Die Leiden des jungen Werther — Band 1 - 2

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Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem
Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten
ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weißgrauen,
dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich
täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich selbst
zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen
Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich
ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die
vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir
das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in
dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein
Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes
Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt
ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein
Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit
solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein "danke!",
indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte,
ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt
entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen
davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen,
darin ihre Lotte wegfahren sollte.--"Ich bitte um Vergebung", sagte
sie, "daß ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse.
Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner
Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben,
und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir".
Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte
auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich
von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre
Handschuhe und den Fächer zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger
Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste los, das
ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich
zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam und sagte:"Louis, gib dem
Herrn Vetter eine Hand".--das tat der Knabe sehr freimütig, und ich
konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen
Rotznäschens, herzlich zu küssen.
"Vetter?" sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte," glauben Sie, daß
ich des Glücks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?"--"O", sagte sie
mit einem leichtfertigen Lächeln, "unsere Vetterschaft ist sehr
weitläufig, und es wäre mir leid, wenn Sie der schlimmste drunter sein
sollten".--Im Gehen gab sie Sophien, der ältesten Schwester nach ihr,
einem Mädchen von ungefähr elf Jahren, den Auftrag, wohl auf die
Kinder acht zu haben und den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritte
nach Hause käme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester
Sophie folgen, als wenn sie's selber wäre, das denn auch einige
ausdrücklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber, von
ungefähr sechs Jahren, sagte: "du bist's doch nicht, Lottchen, wir
haben dich doch lieber".--die zwei ältesten Knaben waren hinten auf
die Kutsche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis
vor den Wald mitzufahren, wenn sie versprächen, sich nicht zu necken
und sich recht festzuhalten.
Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt,
wechselsweise über den Anzug, vorzüglich über die Hüte ihre
Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die man erwartete, gehörig
durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder
herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen begehrten, das
denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von fünfzehn
Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn
tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich
geschickt hätte.--"nein", sagte Lotte,"es gefällt mir nicht, Sie
können's wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser".--Ich
erstaunte, als ich fragte, was es für Bücher wären, und sie mir
antwortete:--ich fand so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich
sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren
Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu
entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, daß ich sie verstand.
"Wie ich jünger war", sagte sie, "liebte ich nichts so sehr als Romane.
Weiß Gott, wie wohl mir's war, wenn ich mich Sonntags in so ein
Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer
Miß Jonny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, daß die Art noch
einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme,
so muß es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist
mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht
wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und
herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein
Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit
ist".
Ich bemühte mich, meine Bewegungen über diese Worte zu verbergen. Das
ging freilich nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit im
Vorbeigehen vom Landpriester von Wakefield, vom--reden hörte, kam ich
ganz außer mich, sagte ihr alles, was ich mußte, und bemerkte erst
nach einiger Zeit, da Lotte das Gespräch an die anderen wendete, daß
diese die Zeit über mit offenen Augen, als säßen sie nicht da,
dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal mit einem
spöttischen Näschen an, daran mir aber nichts gelegen war.
Das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze.--"wenn diese Leidenschaft
ein Fehler ist,"sagte Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir
nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf
meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles
wieder gut".
Wie ich mich unter dem Gespäche in den schwarzen Augen weidete--wie
die lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze
Seele anzogen--wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz
versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich
ausdrückte--davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz,
ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause
stille hielten, und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt
verloren, daß ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem
erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.
Die zwei Herren Audran und ein gewisser N. N.--wer behält alle die
Namen--, die der Base und Lottens Tänzer waren, empfingen uns am
Schlage, bemächtigten sich ihrer Frauenzimmer, und ich führte das
meinige hinauf.
Wir schlangen uns in Menuetts um einander herum; ich forderte ein
Frauenzimmer nach dem andern auf, und just die unleidlichsten konnten
nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen und ein Ende zu machen.
Lotte und ihr Tänzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir's
war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du
fühlen. Tanzen muß man sie sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem
Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so
sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn
sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und in dem Augenblicke gewiß
schwindet alles andere vor ihr.
Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sagte mit den dritten zu,
und mit der liebenswürdigsten Freimütigkeit von der Welt versicherte
sie mir, daß sie herzlich gern deutsch tanze.--"Es ist hier so Mode,
"fuhr sie fort," daß jedes Paar, das zusammen gehört, beim Deutschen
zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt schlecht und dankt mir's, wenn
ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann's auch nicht und
mag nicht, und ich habe im Englischen gesehen, daß Sie gut walzen;
wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche, so gehen Sie und bitten
sich's von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen".--ich
gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, daß ihr Tänzer
inzwischen meine Tänzerin unterhalten sollte.
Nun ging's an, und wir ergetzten uns eine Weile an manigfaltigen
Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit
bewegte sie sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen und wie die
Sphären um einander herumrollten, ging's freilich anfangs, weil's die
wenigsten können, ein bißchen bunt durcheinander. Wir waren klug und
ließen sie austoben, und als die Ungeschicktesten den Plan geräumt
hatten, fielen wir ein und hielten mit noch einem Paare, mit Audran
und seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist mir's so leicht vom Flecke
gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in
den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles
rings umher verging, und--Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber
doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich
Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit mir,
und wenn ich drüber zugrunde gehen müßte. Du verstehst mich!
Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verschnaufen. Dann
setzte sie sich, und die Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die
nun die einzigen noch übrigen waren, taten vortreffliche Wirkung, nur
daß mir mit jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin
ehrenhalben zuteilte, ein Stich durchs Herz ging.
Beim dritten englischen Tanz waren wir das zweite Paar. Wie wir die
Reihe durchtanzten und ich, weiß Gott mit wieviel Wonne, an ihrem Arm
und Auge hing, das voll vom wahrsten Ausdruck des offensten, reinsten
Vergnügens war, kommen wir an eine Frau, die mit wegen ihrer
liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr ganz jungen Gesichte
merkwürdig gewesen war. Sie sieht Lotten lächelnd an, hebt einen
drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im
Vorbeifliegen mit viel Bedeutung.
"Wer ist Albert?" sagte ich zu Lotten, "wenn's nicht Vermessenheit
ist zu fragen".--Sie war im Begriff zu antworten, als wir uns scheiden
mußten, um die große Achte zu machen, und mich dünkte einiges
Nachdenken auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so vor einander
vorbeikreuzten.--"Was soll ich's Ihnen leugnen," sagte sie, indem sie
mir die Hand zur Promenade bot. "Albert ist ein braver Mensch, dem
ich so gut als verlobt bin".--nun war mir das nichts Neues (denn die
Mädchen hatten mir's auf dem Wege gesagt) und war mir doch so ganz neu,
weil ich es noch nicht im Verhältnis auf sie, die mir in so wenig
Augenblicken so wert geworden war, gedacht hatte. Genug, ich
verwirrte mich, vergaß mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein,
daß alles drunter und drüber ging und Lottens ganze Gegenwart und
Zerren und Ziehen nötig war, um es schnell wieder in Ordnung zu
bringen.
Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir schon lange
am Horizonte leuchten gesehn und die ich immer für Wetterkühlen
ausgegeben hatte, viel stärker zu werden anfingen und der Donner die
Musik überstimmte. Drei Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre
Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein, und die Musik hörte auf.
Es ist natürlich, wenn uns ein Unglück oder etwas Schreckliches im
Vergnügen überrascht, daß es stärkere Eindrücke auf uns macht als
sonst, teils wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft empfinden läßt,
teils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal der Fühlbarkeit
geöffnet sind und also desto schneller einen Eindruck annehmen.
Diesen Ursachen muß ich die wunderbaren Grimassen zuschreiben, in die
ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in
eine Ecke, mit dem Rücken gegen vor ihr nieder und verbarg den Kopf in
der erster Schoß. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein und
umfaßte ihre Schwesterchen mit tausend Tränen. Einige wollten nach
Hause; andere, die noch weniger wußten, was sie taten, hatten nicht so
viel Besinnungskraft, den Keckheiten unserer jungen Schlucker zu
steuern, die sehr beschäftigt zu sein schienen, alle die ängstlichen
Gebete, die dem Himmel bestimmt waren, von den Lippen der schönen
Bedrängten wegzufangen. Einige unserer Herren hatten sich
hinabbegeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen; und die übrige
Gesellschaft schlug es nicht aus, als die Wirtin auf den klugen
Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das Läden und Vorhänge hätte.
Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beschäftigt war, einen Kreis
von Stühlen zu stellen und, als sich die Gesellschaft auf ihre Bitte
gesetzt hatte, den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
Ich sah manchen, der in Hoffnung auf ein saftiges Pfand sein Mäulchen
spitzte und seine Glieder reckte.--"Wir spielen Zählens!" sagte sie.
"Nun gebt acht! Ich geh' im Kreise herum von der Rechten zur Linken,
und so zählt ihr auch rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt,
und das muß gehen wie ein Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt,
kriegt eine Ohrfeige, und so bis tausend".--nun war das lustig
anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem Arm im Kreise herum. "Eins",
fing der erste an, der Nachbar "zwei", "drei" der folgende, und so
fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer geschwinder; da
versah's einer: Patsch! Eine Ohrfeige, und über das Gelächter der
folgende auch: Patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst kriegte
zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken, daß
sie stärker seien, als sie den übrigen zuzumessen pflegte. Ein
allgemeines Gelächter und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das
Tausend ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite,
das Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal.
Unterwegs sagte sie:"über die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles
vergessen!"--ich konnte ihr nichts antworten.--"ich war", fuhr sie
fort, "eine der Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um
den andern Mut zu geben, bin ich mutig geworden".--Wir traten ans
Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte
auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle
einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt,
ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich
sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte:
"Klopstock!"--Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr
in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie
in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug's nicht, neigte mich
auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah
nach ihrem Auge wieder--Edler! Hättest du deine Vergötterung in
diesem Blicke gesehen, und möcht' ich nun deinen so oft entweihten
Namen nie wieder nennen hören!

Am 19. Junius
Wo ich neulich mit meiner Erzählung geblieben bin, weiß ich nicht mehr;
das weiß ich, daß es zwei Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam,
und daß, wenn ich dir hätte vorschwatzen können, statt zu schreiben,
ich dich vielleicht bis an den Morgen aufgehalten hätte.
Was auf unserer Hereinfahrt vom Balle geschehen ist, habe ich noch
nicht erzählt, habe auch heute keinen Tag dazu.
Es war der herrlichste Sonnenaufgang. Der tröpfelnde Wald und das
erfrischte Feld umher! Unsere Gesellschafterinnen nickten ein. Sie
fragte mich, ob ich nicht auch von der Partie sein wollte; ihretwegen
sollt' ich unbekümmert sein.--"So lange ich diese Augen offen sehe",
sagte ich und sah sie fest an,"so lange hat's keine Gefahr".--Und wir
haben beide ausgehalten bis an ihr Tor, da ihr die Magd leise
aufmachte und auf ihr Fragen versicherte, daß Vater und Kleine wohl
seien und alle noch schliefen. Da verließ ich sie mit der Bitte, sie
selbigen Tags noch sehen zu dürfen; sie gestand mir's zu, und ich bin
gekommen--und seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre
Wirtschaft treiben, ich weiß weder daß Tag noch daß Nacht ist, und die
ganze Welt verliert sich um mich her.

Am 21. Junius
Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen ausspart;
und mit mir mag werden was will, so darf ich nicht sagen, daß ich die
Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe.--du
kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig etabliert, von da habe ich
nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl' ich mich selbst und alles
Glück, das dem Menschen gegeben ist.
Hätt' ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge
wählte, daß es so nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus,
das nun alle meine Wünsche einschließt, auf meinen weiten Wanderungen,
bald vom Berge, bald von der Ebne über den Fluß gesehn!
Lieber Wilhelm, ich habe allerlei nachgedacht, über die Begier im
Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen,
herumzuschweifen; und dann wieder über den inneren Trieb, sich der
Einschränkung willig zu ergeben, in dem Gleise der Gewohnheit so
hinzufahren und sich weder um Rechts noch um Links zu bekümmern.
Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom Hügel in das schöne Tal
schaute, wie es mich rings umher anzog.--dort das Wäldchen!--ach
könntest du dich in seine Schatten mischen!--dort die Spitze des
Berges!--ach könntest du von da die weite Gegend überschauen!--die in
einander geketteten Hügel und vertraulichen Täler!--o könnte ich mich
in ihnen verlieren!--ich eilte hin, und kehrte zurück, und hatte nicht
gefunden, was ich hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft!
Ein großes dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung
verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach! Unser
ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen, großen,
herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen.--und ach! Wenn wir hinzueilen,
wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen
in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele
lechzt nach entschlüpftem Labsale.
So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem
Vaterlande und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in
dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die
Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.
Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem
Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pflücke,
mich hinsetze, sie abfädne und dazwischen in meinem Homer lese; wenn
ich in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir Butter aussteche,
Schoten ans Feuer stelle, zudecke und mich dazusetze, sie manchmal
umzuschütteln: da fühl' ich so lebhaft, wie die übermütigen Freier der
Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist
nichts, das mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausfüllte als
die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sei Dank, ohne
Affektation in meine Lebensart verweben kann.
Wie wohl ist mir's, daß mein Herz die simple, harmlose Wonne des
Menschen fühlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das
er selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein, sondern all die
guten Tage, den schönen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen
Abende, da er ihn begoß, und da er an dem fortschreitenden Wachstum
seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke wieder mitgenießt.

Am 29. Junius
Vorgestern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmann und
fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir
herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie ich sie kitzelte und ein
großes Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr
dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten
legt und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der
Würde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Ich
ließ mich aber in nichts stören, ließ ihn sehr vernünftige Sachen
abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie
zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und
beklagte, des Amtmanns Kinder wären so schon ungezogen genug, der
Werther verderbe sie nun völlig.
Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der
Erde. Wenn ich ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller
Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden;
wenn ich in dem Eigensinne künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des
Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit, über die
Gefahren der Welt hinzuschlüpfen, erblicke, alles so unverdorben, so
ganz!--immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers
der Menschen:"wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen!" und nun,
mein Bester, sie, die unseresgleichen sind, die wir als unsere Muster
ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. Sie sollen keinen
Willen haben!--haben wir denn keinen? Und wo liegt das
Vorrecht?--weil wir älter sind und gescheiter!--guter Gott von deinem
Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und
an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange
verkündigt. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht--das ist auch
was Altes!--und bilden ihre Kinder nach sich und--Adieu, Wilhelm! Ich
mag darüber nicht weiter radotieren.

Am 1. Julius
Was Lotte einem Kranken sein muß, fühl' ich an meinem eigenen Herzen,
das übler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet.
Sie wird einige Tage in der Stadt bei einer rechtschaffnen Frau
zubringen, die sich nach der Aussage der Ärzte ihrem Ende naht und in
diesen letzten Augenblicken Lotten um sich haben will. Ich war vorige
Woche mir ihr, den Pfarrer von St. zu besuchen; ein Örtchen, das eine
Stunde seitwärts im Gebirge liegt. Wir kamen gegen vier dahin. Lotte
hatte ihre zweite Schwester mitgenommen. Als wir in den mit zwei
hohen Nußbäumen überschatteten Pfarrhof traten, saß der gute alte Mann
auf einer Bank vor der Haustür, und da er Lotten sah, ward er wie neu
belebt, vergaß seinen Knotenstock und wagte sich auf, ihr entgegen.
Sie lief hin zu ihm, nötigte ihn sich niederzulassen, indem sie sich
zu ihm setzte, brachte viele Grüße von ihrem Vater, herzte seinen
garstigen, schmutzigen jüngsten Buben, das Quakelchen seines Alters.
Du hättest sie sehen sollen, wie sie den Alten beschäftigte, wie sie
ihre Stimme erhob, um seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden,
wie sie ihm von jungen, robusten Leuten erzählte, die unvermutet
gestorben wären, von der Vortrefflichkeit des Karlsbades, und wie sie
seinen Entschluß lobte, künftigen Sommer hinzugehen, wie sie fand, daß
er viel besser aussähe, viel munterer sei als das letztemal, da sie
ihn gesehn.--ich hatte indes der Frau Pfarrerin meine Höflichkeiten
gemacht. Der Alte wurde ganz munter, und da ich nicht umhin konnte,
die schönen Nußbäume zu loben, die uns so lieblich beschatteten, fing
er an, uns, wiewohl mit einiger Beschwerlichkeit, die Geschichte davon
zu geben.--"den alten", sagte er,"wissen wir nicht, wer den gepflanzt
hat; einige sagen dieser, andere jener Pfarrer. Der jüngere aber dort
hinten ist so alt als meine Frau, im Oktober funfzig Jahr. Ihr Vater
pflanzte ihn des Morgens, als sie gegen Abend geboren wurde. Er war
mein Vorfahr im Amt, und wie lieb ihm der Baum war, ist nicht zu sagen;
mir ist er's gewiß nicht weniger. Meine Frau saß darunter auf einem
Balken und strickte, da ich vor siebenundzwanzig Jahren als ein armer
Student zum erstenmale hier in den Hof kam".--Lotte fragte nach seiner
Tochter; es hieß, sie sei mit Herrn Schmidt auf die Wiese hinaus zu
den Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzählung fort: wie sein
Vorfahr ihn liebgewonnen und die Tochter dazu, und wie er erst sein
Vikar und dann sein Nachfolger geworden. Die Geschichte war nicht
lange zu Ende, als die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn
Schmidt durch den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit
herzlicher Wärme, und ich muß sagen, sie gefiel mir nicht übel; eine
rasche, wohlgewachsene Brünette, die einen die kurze Zeit über auf dem
Lande wohl unterhalten hätte. Ihr Liebhaber (denn als solchen stellte
sich Herr Schmidt gleich dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der
sich nicht in unsere Gespräche mischen wollte, ob ihn gleich Lotte
immer hereinzog. Was mich am meisten betrübte, war, daß ich an seinen
Gesichtszügen zu bemerken schien, es sei mehr Eigensinn und übler
Humor als Eingeschränktheit des Verstandes, der ihn sich mitzuteilen
hinderte. In der Folge ward dies leider nur zu deutlich; denn als
Friederike beim Spazierengehen mit Lotten und gelegentlich auch mit
mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies einer bräunlichen
Farbe war, so sichtlich verdunkelt, daß es Zeit war, daß Lotte mich
beim Ärmel zupfte und mir zu verstehn gab, daß ich mit Friederiken zu
artig getan. Nun verdrießt mich nichts mehr, als wenn die Menschen
einander plagen, am meisten, wenn junge Leute in der Blüte des Lebens,
da sie am offensten für alle Freuden sein könnten, einander die paar
guten Tage mit Fratzen verderben und nur erst zu spät das
Unersetzliche ihrer Verschwendung einsehen. Mich wurmte das, und ich
konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zurückkehrten
und an einem Tische Milch aßen und das Gespräch auf Freude und Leid
der Welt sich wendete, den Faden zu ergreifen und recht herzlich gegen
die üble Laune zu reden.--"wir Menschen beklagen uns oft", fing ich an,
"daß der guten Tage so wenig sind und der schlimmen so viel, und, wie
mich dünkt, meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz hätten,
das Gute zu genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden
alsdann auch Kraft genug haben, das Übel zu tragen, wenn es kommt".
--"Wir haben aber unser Gemüt nicht in unserer Gewalt", versetzte die
Pfarrerin, "wie viel hängt vom Körper ab! Wenn einem nicht wohl ist,
ist's einem überall nicht recht".--Ich gestand ihr das ein.--"Wir
wollen es also", fuhr ich fort,"als eine Krankheit ansehen und fragen,
ob dafür kein Mittel ist?"--"Das läßt sich hören", sagte Lotte, "ich
glaube wenigstens, daß viel von uns abhängt. Ich weiß es an mir.
Wenn mich etwas neckt und mich verdrießlich machen will, spring' ich
auf und sing' ein paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich ist's
weg".--"das war's, was ich sagen wollte,"versetzte ich,"es ist mit der
üblen Laune völlig wie mit der Trägheit, denn es ist eine Art von
Trägheit. Unsere Natur hängt sehr dahin, und doch, wenn wir nur
einmal die Kraft haben, uns zu ermannen, geht uns die Arbeit frisch
von der Hand, und wir finden in der Tätigkeit ein wahres Vergnügen".
--Friederike war sehr aufmerksam, und der junge Mensch wandte mir ein,
daß man nicht Herr über sich selbst sei und am wenigsten über seine
Empfindungen gebieten könne.--"es ist hier die Frage von einer
unangenehmen Empfindung", versetzte ich, "die doch jedermann gerne los
ist; und niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie
versucht hat. Gewiß, wer krank ist, wird bei allen Ärzten herumfragen,
und die größten Resignationen, die bittersten Arzeneien wird er nicht
abweisen, um seine gewünschte Gesundheit zu erhalten".--ich bemerkte,
daß der ehrliche Alte sein Gehör anstrengte, um an unserm Diskurse
teilzunehmen, ich erhob die Stimme, indem ich die Rede gegen ihn
wandte". Man predigt gegen so viele Laster", sagte ich, "ich habe
noch nie gehört, daß man gegen die üble Laune vom Predigtstuhle
gearbeitet hätte.--"Das müßten die Stadtpfarrer tun", sagte er, "die
Bauern haben keinen bösen Humor; doch könnte es auch zuweilen nicht
schaden, es wäre eine Lektion für seine Frau wenigstens und für den
Herrn Amtmann".--Die Gesellschaft lachte, und er herzlich mit, bis er
in einen Husten verfiel, der unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach;
darauf denn der junge Mensch wieder das Wort nahm: "Sie nannten den
bösen Humor ein Laster; mich deucht, das ist übertrieben".--"Mit
nichten", gab ich zur Antwort, "wenn das, womit man sich selbst und
seinem Nächsten schadet, diesen Namen verdient. Ist es nicht genug,
daß wir einander nicht glücklich machen können, müssen wir auch noch
einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz sich noch manchmal
selbst gewähren kann? Und nennen Sie mir den Menschen, der übler
Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu tragen,
ohne die Freude um sich her zu zerstören! Oder ist sie nicht vielmehr
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  • Die Leiden des jungen Werther — Band 1 - 4
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