Viola Tricolor - 2

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ein Kind mit dunkeln, nachdenklichen Augen; und wenn er nun den Kopf von
seiner Arbeit wandte, so tat er einen Blick in das vollste Glück des
Menschenlebens.--Aber heimlich hatte der Tod sein Korn hineingeworfen. Es
war in den ersten Tagen eines Junimondes, da trug man das Bett der schwer
Erkrankten aus dem daranliegenden Schlafgemach in das Arbeitszimmer ihres
Mannes; sie wollte die Luft noch um sich haben, die aus dem Garten ihres
Glückes durch das offene Fenster wehte. Der große Schreibtisch war
beiseite gestellt; seine Gedanken waren nun alle nur bei ihr.--Draußen war
ein unvergleichlicher Frühling aufgegangen; ein Kirschbaum stand mit
Blüten überschneit. In unwillkürlichem Drange hob er die leichte Gestalt
aus den Kissen und trug sie an das Fenster. "Oh, sieh es noch einmal!
Wie schön ist doch die Welt!"
Aber sie wiegte leise ihren Kopf und sagte: "Ich sehe es nicht mehr."-Und
bald kam es, da wußte er das Flüstern, welches aus ihrem Munde brach,
nicht mehr zu deuten. Immer schwächer glimmte der Funken; nur ein
schmerzliches Zucken bewegte noch die Lippen, hart und stöhnend im Kampfe
um das Leben ging der Atem. Aber es wurde leiser, immer leiser, zuletzt
süß wie Bienengetön. Dann noch einmal war's, als wandle ein blauer
Lichtstrahl durch die offenen Augen; und dann war Frieden.
"Gute Nacht, Marie!"--Aber sie hörte es nicht mehr.--Noch ein Tag, und
die stille, edle Gestalt lag unten in dem großen, dämmerigen Gemach in
ihrem Sarge. Die Diener des Hauses traten leise auf; drinnen stand er
neben seinem Kinde, das die alte Anne an der Hand hielt.
"Nesi", sagte diese, "du fürchtest dich doch nicht?"
Und das Kind, von der Erhabenheit des Todes angeweht, antwortete: "Nein,
Anne, ich bete."
Dann kam der allerletzte Gang, welcher noch mit ihr zu gehen ihm vergönnt
war; nach ihrer beider Sinn ohne Priester und Glockenklang, aber in der
heiligen Morgenfrühe, die ersten Lerchen stiegen eben in die Luft.
Das war vorüber; aber er besaß sie noch in seinem Schmerze; wenn auch
ungesehen, sie lebte noch mit ihm. Doch unbemerkt entschwand auch dies;
er suchte sie oft mit Angst, aber immer seltener wußte er sie zu finden.
Nun erst schien ihm sein Haus unheimlich leer und öde; in den Winkeln saß
eine Dämmerung, die früher nicht dort gesessen hatte; es war so seltsam
anders um ihn her; und sie war nirgends.--Der Mond war aus dem
Wolkendunst hervorgetreten und beleuchtete hell die unten liegende
Gartenwildnis. Er stand noch immer an derselben Stelle, den Kopf gegen
das Fensterkreuz gelehnt; aber seine Augen sahen nicht mehr, was draußen
war.
Da öffnete sich hinter ihm die Tür, und eine Frau von dunkler Schönheit
trat herein.
Das leise Rauschen ihres Kleides hatte den Weg zu seinem Ohr gefunden; er
wandte den Kopf und sah sie forschend an.
"Ines!" rief er; er stieß das Wort hervor, aber er ging ihr nicht entgegen.
Sie war stehengeblieben. "Was ist dir, Rudolf? Erschrickst du vor mir?"
Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. "Komm", sagte er, "laß
uns hinuntergehen."
Aber während er ihre Hand faßte, waren ihre Augen auf das von der Lampe
beleuchtete Bild und die daneben stehenden Blumen gefallen.--Wie ein
plötzliches Verständnis flog es durch ihre Züge.--"Es ist ja bei dir wie
in einer Kapelle", sagte sie, und ihre Worte klangen kalt, fast feindlich.
Er hatte alles begriffen. "Oh, Ines", rief er, "sind nicht auch dir die
Toten heilig!"
"Die Toten! Wem sollten die nicht heilig sein! Aber, Rudolf" und sie zog
ihn wieder an das Fenster; ihre Hände zitterten, und ihre schwarzen Augen
flimmerten vor Erregung--, "sag mir, die ich jetzt dein Weib bin, warum
hältst du diesen Garten verschlossen und lässest keines Menschen Fuß
hinein?"
Sie zeigte mit der Hand in die Tiefe; der weiße Kies zwischen den
schwarzen Pyramidensträuchern schimmerte gespenstisch; ein großer
Nachtschmetterling flog eben darüber hin.
Er hatte schweigend hinabgeblickt. "Das ist ein Grab, Ines", sagte er
jetzt, "oder, wenn du lieber willst, ein Garten der Vergangenheit."
Aber sie sah ihn heftig an. "Ich weiß das besser, Rudolf! Das ist der
Ort, wo du bei ihr bist; dort auf dem weißen Steige wandelt ihr zusammen;
denn sie ist nicht tot; noch eben, jetzt in dieser Stunde warst du bei ihr
und hast mich, dein Weib, bei ihr verklagt. Das ist Untreue, Rudolf, mit
einem Schatten brichst du mir die Ehe!"
Er legte schweigend den Arm um ihren Leib und führte sie, halb mit Gewalt,
vom Fenster fort. Dann nahm er die Lampe von dem Schreibtisch und hielt
sie hoch gegen das Bild empor. "Ines, wirf nur einen Blick auf sie!"
Und als die unschuldigen Augen der Toten auf sie herabblickten, brach sie
in einen Strom von Tränen aus. "Oh, Rudolf, ich fühle es, ich werde
schlecht!"
"Weine nicht so", sagte er. "Auch ich habe unrecht getan; aber habe auch
du Geduld mit mir!"--Er zog ein Schubfach seines Schreibtisches auf und
legte einen Schlüssel in ihre Hand. Öffne du den Garten wieder, Ines!
--Gewiß, es macht mich glücklich, wenn dein Fuß der erste ist, der wieder
ihn betritt. Vielleicht, daß im Geiste sie dir dort begegnet und mit
ihren milden Augen dich so lange ansieht, bis du schwesterlich den Arm um
ihren Nacken legst!"
Sie sah unbeweglich auf den Schlüssel, der noch immer in ihrer offenen
Hand lag.
"Nun, Ines, willst du nicht annehmen, was ich dir gegeben habe?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Noch nicht, Rudolf, ich kann noch nicht, später--später; dann wollen wir
zusammen hineingehen." Und indem ihre schönen dunkeln Augen bittend zu ihm
aufblickten, legte sie still den Schlüssel auf den Tisch.

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Ein Samenkorn war in den Boden gefallen, aber die Zeit des Keimens lag
noch fern.
Es war im November.--Ines konnte endlich nicht mehr daran zweifeln, daß
auch sie Mutter werden solle, Mutter eines eigenen Kindes. Aber zu dem
Entzücken, das sie bei dem Bewußtsein überkam, gesellte sich bald ein
anderes. Wie ein unheimliches Dunkel lag es auf ihr, aus dem allmählich
sich ein Gedanke gleich einer bösen Schlange emporwand. Sie suchte ihn zu
verscheuchen, sie flüchtete sich vor ihm zu allen guten Geistern ihres
Hauses, aber er verfolgte sie, er kam immer wieder und immer mächtiger.
War sie nicht nur von außen wie eine Fremde in dies Haus getreten, das
schon ohne sie ein fertiges Leben in sich schloß?--Und eine zweite
Ehe--gab es denn überhaupt eine solche? Mußte die erste, die einzige,
nicht bis zum Tode beider fortdauern?--Nicht nur bis zum Tode! Auch
weiter--weiter bis in alle Ewigkeit! Und wenn das?--Die heiße Glut schlug
ihr ins Gesicht; sich selbst zerfleischend, griff sie nach den härtesten
Worten.--Ihr Kind--ein Eindringling, ein Bastard würde es im eigenen
Vaterhause sein!
Wie vernichtet ging sie umher; ihr junges Glück und Leid trug sie allein;
und wenn der, welcher den nächsten Anspruch hatte, es mit ihr zu teilen,
sie besorgt und fragend anblickte, so schlossen sich ihre Lippen wie in
Todesangst.--In dem gemeinschaftlichen Schlafgemache waren die schweren
Fenstervorhänge heruntergelassen, nur durch eine schmale Lücke zwischen
denselben stahl sich ein Streifen Mondlicht herein. Unter quälenden
Gedanken war Ines eingeschlafen, nun kam der Traum; da wußte sie es: sie
konnte nicht bleiben, sie mußte fort aus diesem Hause, nur ein kleines
Bündelchen wollte sie mitnehmen, dann fort, weit weg--zu ihrer Mutter, auf
Nimmerwiederkehr! Aus dem Garten, hinter den Fichten, welche die Rückwand
desselben bildeten, führte ein Pförtchen in das Freie; den Schlüssel hatte
sie in ihrer Tasche, sie wollte fort--gleich.-Der Mond rückte weiter, von
der Bettstatt auf das Kissen, und jetzt lag ihr schönes Antlitz voll
beleuchtet in seinem blassen Schein.--Da richtete sie sich auf.
Geräuschlos entstieg sie dem Bett und trat mit nackten Füßen in ihre davor
stehenden Schuhe. Nun stand sie mitten im Zimmer in ihrem weißen
Schlafgewand; ihr dunkles Haar hing, wie sie es nachts zu ordnen pflegte,
in zwei langen Flechten über ihre Brust. Aber ihre sonst so elastische
Gestalt schien wie zusammengesunken; es war, als liege noch die Last des
Schlafes auf ihr. Tastend, mit vorgestreckten Händen, glitt sie durch das
Zimmer, aber sie nahm nichts mit, kein Bündelchen, keinen Schlüssel. Als
sie mit den Fingern über die auf einem Stuhl liegenden Kleider ihres
Mannes streifte, zögerte sie einen Augenblick, als gewinne eine andere
Vorstellung in ihr Raum; gleich darauf aber schritt sie leise und
feierlich zur Stubentür hinaus und weiter die Treppe hinab. Dann klang
unten im Flur das Schloß der Hoftür, kalte Luft blies sie an, der
Nachtwind hob die schweren Flechten auf ihrer Brust.--Wie sie durch den
finstern Wald gekommen, der hinter ihr lag, das wußte sie nicht; aber
jetzt hörte sie es überall aus dem Dickicht hervorbrechen; die Verfolger
waren hinter ihr. Vor ihr erhob sich ein großes Tor; mit aller Macht
ihrer kleinen Hände stieß sie den einen Flügel auf; eine öde, unabsehbare
Heide dehnte sich vor ihr aus, und plötzlich wimmelte es von großen
schwarzen Hunden, die in emsigem Laufe gegen sie daherrannten; sie sah die
roten Zungen aus ihren dampfenden Rachen hängen, sie hörte ihr Gebell
immer näher--tönender-Da öffneten sich ihre halbgeschlossenen Augen, und
allmählich begann sie es zu fassen. Sie erkannte, daß sie eben innerhalb
des großen Gartens stehe; ihre eine Hand hielt noch die Klinke der
eisernen Gittertür. Der Wind spielte mit ihrem leichten Nachtgewande; von
den Linden, welche zur Seite des Einganges standen, wirbelte ein Schauer
von gelben Blättern auf sie herab.--Doch--was war das?--Drüben aus den
Tannen, ganz wie sie es vorhin zu hören glaubte, erscholl auch jetzt das
Bellen eines Hundes, sie hörte deutlich etwas durch die dürren Zweige
brechen. Eine Todesangst überfiel sie.--Und wieder erscholl das Gebell.
"Nero", sagte sie; "es ist Nero."
Aber sie hatte sich mit dem schwarzen Hüter des Hauses nie befreundet, und
unwillkürlich lief ihr das wirkliche Tier mit den grimmigen Hunden des
Traumes in eins zusammen; und jetzt sah sie ihn von jenseits des Rasens in
großen Sprüngen auf sich zukommen. Doch er legte sich vor ihr nieder, und
jenes unverkennbare Winseln der Freude ausstoßend, leckte er ihre nackten
Füße. Zugleich kamen Schritte vom Hofe her, und einen Augenblick darauf
umfingen sie die Arme ihres Mannes; gesichert legte sie den Kopf an seine
Brust.
Vom Gebell des Hundes aufgewacht, hatte er mit jähem Schreck ihr Lager an
seiner Seite leer gesehen. Ein dunkles Wasser glitzerte plötzlich vor
seinem inneren Auge; es lag nur tausend Schritte hinter ihrem Garten an
einem Feldweg unter dichten Erlenbüschen. Wie vor einigen Tagen sah er
sich mit Ines an dem grünen Uferrande stehen; er sah sie bis in das Schilf
hinabgehen und einen Stein, den sie vorhin am Wege aufgesammelt, in die
Tiefe werfen. "Komm zurück, Ines!" hatte er gerufen, "es ist nicht sicher
dort." Aber sie war noch immer stehengeblieben, mit den schwermütigen
Augen in die Kreise starrend, welche langsam auf dem schwarzen
Wasserspiegel ausliefen. "Das ist wohl unergründlich?" hatte sie gefragt,
da er sie endlich in seinen Armen forgerissen.
Das alles war in wilder Flucht durch seinen Kopf gegangen, als er die
Treppe nach dem Hofe hinabgestürmt.--Auch damals waren sie durch den
Garten von ihrem Hause fortgegangen, und jetzt traf er sie hier, fast
unbekleidet, das schöne Haar vom Nachttau feucht, der noch immer von den
Bäumen tropfte.
Er hüllte sie in den Plaid, welchen er sich selbst vorm Hinuntergehen
übergeworfen hatte. "Ines", sagte er--das Herz schlug ihm so gewaltig,
daß er das Wort fast rauh hervorstieß--, "was ist das? Wie bist du hieher
gekommen?"
Sie schauerte in sich zusammen.
"Ich weiß nicht, Rudolf--ich wollte fort--mir träumte; oh Rudolf, es muß
etwas Furchtbares gewesen sein!"
"Dir träumte? Wirklich, dir träumte!" wiederholte er und atmete auf, wie
von einer schweren Last befreit.
Sie nickte nur und ließ sich wie ein Kind ins Haus und in das Schlafgemach
zurückführen.
Als er sie hier sanft aus seinen Armen ließ, sagte sie: "Du bist so stumm,
du zürnst gewiß?"
"Wie sollt ich zürnen, Ines! Ich hatte Angst um dich. Hast du schon
früher so geträumt?"
Sie schüttelte erst den Kopf, bald aber besann sie sich. "Doch--einmal;
nur war nichts Schreckliches dabei."
Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück, so daß das Mondlicht voll
ins Zimmer strömte.
"Ich muß dein Antlitz sehen", sagte er, indem er sie auf die Kante ihres
Bettes niederzog und sich dann selbst an ihre Seite setzte. "Willst du
mir nun erzählen, was dir damals Liebliches geträumt hat? Du brauchst
nicht laut zu sprechen; in diesem zarten Lichte trifft auch der leiseste
Ton das Ohr."
Sie hatte den Kopf an seine Brust gelegt und sah zu ihm empor.
"Wenn du es wissen willst", sagte sie nachsinnend. "Es war, glaub ich, an
meinem dreizehnten Geburtstag; ich hatte mich ganz in das Kind, in den
kleinen Christus, verliebt, ich mochte meine Puppen nicht mehr ansehen."
"In den kleinen Christus, Ines?"
"Ja, Rudolf", und sie legte sich wie zur Ruhe noch fester in seinen Arm;
"meine Mutter hatte mir ein Bild geschenkt, eine Madonna mit dem Kinde; es
hing hübsch eingerahmt über meinem Arbeitstischchen in der Wohnstube."
"Ich kenne es", sagte er, "es hängt ja noch dort; deine Mutter wollte es
behalten zur Erinnerung an die kleine Ines."-"O meine liebe Mutter!"
Er zog sie fester an sich; dann sagte er: "Darf ich weiter hören, Ines?"
--"Doch! Aber ich schäme mich, Rudolf." Und dann leise und zögernd
fortfahrend: "Ich hatte an jenem Tage nur Augen für das Christkind; auch
nachmittags, als meine Gespielinnen da waren; ich schlich mich heimlich
hin und küßte das Glas vor seinem kleinen Munde--es war mir ganz, als
wenn's lebendig wäre--hätte ich es nur auch wie die Mutter auf dem Bild in
meine Arme nehmen können!"--Sie schwieg; ihre Stimme war bei den letzten
Worten zu einem flüsternden Hauch herabgesunken.
"Und dann, Ines?" fragte er. "Aber du erzählst mir so beklommen!"
--"Nein, nein, Rudolf! Aber--in der Nacht, die darauf folgte, muß ich
auch im Traume aufgestanden sein; denn am andern Morgen fanden sie mich in
meinem Bette, das Bild in beiden Armen, mit meinem Kopf auf dem
zerdrückten Glase eingeschlafen."
Eine Weile war es totenstill im Zimmer.--"Und jetzt?" fragte er
ahnungsvoll und sah ihr tief und herzlich in die Augen. "Was hat dich
heute denn von meiner Seite in die Nacht hinausgetrieben?"
"Jetzt, Rudolf?"--Er fühlte, wie ein Zittern über alle ihre Glieder lief.
Plötzlich schlang sie die Arme um seinen Hals, und mit erstickter Stimme
flüsterte sie angstvolle und verworrene Worte, deren Sinn er nicht
verstehen konnte.
"Ines, Ines!" sagte er und nahm ihr schönes kummervolles Antlitz in seine
beiden Hände.
--"O Rudolf! Laß mich sterben; aber verstoße nicht unser Kind!"
Er war vor ihr aufs Knie gesunken und küßte ihr die Hände. Nur die
Botschaft hatte er gehört und nicht die dunkeln Worte, in denen sie ihm
verkündigt wurde; von seiner Seele flogen alle Schatten fort, und
hoffnungsreich zu ihr emporschauend, sprach er leise:
"Nun muß sich alles, alles wenden!"

--------------------------

Die Zeit ging weiter, aber die dunkeln Gewalten waren noch nicht besiegt.
Nur mit Widerstreben fügte Ines die noch aus Nesis Wiegenzeit vorhandenen
Dinge der kleinen Ausrüstung ein, und manche Träne fiel in die kleinen
Mützen und Jäckchen, an welchen sie jetzt stumm und eifrig nähte.--Auch
Nesi war es nicht entgangen, daß etwas Ungewöhnliches sich vorbereite. Im
Oberhause, nach dem großen Garten hinaus, stand plötzlich eine Stube fest
verschlossen, in der sonst ihre Spielsachen aufbewahrt gewesen waren; sie
hatte durchs Schlüsselloch hineingeguckt; eine Dämmerung, eine feierliche
Stille schien darin zu walten. Und als sie ihre Puppenküche, die man auf
den Korridor hinausgesetzt hatte, mit Hülfe der alten Anne auf den Haus-
boden trug, suchte sie dort vergebens nach der Wiege mit dem grünen
Taffetschirme, welche, solange sie denken konnte, hier unter dem schrägen
Dachfenster gestanden hatte. Neugierig spähte sie in alle Winkel.
"Was gehst du herum wie ein Kontrolleur?" sagte die Alte.
--"Ja, Anne, wo ist aber meine Wiege geblieben?"
Die Alte blickte sie mit schlauem Lächeln an. "Was meinst", sagte sie,
"wenn dir der Storch noch so ein Brüderchen brächte?"
Nesi sah betroffen auf; aber sie fühlte sich durch diese Anrede in ihrer
elfjährigen Würde gekränkt. "Der Storch?" sagte sie verächtlich.
"Nun freilich, Nesi."
--"Du mußt nicht so was zu mir sprechen, Anne. Das glauben die kleinen
Kinder; aber ich weiß wohl, daß es dummes Zeug ist."
"So?--Wenn du es besser weißt, Mamsell Naseweis, woher kommen denn die
Kinderchen, wenn nicht der Storch sie bringt, der es doch schon die
Tausende von Jahren her besorgt hat?"
--"Sie kommen vom lieben Gott", sagte Nesi pathetisch. "Sie sind auf
einmal da."
"Bewahr uns in Gnaden!" rief die Alte. "Was doch die Guckindiewelte
heutzutage klug sind! Aber du hast recht, Nesi; wenn du's gewiß weißt,
daß der liebe Gott den Storch vom Amte gesetzt hat--ich glaub's selber, er
wird es schon allein besorgen können.--Nun aber--wenn's denn so auf einmal
da wär, das Brüderchen--oder wolltest du lieber ein Schwesterlein?--,
würd's dich freuen, Neschen?"
Nesi stand vor der Alten, die sich auf einen Reisekoffer niedergelassen
hatte; ein Lächeln verklärte ihr ernstes Gesichtchen, dann aber schien sie
nachzusinnen.
"Nun, Neschen", forschte wieder die Alte. "Würd's dich freuen, Neschen?"
"Ja, Anne", sagte sie endlich, "ich möchte wohl eine kleine Schwester
haben, und Vater würde sich gewiß auch freuen; aber--"
"Nun, Neschen, was hast du noch zu abern?"
"Aber", wiederholte Nesi und hielt dann wieder einen Augenblick wie
grübelnd inne,--"das Kind würde ja dann doch keine Mutter haben!"
"Was?" rief die Alte ganz erschrocken und strebte mühsam von ihrem Koffer
auf, "das Kind keine Mutter! Du bist mir zu gelehrt, Nesi; komm, laß uns
hinabgehen!--Hörst du? Da schlägt's zwei! Nun mach, daß du in die Schule
kommst!"
Schon brausten die ersten Frühlingsstürme um das Haus; die Stunde nahte.
--"Wenn ich's nicht überlebte", dachte Ines, "ob er auch meiner dann
gedenken würde?"
Mit scheuen Augen ging sie an der Tür des Zimmers vorüber, welches
schweigend sie und ihr künftiges Geschick erwartete; leise trat sie auf,
als sei darinnen etwas, was sie zu wecken fürchte.
Und endlich war dem Hause ein Kind, ein zweites Töchterchen, geboren. Von
außen pochten die lichtgrünen Zweige an die Fenster; aber drinnen in dem
Zimmer lag die junge Mutter bleich und entstellt; das warme Sonnenbraun
der Wangen war verschwunden; aber in ihren Augen brannte ein Feuer, das
den Leib verzehrte. Rudolf saß an dem Bett und hielt ihre schmale Hand in
der seinen.
Jetzt wandte sie mühsam den Kopf nach der Wiege, die unter der Hut der
alten Anne an der andern Seite des Zimmers stand. "Rudolf", sagte sie
matt, "ich habe noch eine Bitte!"
--"Noch eine, Ines? Ich werde noch viel von dir zu bitten haben."
Sie sah ihn traurig an; nur eine Sekunde lang; dann flog ihr Auge hastig
wieder nach der Wiege. "Du weißt", sagte sie, immer schwerer atmend, "es
gibt kein Bild von mir! Du wolltest immer, es solle nur von einem guten
Meister gemalt werden--wir können nicht mehr warten auf die Meisterhand.
--Du könntest einen Photographen kommen lassen, Rudolf; es ist ein wenig
umständlich; aber--mein Kind, es wird mich nicht mehr kennenlernen; es muß
doch wissen, wie die Mutter ausgesehen."
"Warte noch ein wenig!" sagte er und suchte einen mutigen Ton in seine
Stimme zu legen. "Es würde dich jetzt zu sehr erregen; warte, bis deine
Wangen wieder voller werden!"
Sie strich mit beiden Händen über ihr schwarzes Haar, das lang und
glänzend auf dem Deckbette lag, indem sie einen fast wilden Blick im
Zimmer umherwarf.
"Einen Spiegel!" sagte sie, indem sie sich völlig in den Kissen
aufrichtete. "Bringt mir einen Spiegel!"
Er wollte wehren; aber schon hatte die Alte einen Handspiegel herbeigeholt
und auf das Bett gelegt. Die Kranke ergriff ihn hastig; aber als sie
hineinblickte, malte sich ein heftiges Erschrecken in ihren Zügen; sie
nahm ein Tuch und wischte an dem Glase; doch es wurde nicht anders; nur
immer fremder starrte das kranke Leidensantlitz ihr entgegen.
"Wer ist das?" schrie sie plötzlich. "Das bin ich nicht!--Oh, mein Gott!
Kein Bild, kein Schatten für mein Kind!"
Sie ließ den Spiegel fallen und schlug die mageren Hände vors Gesicht.
Da drang ein Weinen an ihr Ohr. Es war nicht ihr Kind, das ahnungslos in
seiner Wiege lag und schlief; Nesi hatte sich unbemerkt hereingeschlichen;
sie stand mitten im Zimmer und sah mit düsteren Augen auf die Stiefmutter,
während sie schluchzend in ihre Lippe biß.
Ines hatte sie bemerkt. "Du weinst, Nesi?" fragte sie.
Aber das Kind antwortete nicht.
"Warum weinst du, Nesi?" wiederholte sie heftig.
Die Züge des Kindes wurden noch finsterer. "Um meine Mutter!" brach es
fast trotzig aus dem kleinen Munde.
Die Kranke stutzte einen Augenblick; dann aber streckte sie die Arme aus
dem Bett, und als das Kind, wie unwillkürlich, sich genähert hatte, riß
sie es heftig an ihre Brust. "O Nesi, vergiß deine Mutter nicht!"
Da schlangen zwei kleine Arme sich um ihren Hals, und nur ihr verständlich,
hauchte es: "Meine liebe, süße Mama!"
--"Bin ich deine liebe Mama, Nesi?"
Nesi antwortete nicht; sie nickte nur heftig in die Kissen.
"Dann, Nesi", und in traulich seligem Flüstern sprach es die Kranke,
"vergiß auch mich nicht! Oh, ich will nicht gern vergessen werden!"
--Rudolf hatte regungslos diesen Vorgängen zugesehen, die er nicht zu
stören wagte; halb in tödlicher Angst, halb in stillem Jubel; aber die
Angst behielt die Oberhand. Ines war in ihre Kissen zurückgesunken; sie
sprach nicht mehr; sie schlief--plötzlich.
Nesi, die sich leise von dem Bett entfernt hatte, kniete vor der Wiege
ihres Schwesterchens; voll Bewunderung betrachtete sie das winzige
Händchen, das sich aus den Kissen aufreckte, und wenn das rote Gesichtlein
sich verzog und der kleine unbeholfene Menschenlaut hervorbrach, dann
leuchteten ihre Augen vor Entzücken. Rudolf, der still herangetreten war,
legte liebkosend die Hand auf ihren Kopf; sie wandte sich um und küßte die
andere Hand des Vaters; dann schaute sie wieder auf ihr Schwesterchen.-Die
Stunden rückten weiter. Draußen leuchtete der Mittagsschein, und die
Vorhänge an den Fenstern wurden fester zugezogen. Längst schon saß er
wieder an dem Bette der geliebten Frau, in dumpfer Erwartung; Gedanken und
Bilder kamen und gingen; er schaute sie nicht an, er ließ sie kommen und
gehen. Schon einmal früher war es so wie jetzt gewesen; ein unheimliches
Gefühl befiel ihn; ihm war, als lebe er zum zweiten Mal. Er sah wieder
den schwarzen Totenbaum aufsteigen und mit den düsteren Zweigen sein
ganzes Haus bedecken. Angstvoll sah er nach der Kranken; aber sie
schlummerte sanft; in ruhigen Atemzügen hob sich ihre Brust. Unter dem
Fenster, in den blühenden Syringen sang ein kleiner Vogel immerzu; er
hörte ihn nicht; er war bemüht, die trügerischen Hoffnungen
fortzuscheuchen, die ihn jetzt umspannen wollten.
Am Nachmittage kam der Arzt; er neigte sich über die Schlafende und nahm
ihre Hand, die ein warmer feuchter Hauch bedeckte. Rudolf blickte
gespannt in das Antlitz seines Freundes, dessen Züge den Ausdruck der
Überraschung annahmen.
"Schone mich nicht!" sagte er. "Laß mich alles wissen!"
Aber der Doktor drückte ihm die Hand.
--"Gerettet!"--Das einzige Wort hatte er behalten. Er hörte auf einmal
den Gesang des Vogels; das ganze Leben kam zurückgeflutet. "Gerettet!
"--Und er hatte auch sie schon verloren gegeben in die große Nacht; er
hatte geglaubt, die heftige Erschütterung des Morgens müsse sie verderben;
doch:
Es ward ihr zum Heil,
Es riß sie nach oben!
In diese Worte des Dichters faßte er all sein Glück zusammen; wie Musik
klangen sie fort und fort in seinen Ohren.--Immer noch schlief die Kranke;
immer noch saß er wartend an ihrem Bette. Nur die Nachtlampe dämmerte
jetzt in dem stillen Zimmer; draußen aus dem Garten kam statt des
Vogelsangs nun das Rauschen des Nachtwindes; manchmal wie Harfenton wehte
es auf und zog vorüber; die jungen Zweige pochten leise an die Fenster.
"Ines!" flüsterte er, "Ines!" Er konnte es nicht lassen, ihren Namen
auszusprechen.
Da schlug sie die Augen auf und ließ sie fest und lange auf ihm ruhen, als
müsse aus der Tiefe des Schlafes ihre Seele erst zu ihm hinauf gelangen.
"Du, Rudolf?" sagte sie endlich. "Und ich bin noch einmal wieder
aufgewacht!"
Er blickte sie an und konnte sich nicht ersättigen an ihrem Anblick.
"Ines", sagte er--fast demütig klang seine Stimme--, "ich sitze hier, und
stundenlang schon trage ich das Glück wie eine schwere Last auf meinem
Haupte; hilf es mir tragen, Ines!"
"Rudolf--!" Sie hatte sich mit einer kräftigen Bewegung aufgerichtet.
--"Du wirst leben, Ines!"
"Wer hat das gesagt?"
--"Dein Arzt, mein Freund; ich weiß, er hat sich nicht getäuscht."
"Leben! O mein Gott! Leben!--Für mein Kind, für dich!"--Es war, als käme
ihr plötzlich eine Erinnerung; sie schlang die Hände um den Hals ihres
Mannes und drückte sein Ohr an ihren Mund. "Und für deine--für euere,
unsre Nesi!" flüsterte sie. Dann ließ sie seinen Nacken los, und seine
beiden Hände ergreifend, sprach sie zu ihm sanft und liebevoll. "Mir ist
so leicht!" sagte sie. "Ich weiß gar nicht mehr, warum alles sonst so
schwer gewesen ist!" Und ihm zunickend: "Du sollst nur sehen, Rudolf; nun
kommt die gute Zeit! Aber--" und sie hob den Kopf und brachte ihre Augen
ganz dicht an die seinen--"ich muß teilhaben an deiner Vergangenheit, dein
ganzes Glück mußt du mir erzählen! Und, Rudolf, ihr süßes Bild soll in
dem Zimmer hängen, das uns gemeinschaftlich gehört; sie muß dabeisein,
wenn du mir erzählst!"
Er sah sie an wie ein Seliger.
"Ja, Ines; sie soll dabeisein!"
"Und Nesi! Ich erzähl ihr wieder von ihrer Mutter, was ich von dir gehört
habe;--was für ihr Alter paßt, Rudolf, nur das--"
Er konnte nur stumm noch nicken.
"Wo ist Nesi?" fragte sie dann, "ich will ihr noch einen Gutenachtkuß
geben!"
"Sie schläft, Ines", sagte er und strich sanft mit der Hand über ihre
Stirn. "Es ist ja Mitternacht!"
"Mitternacht! So mußt auch du nun schlafen! Ich aber--lache mich nicht
aus, Rudolf--, mich hungert; ich muß essen! Und dann, nachher, die Wiege
vor mein Bett; ganz nahe, Rudolf! Dann schlaf auch ich wieder; ich fühl's;
gewiß, du kannst ganz ruhig fortgehen."
Er blieb noch.
"Ich muß erst eine Freude haben!" sagte er.
"Eine Freude?"
"Ja, Ines, eine ganz neue; ich will dich essen sehen!"
--"O du!"
--Und als ihm auch das geworden, trug er mit der Wärterin die Wiege vor
das Bett.
"Und nun gute Nacht! Mir ist, als sollte ich noch einmal in unseren
Hochzeitstag hineinschlafen."
Sie aber wies glücklich lächelnd auf ihr Kind.
--Und bald war alles still. Aber nicht der schwarze Totenbaum streckte
seine Zweige über das Dach des Hauses; aus fernen goldnen Ährenfeldern
nickte sanft der rote Mohn des Schlummers. Noch eine reiche Ernte stand
bevor.

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Und es war wieder Rosenzeit.--Auf dem breiten Steige des großen Gartens
hielt ein lustiges Gefährt. Nero war augenscheinlich avanciert; denn
nicht vor einem Puppen-, sondern vor einem wirklichen Kinderwagen stand
er angeschirrt und hielt geduldig still, als Nesi an seinem mächtigen
Kopfe jetzt die letzte Schnalle zuzog. Die alte Anne beugte sich zu dem
Schirm des Wägelchens und zupfte an den Kissen, in denen das noch namen-
lose Töchterchen des Hauses mit großen offenen Augen lag; aber schon rief
Nesi: "Hü, hott, alter Nero!", und in würdevollem Schritt setzte die
kleine Karawane sich zu ihrer täglichen Spazierfahrt in Bewegung.
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