, schlüpfte sie wieder durch die Türvorhänge
auf den Flur hinaus. Nachdem sie auch hier noch einmal gehorcht hatte,
flog sie die Treppe wieder hinauf, die sie zuvor herabgekommen war, und
droben weiter einen Korridor entlang, bis an die letzte Tür desselben.
Einen Blick noch warf sie durch eines der Fenster, vor dem im Abendschein
die Schwalben kreuzten; dann drückte sie die Klinke auf.
Es war das Studierzimmer ihres Vaters, das sie sonst in seiner Abwesenheit
nicht zu betreten pflegte; nun war sie ganz allein zwischen den hohen
Repositorien, die mit ihren unzähligen Büchern so ehrfurchtgebietend
umherstanden. Als sie zögernd die Tür hinter sich zugedrückt hatte, wurde
unter einem zur Linken von derselben befindlichen Fenster der mächtige
Anschlag eines Hundes laut. Ein Lächeln flog über die ernsten Züge des
Kindes; sie ging rasch an das Fenster und blickte hinaus. Drunten
breitete sich der große Garten des Hauses in weiten Rasen- und
Gebüschpartien aus; aber ihr vierbeiniger Freund schien schon andere Wege
eingeschlagen zu haben; sosehr sie spähte, nichts war zu entdecken. Und
wie Schatten fiel es allmählich wieder über das Gesicht des Kindes; sie
war ja zu was anderem hergekommen; was ging sie jetzt der Nero an!
Nach Westen hinaus, der Tür, durch welche sie eingetreten, gegenüber,
hatte das Zimmer noch ein zweites Fenster. An der Wand daneben, so daß
das Licht dem daran Sitzenden zur Hand fiel, befand sich ein großer
Schreibtisch mit dem ganzen Apparat eines gelehrten Altertumsforschers;
Bronzen und Terrakotten aus Rom und Griechenland, kleine Modelle antiker
Tempel und Häuser und andere dem Schutt der Vergangenheit entstiegene
Dinge, füllten fast den ganzen Aufsatz desselben. Darüber aber, wie aus
blauen Frühlingslüften heraustretend, hing das lebensgroße Brustbild einer
jungen Frau; gleich einer Krone der Jugend lagen die goldblonden Flechten
über der klaren Stirn.--"Holdselig", dies veraltete Wort hatten ihre
Freunde für sie wieder hervorgesucht--einst, da sie noch an der Schwelle
dieses Hauses mit ihrem Lächeln die Eintretenden begrüßte.--Und so blickte
sie noch jetzt im Bilde mit ihren blauen Kinderaugen von der Wand herab;
nur um den Mund spielte ein leichter Zug von Wehmut, den man im Leben
nicht an ihr gesehen hatte. Der Maler war auch derzeit wohl darum
gescholten worden; später, da sie gestorben, schien es allen recht zu sein.
Das kleine schwarzhaarige Mädchen kam mit leisen Schritten näher; mit
leidenschaftlicher Innigkeit hingen ihre Augen an dem schönen Bildnis.
"Mutter, meine Mutter!" sprach sie flüsternd; doch so, als wolle mit den
Worten sie sich zu ihr drängen.
Das schöne Antlitz schaute, wie zuvor, leblos von der Wand herab; sie aber
kletterte, behend wie eine Katze, über den davor stehenden Sessel auf den
Schreibtisch und stand jetzt mit trotzig aufgeworfenen Lippen vor dem
Bilde, während ihre zitternden Hände die geraubte Rose hinter der unteren
Leiste des Goldrahmens zu befestigen suchten. Als ihr das gelungen war,
stieg sie rasch wieder zurück und wischte mit ihrem Schnupftuch sorgsam
die Spuren ihrer Füßchen von der Tischplatte.
Aber es war, als könne sie jetzt aus dem Zimmer, das sie zuvor so scheu
betreten hatte, nicht wieder fortfinden; nachdem sie schon einige Schritte
nach der Tür getan hatte, kehrte sie wieder um; das westliche Fenster
neben dem Schreibtische schien diese Anziehungskraft auf sie zu üben.
Auch hier lag unten ein Garten, oder richtiger: eine Gartenwildnis. Der
Raum war freilich klein; denn wo das wuchernde Gebüsch sie nicht verdeckte,
war von allen Seiten die hohe Umfassungsmauer sichtbar. An dieser, dem
Fenster gegenüber, befand sich, in augenscheinlichem Verfall, eine offene
Rohrhütte; davor, von dem grünen Gespinste einer Klematis fast bedeckt,
stand noch ein Gartenstuhl. Der Hütte gegenüber mußte einst eine Partie
von hochstämmigen Rosen gewesen sein; aber sie hingen jetzt wie verdorrte
Reiser an den entfärbten Blumenstöcken, während unter ihnen mit unzähligen
Rosen bedeckte Zentifolien ihre fallenden Blätter auf Gras und Kraut
umherstreuten.
Die Kleine hatte die Arme auf die Fensterbank und das Kinn in ihre beiden
Hände gestützt und schaute mit sehnsüchtigen Augen hinab.
Drüben in der Rohrhütte flogen zwei Schwalben aus und ein; sie mußten wohl
ihr Nest darin gebaut haben. Die andern Vögel waren schon zur Ruhe
gegangen; nur ein Rotbrüstchen sang dort noch herzhaft von dem höchsten
Zweige des abgeblühten Goldregens und sah das Kind mit seinen schwarzen
Augen an.--"Nesi, wo steckst du denn?" sagte sanft eine alte Stimme,
während eine Hand sich liebkosend auf das Haupt des Kindes legte. Die
alte Dienerin war unbemerkt hereingetreten. Das Kind wandte den Kopf und
sah sie mit einem müden Ausdruck an. "Anne", sagte es, "wenn ich nur
einmal wieder in Großmutters Garten dürfte!"
Die Alte antwortete nicht darauf; sie kniff nur die Lippen zusammen und
nickte ein paarmal wie zur Besinnung. "Komm, komm!" sagte sie dann. "Wie
siehst du aus! Gleich werden sie da sein, dein Vater und deine neue
Mutter!" Damit zog sie das Kind in ihre Arme und strich und zupfte ihr
Haar und Kleider zurecht.--"Nein, nein, Neschen! Du darfst nicht weinen;
es soll eine gute Dame sein, und schön, Nesi; du siehst ja gern die
schönen Leute!"
In diesem Augenblick tönte das Rasseln eines Wagens von der Straße herauf.
Das Kind zuckte zusammen; die Alte aber faßte es bei der Hand und zog es
rasch mit sich aus dem Zimmer. Sie kamen noch früh genug, um den Wagen
vorfahren zu sehen; die beiden Mägde hätten schon die Haustür
aufgeschlagen.--Das Wort der alten Dienerin schien sich zu bestätigen.
Von einem etwa vierzigjährigen Manne, in dessen ernsten Zügen man Nesis
Vater leicht erkannte, wurde eine junge schöne Frau aus dem Wagen gehoben.
Ihr Haar und ihre Augen waren fast so dunkel wie die des Kindes, dessen
Stiefmutter sie geworden war; ja man hätte sie, flüchtig angesehen, für
die rechte halten können, wäre sie dazu nicht zu jung gewesen. Sie grüßte
freundlich, während ihre Augen wie suchend umherblickten; aber ihr Mann
führte sie rasch ins Haus und in das untere Zimmer, wo sie von dem
frischen Rosenduft empfangen wurde.
"Hier werden wir zusammen leben", sagte er, indem er sie in einen weichen
Sessel niederdrückte, "verlaß dies Zimmer nicht, ohne hier die erste Ruhe
in deinem neuen Heim gefunden zu haben!"
Sie blickte innig zu ihm auf. "Aber du--willst du nicht bei mir bleiben?"
--"Ich hole dir das Beste von den Schätzen unseres Hauses."
"Ja, ja, Rudolf, deine Agnes! Wo war sie denn vorhin?"
Er hatte das Zimmer schon verlassen. Den Augen des Vaters war es nicht
entgangen, daß bei ihrer Ankunft Nesi sich hinter der alten Anne versteckt
gehalten hatte; nun, da er sie wie verloren draußen auf dem Hausflur
stehen fand, hob er sie auf beiden Armen in die Höhe und trug sie so in
das Zimmer.
--"Und hier hast du die Nesi!" sagte er und legte das Kind zu den Füßen
der schönen Stiefmutter auf den Teppich; dann, als habe er Weiteres zu
besorgen, ging er hinaus; er wollte die beiden allein sich finden lassen.
Nesi richtete sich langsam auf und stand nun schweigend vor der jungen
Frau; beide sahen sich unsicher und prüfend in die Augen. Letztere, die
wohl ein freundliches Entgegenkommen als selbstverständlich vorausgesetzt
haben mochte, faßte endlich die Hände des Mädchens und sagte ernst: "Du
weißt doch, daß ich jetzt deine Mutter bin, wollen wir uns nicht liebhaben,
Agnes?" Nesi blickte zur Seite.
"Ich darf aber doch Mama sagen?" fragte sie schüchtern.
--"Gewiß, Agnes; sag, was du willst, Mama oder Mutter, wie es dir gefällt!"
Das Kind sah verlegen zu ihr auf und erwiderte beklommen: "Mama könnte ich
gut sagen!"
Die junge Frau warf einen raschen Blick auf sie und heftete ihre dunkeln
Augen in die noch dunkleren des Kindes. "Mama; aber nicht Mutter?" fragte
sie.
"Meine Mutter ist ja tot", sagte Nesi leise.
In unwillkürlicher Bewegung stießen die Hände der jungen Frau das Kind
zurück; aber sie zog es gleich und heftig wieder an ihre Brust.
"Nesi", sagte sie, "Mutter und Mama ist ja dasselbe!"
Nesi aber erwiderte nichts; sie hatte die Verstorbene immer nur Mutter
genannt.
--Das Gespräch war zu Ende. Der Hausherr war wieder eingetreten, und da
er sein Töchterchen in den Armen seiner jungen Frau erblickte, lächelte er
zufrieden.
"Aber jetzt komm", sagte er heiter, indem er der letzteren seine Hand
entgegenstreckte, "und nimm als Herrin Besitz von allen Räumen dieses
Hauses!"
Und sie gingen miteinander fort; durch die Zimmer des unteren Hauses,
durch Küche und Keller, dann die breite Treppe hinauf in einen großen Saal
und in die kleineren Stuben und Kammern, die nach beiden Seiten der Treppe
auf den Korridor hinausgingen.
Der Abend dunkelte schon; die junge Frau hing immer schwerer an dem Arm
ihres Mannes, es war fast, als sei mit jeder Tür, die sich vor ihr
geöffnet, eine neue Last auf ihre Schultern gefallen; immer einsilbiger
wurden seine froh hervorströmenden Worte erwidert. Endlich, da sie vor
der Tür seines Arbeitszimmers standen, schwieg auch er und hob den schönen
Kopf zu sich empor, der stumm an seiner Schulter lehnte.
"Was ist dir, Ines?" sagte er, "du freust dich nicht!"
"O doch, ich freue mich!"
"So komm!"
Als er die Tür geöffnet hatte, schien ihnen ein mildes Licht entgegen.
Durch das westliche Fenster leuchtete der Schein des Abendgoldes, das
drüben jenseits der Büsche des kleinen Gartens stand.--In diesem Lichte
blickte das schöne Bild der Toten von der Wand herab; darunter auf dem
matten Gold des Rahmens lag wie glühend die frische rote Rose.
Die junge Frau griff unwillkürlich mit der Hand nach ihrem Herzen und
starrte sprachlos auf das süße lebensvolle Bild. Aber schon hatten die
Arme ihres Mannes sie fest umfangen.
"Sie war einst mein Glück", sagte er; "sei du es jetzt!"
Sie nickte, aber sie schwieg und rang nach Atem. Ach, diese Tote lebte
noch, und für sie beide war doch nicht Raum in einem Hause!
Wie zuvor, da Nesi hier gewesen, tönte jetzt wieder aus dem großen, zu
Norden belegenen Garten die mächtige Stimme eines Hundes.
Mit sanfter Hand wurde die junge Frau von ihrem Gatten an das dorthinaus
liegende Fenster geführt. "Sieh einmal hier hinab!" sagte er.
Drunten auf dem Steige, der um den großen Rasen führte, saß ein schwarzer
Neufundländer; vor ihm stand Nesi und beschrieb mit einer ihrer schwarzen
Flechten einen immer engeren Kreis um seine Nase. Dann warf der Hund den
Kopf zurück und bellte, und Nesi lachte und begann das Spiel von neuem.
Auch der Vater, der diesem kindischen Treiben zusah, mußte lächeln; aber
die junge Frau an seiner Seite lächelte nicht, und wie eine trübe Wolke
flog es über ihn hin. "Wenn es die Mutter wäre!" dachte er; laut aber
sagte er: "Das ist unser Nero, den mußt du auch noch kennenlernen, Ines;
der und Nesi sind gute Kameraden, sogar vor ihren Puppenwagen läßt sich
das Ungeheuer spannen."
Sie blickte zu ihm auf. "Hier ist so viel, Rudolf", sagte sie wie
zerstreut, "wenn ich nur durchfinde!"
--"Ines, du träumst! Wir und das Kind, der Hausstand ist ja so klein wie
möglich."
"Wie möglich?" wiederholte sie tonlos, und ihre Augen folgten dem Kinde,
das jetzt mit dem Hunde um den Rasen jagte; dann plötzlich, wie in Angst
zu ihrem Mann emporsehend, schlang sie die Arme um seinen Hals und bat:
"Halte mich fest, hilf mir! Mir ist so schwer."

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Wochen, Monate waren vergangen.--Die Befürchtungen der jungen Frau schienen
sich nicht zu verwirklichen; wie von selber ging die Wirtschaft unter ihrer
Hand. Die Dienerschaft fügte sich gern ihrem zugleich freundlichen und
vornehmen Wesen, und auch wer von außen hinzutrat, fühlte, daß jetzt wieder
eine dem Hausherrn ebenbürtige Frau im Innern walte. Für die schärfer
blickenden Augen ihres Mannes freilich war es anders; er erkannte nur zu
sehr, daß sie mit den Dingen seines Hauses wie mit Fremden verkehre, woran
sie keinen Teil habe, das als gewissenhafte Stellvertreterin sie nur um
desto sorgsamer verwalten müsse. Es konnte den erfahrenen Mann nicht
beruhigen, wenn sie sich zuweilen mit heftiger Innigkeit in seine Arme
drängte, als müsse sie sich versichern, daß sie ihm, er ihr gehöre.
Auch zu Nesi hatte ein näheres Verhältnis sich nicht gebildet. Eine
innere Stimme--der Liebe und der Klugheit--gebot der jungen Frau, mit dem
Kinde von seiner Mutter zu sprechen, an die es die Erinnerung so lebendig,
seit die Stiefmutter ins Haus getreten war, so hartnäckig bewahrte.
Aber--das war es ja! Das süße Bild, das droben in ihres Mannes Zimmer
hing--selbst ihre inneren Augen vermieden, es zu sehen. Wohl hatte sie
mehrmals schon den Mut gefaßt; sie hatte das Kind mit beiden Händen an
sich gezogen, dann aber war sie verstummt; ihre Lippen hatten ihr den
Dienst versagt, und Nesi, deren dunkle Augen bei solcher herzlichen
Bewegung freudig aufgeleuchtet, war traurig wieder fortgegangen. Denn
seltsam, sie sehnte sich nach der Liebe dieser schönen Frau; ja, wie
Kinder pflegen, sie betete sie im stillen an. Aber ihr fehlte die Anrede,
die der Schlüssel jedes herzlichen Gespräches ist; das eine--so war
ihr--durfte sie, das andere konnte sie nicht sagen.
Auch dieses letzte Hemmnis fühlte Ines, und da es das am leichtesten zu
beseitigende schien, so kehrten ihre Gedanken immer wieder auf diesen
Punkt zurück.
So saß sie eines Nachmittags neben ihrem Mann im Wohnzimmer und blickte in
den Dampf, der leise singend aus der Teemaschine aufstieg.
Rudolf, der eben seine Zeitung durchgelesen hatte, ergriff ihre Hand. "Du
bist so still, Ines; du hast mich heute nicht ein einzig Mal gestört!"
"Ich hätte wohl etwas zu sagen", erwiderte sie zögernd, indem sie ihre
Hand aus der seinen löste.
--"So sag es denn!"
Aber sie schwieg noch eine Weile.
--"Rudolf", sagte sie endlich, "laß dein Kind mich Mutter nennen!"
--"Und tut sie denn das nicht?"
Sie schüttelte den Kopf und erzählte ihm, was am Tage ihrer Ankunft
vorgefallen war.
Er hörte ihr ruhig zu. "Es ist ein Ausweg", sagte er dann, "den hier die
Kinderseele unbewußt gefunden hat. Wollen wir ihn nicht dankbar gelten
lassen?"
Die junge Frau antwortete nicht darauf, sie sagte nur: "So wird das Kind
mir niemals nahekommen."
Er wollte wieder ihre Hand fassen, aber sie entzog sie ihm.
"Ines", sagte er, "verlange nur nichts, was die Natur versagt; von Nesi
nicht, daß sie dein Kind, und nicht von dir, daß du ihre Mutter seist!"
Die Tränen brachen ihr aus den Augen. "Aber, ich soll doch ihre Mutter
sein", sagte sie fast heftig.
--"Ihre Mutter? Nein, Ines, das sollst du nicht."
"Was soll ich denn, Rudolf?"
--Hätte sie die naheliegende Antwort auf diese Frage jetzt verstehen
können, sie würde sie sich selbst gegeben haben. Er fühlte das und sah
ihr sinnend in die Augen, als müsse er dort die helfenden Worte finden.
"Bekenn es nur!" sagte sie, sein Schweigen mißverstehend, "darauf hast du
keine Antwort."
"O Ines!" rief er. "Wenn erst aus deinem eigenen Blut ein Kind auf deinem
Schoße liegt!"
Sie machte eine abwehrende Bewegung; er aber sagte: "Die Zeit wird kommen,
und du wirst fühlen, wie das Entzücken, das aus deinem Auge bricht, das
erste Lächeln deines Kindes weckt und wie es seine kleine Seele zu dir
zieht.--Auch über Nesi haben einst zwei selige Augen so geleuchtet; dann
schlang sie den kleinen Arm um einen Nacken, der sich zu ihr niederbeugte,
und sagte: "Mutter!"--Zürne nicht mit ihr, daß sie es zu keiner andern auf
der Welt mehr sagen kann!"
Ines hatte seine Worte kaum gehört; ihre Gedanken verfolgten nur den einen
Punkt. "Wenn du sagen kannst: Sie ist ja nicht dein Kind, warum sagst du
denn nicht auch: Du bist ja nicht mein Weib!"
Und dabei blieb es. Was gingen sie seine Gründe an!
Er zog sie an sich; er suchte sie zu beruhigen; sie küßte ihn und sah ihn
durch Tränen lächelnd an; aber geholfen war ihr damit nicht.-Als Rudolf
sie verlassen hatte, ging sie hinaus in den großen Garten. Bei ihrem
Eintritt sah sie Nesi mit einem Schulbuche in der Hand um den breiten
Rasen wandern, aber sie wich ihr aus und schlug einen Seitenweg ein, der
zwischen Gebüsch an der Gartenmauer entlangführte.
Dem Kinde war beim flüchtigen Aufblick der Ausdruck von Trauer in den
schönen Augen der Stiefmutter nicht entgangen, und wie magnetisch
nachgezogen, immer lernend und ihre Lektion vor sich her murmelnd, war
auch sie allmählich in jenen Steig geraten.
Ines stand eben vor einer in der hohen Mauer befindlichen Pforte, die von
einem Schlinggewächs mit lila Blüten fast verhangen war. Mit abwesenden
Blicken ruhten ihre Augen darauf, und sie wollte schon ihre stille
Wanderung wieder beginnen, als sie das Kind sich entgegenkommen sah.
Nun blieb sie stehen und fragte: "Was ist das für eine Pforte, Nesi?"
--"Zu Großmutters Garten!"
"Zu Großmutters Garten?--Deine Großeltern sind doch schon lange tot!"
"Ja, schon lange, lange."
"Und wem gehört denn jetzt der Garten?"
--"Uns!" sagte das Kind, als verstehe sich das von selbst.
Ines bog ihren schönen Kopf unter das Gesträuch und begann an der eisernen
Klinke der Tür zu rütteln; Nesi stand schweigend dabei, als wolle sie den
Erfolg dieser Bemühungen abwarten.
"Aber er ist ja verschlossen!" rief die junge Frau, indem sie abließ und
mit dem Schnupftuch den Rost von ihren Fingern wischte. "Ist es der wüste
Garten, den man aus Vaters Stubenfenster sieht?"
Das Kind nickte.
--"Horch nur, wie drüben die Vögel singen!"
Inzwischen war die alte Dienerin in den Garten getreten. Als sie die
Stimmen der beiden von der Mauer her vernahm, beeilte sie sich, in ihre
Nähe zu kommen. "Es ist Besuch drinnen", meldete sie.
Ines legte freundlich ihre Hand an Nesis Wange. "Vater ist ein schlechter
Gärtner", sagte sie im Fortgehen, "da müssen wir beide noch hinein und
Ordnung schaffen."
--Im Hause kam Rudolf ihr entgegen.
"Du weißt, das Müllersche Quartett spielt heute abend", sagte er, "die
Doktorsleute sind da und wollen uns vor Unterlassungssünden warnen."
Als sie zu den Gästen in die Stube getreten waren, entspann sich ein
langes, lebhaftes Gespräch über Musik; dann kamen häusliche Geschäfte,
die noch besorgt werden mußten. Der wüste Garten war für heut vergessen.

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Am Abend war das Konzert.--Die großen Toten, Haydn und Mozart, waren an
den Hörern vorübergezogen, und eben verklang auch der letzte Akkord von
Beethovens c-Moll-Quartett, und statt der feierlichen Stille, in der
allein die Töne auf und nieder glänzten, rauschte jetzt das Geplauder
der fortdrängenden Zuhörer durch den weiten Raum.
Rudolf stand neben dem Stuhle seiner jungen Frau. "Es ist aus, Ines",
sagte er, sich zu ihr niederbeugend, "oder hörst du noch immer etwas?"
Sie saß noch wie horchend, ihre Augen nach dem Podium gerichtet, auf dem
nur noch die leeren Pulte standen. Jetzt reichte sie ihrem Manne die Hand.
"Laß uns heimgehen, Rudolf", sagte sie aufstehend.
An der Tür wurden sie von ihrem Hausarzte und dessen Frau aufgehalten, den
einzigen Menschen, mit denen Ines bis jetzt in einen näheren Verkehr
getreten war.
"Nun?" sagte der Doktor und nickte ihnen mit dem Ausdruck innerster
Befriedigung zu. "Aber kommen Sie mit uns, es ist ja auf dem Wege; nach
so etwas muß man noch ein Stündchen zusammensitzen."
Rudolf wollte schon mit heiterer Zustimmung antworten, als er sich leise
am Ärmel gezupft fühlte und die Augen seiner Frau mit dem Ausdrucke
dringenden Bittens auf sich gerichtet sah. Er verstand sie wohl. "Ich
verweise die Entscheidung an die höhere Instanz", sagte er scherzend.
Und Ines wußte unerbittlich den nicht so leicht zu besiegenden Doktor auf
einen andern Abend zu vertrösten.
Als sie am Hause ihrer Freunde sich von diesen verabschiedet hatten,
atmete sie auf wie befreit.
"Was hast du heute gegen unsere lieben Doktorsleute?" fragte Rudolf.
Sie drückte sich fest in den Arm ihres Mannes. "Nichts", sagte sie, "aber
es war so schön heute abend; ich muß nun ganz mit dir allein sein."
Sie schritten rascher ihrem Hause zu.
"Sieh nur", sagte er, "im Wohnzimmer unten ist schon Licht, unsere alte
Anne wird den Teetisch schon gerüstet haben. Du hattest recht, daheim ist
doch noch besser als bei andern."
Sie nickte nur und drückte ihm still die Hand.--Dann traten sie in ihr
Haus; lebhaft öffnete sie die Stubentür und schlug die Vorhänge zurück.
Auf dem Tische, wo einst die Vase von den Rosen gestanden hatte, brannte
jetzt eine große Bronzelampe und beleuchtete einen schwarzhaarigen
Kinderkopf, der schlafend auf die mageren Ärmchen hingesunken war; die
Ecken eines Bilderbuches ragten nur eben darunter hervor.
Die junge Frau blieb wie erstarrt in der Tür stehen; das Kind war ganz aus
ihrem Gedankenkreise verschwunden gewesen. Ein Zug herber Enttäuschung
flog um ihre schönen Lippen. "Du, Nesi!" stieß sie hervor, als ihr Mann
sie vollends in das Zimmer hineingeführt hatte. "Was machst du denn noch
hier?"
Nesi erwachte und sprang auf. "Ich wollte auf euch warten", sagte sie,
indem sie halb lächelnd mit der Hand über ihre blinzelnden Augen fuhr.
"Das ist unrecht von Anne; du hättest längst zu Bette sein sollen."
Ines wandte sich ab und trat an das Fenster; sie fühlte, wie ihr die
Tränen aus den Augen quollen. Ein unentwirrbares Gemisch von bitteren
Gefühlen wühlte in ihrer Brust; Heimweh, Mitleid mit sich selber, Reue
über ihre Lieblosigkeit gegen das Kind des geliebten Mannes; sie wußte
selber nicht, was alles jetzt sie überkam; aber--und mit der Wollust und
der Ungerechtigkeit des Schmerzes sprach sie es sich selber vor--das war
es: ihrer Ehe fehlte die Jugend, und sie selber war doch noch so jung!
Als sie sich umwandte, war das Zimmer leer.--Wo war die schöne Stunde, auf
die sie sich gefreut?--Sie dachte nicht daran, daß sie sie selbst
verscheucht hatte.--Das Kind, welches mit fast erschreckten Augen dem ihm
unverständlichen Vorgange zugesehen hatte, war von dem Vater still
hinausgeführt worden.
"Geduld!" sprach er zu sich selber, als er, den Arm um Nesi geschlungen,
mit ihr die Treppe hinaufstieg; und auch er, in einem andern Sinne, setzte
hinzu: "Sie ist ja noch so jung."
Eine Kette von Gedanken und Plänen tauchte in ihm auf; mechanisch öffnete
er das Zimmer, wo Nesi mit der alten Anne schlief und in dem sie von
dieser schon erwartet wurde. Er küßte sie und sprach: "Ich werde Mama von
dir gute Nacht sagen." Dann wollte er zu seiner Frau hinabgehen; aber er
kehrte wieder um und trat am Ende des Korridors in sein Studierzimmer.
Auf dem Aufsatze des Schreibtisches stand eine kleine Bronzelampe aus
Pompeji, die er kürzlich erst erworben und versucheshalber mit Öl gefüllt
hatte; er nahm sie herab, zündete sie an und stellte sie wieder an ihren
Ort unter das Bildnis der Verstorbenen; ein Glas mit Blumen, das auf der
Platte des Tisches gestanden, setzte er daneben. Er tat dies fast
gedankenlos; nur, als müsse er auch seinen Händen zu tun geben, während es
ihm in Kopf und Herzen arbeitete. Dann trat er dicht daneben an das
Fenster und öffnete beide Flügel desselben.
Der Himmel war voll Wolken; das Licht des Mondes konnte nicht
herabgelangen. Drunten in dem kleinen Garten lag das wuchernde Gesträuch
wie eine dunkle Masse; nur dort, wo zwischen schwarzen pyramidenförmigen
Koniferen der Steig zur Rohrhütte führte, schimmerte zwischen ihnen der
weiße Kies hindurch.
Und aus der Phantasie des Mannes, der in diese Einsamkeit hinabsah, trat
eine liebliche Gestalt, die nicht mehr den Lebenden angehörte; er sah sie
unten auf dem Steige wandeln, und ihm war, als gehe er an ihrer Seite.
"Laß dein Gedächtnis mich zur Liebe stärken", sprach er; aber die Tote
antwortete nicht; sie hielt den schönen, bleichen Kopf zur Erde geneigt;
er fühlte mit süßem Schauder ihre Nähe, aber Worte kamen nicht von ihr.
Da bedachte er sich, daß er hier oben ganz allein stehe. Er glaubte an
den vollen Ernst des Todes; die Zeit, wo sie gewesen, war vorüber.--Aber
unter ihm lag noch wie einst der Garten ihrer Eltern; von seinen Büchern
durch das Fenster sehend, hatte er dort zuerst das kaum fünfzehnjährige
Mädchen erblickt; und das Kind mit den blonden Flechten hatte dem ernsten
Manne die Gedanken fortgenommen, immer mehr, bis sie zuletzt als Frau die
Schwelle seines Hauses überschritten und ihm alles und noch mehr
zurückgebracht hatte.--Jahre des Glückes und freudigen Schaffens waren mit
ihr eingezogen; den kleinen Garten aber, als die Eltern früh verstorben
waren und das Haus verkauft wurde, hatten sie behalten und durch eine
Pforte in der Grenzmauer mit dem großen Garten ihres Hauses verbunden.
Fast verborgen war schon damals diese Pforte unter hängendem Gesträuch,
das sie ungehindert wachsen ließen; denn sie gingen durch dieselbe in den
fraulichsten Ort ihres Sommerlebens, in welchen selbst die Freunde des
Hauses nur selten hineingelassen wurden.--In der Rohrhütte, in welcher er
einst von seinem Fenster aus die jugendliche Geliebte über ihren
Schularbeiten belauscht hatte, saß jetzt zu den Füßen der blonden Mutter
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