Die Leiden des jungen Werther — Band 1 - 4

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Beispiele, die du gibst, scheinen hieher gar nicht zu gehören".--"Es
mag sein", sagte ich, "man hat mir schon öfters vorgeworfen, daß meine
Kombinationsart manchmal an Radotage grenze. Laßt uns denn sehen, ob
wir uns auf eine andere Weise vorstellen können, wie dem Menschen zu
Mute sein mag, der sich entschließt, die sonst angenehme Bürde des
Lebens abzuwerfen. Denn nur insofern wir mitempfinden, haben wir die
Ehre, von einer Sache zu reden".
"Die menschliche Natur", fuhr ich fort, "hat ihre Grenzen: sie kann
Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht
zugrunde, sobald der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage,
ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maß seines Leidens
ausdauern kann, es mag nun moralisch oder körperlich sein. Und ich
finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das
Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an
einem bösartigen Fieber stirbt".
"Paradox! Sehr paradox!" rief Albert aus.--"Nicht so sehr, als du
denkst", versetzte ich. "Du gibst mir zu, wir nennen das eine
Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, daß teils
ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, daß sie
sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution den
gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist.
Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geist anwenden. Sich den
Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken,
Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft
ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet.
Vergebens, daß der gelassene, vernünftige Mensch den Zustand
Unglücklichen übersieht, vergebens, daß er ihm zuredet! Ebenso wie
ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm von seinen Kräften
nicht das geringste einflößen kann".
Alberten war das zu allgemein gesprochen. Ich erinnerte ihn an ein
Mädchen, das man vor weniger Zeit im Wasser tot gefunden, und
wiederholte ihm ihre Geschichte.--"Ein gutes, junges Geschöpf, das in
dem engen Kreise häuslicher Beschäftigungen, wöchentlicher bestimmter
Arbeit herangewachsen war, das weiter keine Aussicht von Vergnügen
kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach zusammengeschafften
Putz mit ihresgleichen um die Stadt spazierenzugehen, vielleicht alle
hohen Feste einmal zu tanzen und übrigens mit aller Lebhaftigkeit des
herzlichsten Anteils manche Stunde über den Anlaß eines Gezänkes,
einer übeln Nachrede mit einer Nachbarin zu verplaudern--deren feurige
Natur fühlt nun endlich innigere Bedürfnisse, die durch die
Schmeicheleien der Männer vermehrt werden; ihre vorigen Freuden werden
ihr nach und nach unschmackhaft, bis sie endlich einen Menschen
antrifft, zu dem ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt,
auf den sie nun alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich
vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen,
sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leeren Vergnügungen
einer unbeständigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen
gerade nach dem Zweck, sie will die Seinige werden, sie will in ewiger
Verbindung all das Glück antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung
aller Freuden genießen, nach denen sie sich sehnte. Wiederholtes
Versprechen, das ihr die Gewißheit aller Hoffnungen versiegelt, kühne
Liebkosungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele;
sie schwebt in einem dumpfen Bewußtsein, in einem Vorgefühl aller
Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad gespannt, sie streckt
endlich ihre Arme aus, all ihre Wünsche zu umfassen--und ihr Geliebter
verläßt sie.--Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde; alles
ist Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost, keine Ahnung!
Denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein fühlte. Sie
sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die vielen, die
ihr de Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen von
aller Welt,--und blind, in die Enge gepreßt von der entsetzlichen Not
ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden
Tode alle ihre Qualen zu ersticken.--Sieh, Albert, das ist die
Geschichte so manches Menschen! Und sag', ist das nicht der Fall der
Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der
verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben.
Wehe dem, der zusehen und sagen könnte: 'die Törin! Hätte sie
gewartet, hätte sie die Zeit wirken lassen, die Verzweifelung würde
sich schon gelegt, es würde sich schon ein anderer sie zu trösten
vorgefunden haben.'--Das ist eben, als wenn einer sagte: 'der Tor,
stirbt am Fieber! Hätte er gewartet, bis seine Kräfte sich erholt,
seine Säfte sich verbessert, der Tumult seines Blutes sich gelegt
hätten: alles wäre gut gegangen, und er lebte bis auf den heutigen Tag!
'"
Albert, dem die Vergleichung noch nicht anschaulich war, wandte noch
einiges ein, und unter andern: ich hätte nur von einem einfältigen
Mädchen gesprochen; wie aber ein Mensch von Verstande, der nicht so
eingeschränkt sei, der mehr Verhältnisse übersehe, zu entschuldigen
sein möchte, könne er nicht begreifen.--"Mein Freund", rief ich aus,
"der Mensch ist Mensch, und das bißchen Verstand, das einer haben mag,
kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wütet und die
Grenzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr--ein andermal davon",
sagte ich und griff nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll--und
wir gingen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn
auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.

Am 15. August
Es ist doch gewiß, daß in der Welt den Menschen nichts notwendig macht
als die Liebe. Ich fühl's an Lotten, daß sie mich ungern verlöre, und
die Kinder haben keinen andern Begriff, als daß ich immer morgen
wiederkommen würde. Heute war ich hinausgegangen, Lottens Klavier zu
stimmen, ich konnte aber nicht dazu kommen, denn die Kleinen
verfolgten mich um ein Märchen, und Lotte sagte selbst, ich sollte
ihnen den Willen tun. Ich schnitt ihnen das Abendbrot, das sie nun
fast so gern von mir als von Lotten annehmen, und erzählte ihnen das
Hauptstückchen von der Prinzessin, die von Händen bedient wird. Ich
lerne viel dabei, das versichre ich dich, und ich bin erstaunt, was es
auf sie für Eindrücke macht. Weil ich manchmal einen Inzidentpunkt
erfinden muß, den ich beim zweitenmal vergesse, sagen sie gleich, das
vorigemal wär' es anders gewesen, so daß ich mich jetzt übe, sie
unveränderlich in einem singenden Silbenfall an einem Schnürchen weg
zu rezitieren. Ich habe daraus gelernt, wie ein Autor durch eine
zweite, veränderte Ausgabe seiner Geschichte, und wenn sie poetisch
noch so besser geworden wäre, notwendig seinem Buche schaden muß. Der
erste Eindruck findet uns willig, und der Mensch ist gemacht, daß man
ihn das Abenteuerlichste überreden kann; das haftet aber auch gleich
so fest, und wehe dem, der es wieder auskratzen und austilgen will!

Am 18. August
Mußte denn das so sein, daß das, was des Menschen Glückseligkeit macht,
wieder die Quelle seines Elendes würde?
Das volle, warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur, das
mich mit so vieler Wonne überströmte, das rings umher die Welt mir zu
einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unerträglichen Peiniger,
zu einem quälenden Geist, der mich auf allen Wegen verfolgt. Wenn
ich sonst vom Felsen über den Fluß bis zu jenen Hügeln das fruchtbare
Tal überschaute und alles um mich her keimen und quellen sah; wenn ich
jene Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen, dichten Bäumen
bekleidet, jene Täler in ihren mannigfaltigen Krümmungen von den
lieblichsten Wäldern beschattet sah, und der sanfte Fluß zwischen den
lispelnden Rohren dahingleitete und die lieben Wolken abspiegelte, die
der sanfte Abendwind am Himmel herüberwiegte; wenn ich dann die Vögel
um mich den Wald beleben hörte, und die Millionen Mückenschwärme im
letzten roten Strahle der Sonne mutig tanzten, und ihr letzter
zuckender Blick den summenden Käfer aus seinem Grase befreite, und das
Schwirren und Weben um mich her mich auf den Boden aufmerksam machte,
und das Moos, das meinem harten Felsen seine Nahrung abzwingt, und das
Geniste, das den dürren Sandhügel hinunter wächst, mir das innere,
glühende, heilige Leben der Natur eröffnete: wie faßte ich das alles
in mein warmes Herz, fühlte mich in der überfließenden Fülle wie
vergöttert, und die herrlichen Gestalten der unendlichen Welt bewegten
sich allbelebend in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich,
Abgründe lagen vor mir, und Wetterbäche stürzten herunter, die Flüsse
strömten unter mir, und Wald und Gebirg erklang; und ich sah sie
wirken und schaffen ineinander in den Tiefen der Erde, alle die
unergründlichen Kräfte; und nun über der Erde und unter dem Himmel
wimmeln die Geschlechter der mannigfaltigen Geschöpfe. Ales, alles
bevölkert mit tausendfachen Gestalten; und die Menschen dann sich in
Häuslein zusammen sichern und sich annisten und herrschen in ihrem
Sinne über die weite Welt! Armer Tor! Der du alles so gering achtest,
weil du so klein bist.--vom unzugänglichen Gebirge über die Einöde,
die kein Fuß betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht der
Geist des Ewigschaffenden und freut sich jedes Staubes, der ihn
vernimmt und lebt.--ach damals, wie oft habe ich mich mit Fittichen
eines Kranichs, der über mich hin flog, zu dem Ufer des ungemessenen
Meeres gesehnt, aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene
schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick in der
eingeschränkten Kraft meines Busens einen Tropfen der Seligkeit des
Wesens zu fühlen, das alles in sich und durch sich hervorbringt.
Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden macht mir wohl. Selbst diese
Anstrengung, jene unsäglichen Gelüste zurückzurufen, wieder
auszusprechen, hebt meine Seele über sich selbst und läßt mich dann
das Bange des Zustandes doppelt empfinden, der mich jetzt umgibt.
Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der
Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den
Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! Da alles
vorübergeht? Da alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, so selten
die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach, in den Strom
fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da ist
kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her,
kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt; der
harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es
zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft
eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! Nicht die große,
seltne Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese
Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt
das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen
liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich
selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und
ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig
verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.

Am 21. August
Umsonst strecke ich meine Arme nach ihr aus, morgens, wenn ich von
schweren Träumen aufdämmere, vergebens suche ich sie nachts in meinem
Bette, wenn mich ein glücklicher, unschuldiger Traum getäuscht hat,
als säß' ich neben ihr auf der Wiese und hielt' ihre Hand und deckte
sie mit tausend Küssen. Ach, wenn ich dann noch halb im Taumel des
Schlafes nach ihr tappe und drüber mich ermuntere--ein Strom von
Tränen bricht aus meinem gepreßten Herzen, und ich weine trostlos
einer finstern Zukunft entgegen.

Am 22. August
E ist ein Unglück, Wilhelm, meine tätigen Kräfte sind zu einer
unruhigen Lässigkeit verstimmt, ich kann nicht müßig sein und kann
doch auch nichts tun. Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl
an der Natur, und die Bücher ekeln mich an. Wenn wir uns selbst
fehlen, fehlt uns doch alles. Ich schwöre dir, manchmal wünschte ich,
ein Tagelöhner zu sein, um nur des Morgens beim Erwachen eine Aussicht
auf den künftigen Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben. Oft
beneide ich Alberten, den ich über die Ohren in Akten begraben sehe,
und bilde mir ein, mir wäre wohl, wenn ich an seiner Stelle wäre!
Schon etlichemal ist mir's so aufgefahren, ich wollte dir schreiben
und dem Minister, um die Stelle bei der Gesandtschaft anzuhalten, die,
wie du versicherst, mir nicht versagt werden würde. Ich glaube es
selbst. Der Minister liebt mich seit langer Zeit, hatte lange mir
angelegen, ich sollte mich irgendeinem Geschäfte widmen; und eine
Stunde ist mir's auch wohl drum zu tun. Hernach, wenn ich wieder dran
denke und mir die Fabel vom Pferde einfällt, das, seiner Freiheit
ungeduldig, sich Sattel und Zeug auflegen läßt und zuschanden geritten
wird--ich weiß nicht, was ich soll.--und, mein Lieber! Ist nicht
vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustands eine innere,
unbehagliche Ungeduld, die mich überallhin verfolgen wird?

Am 28. August
Es ist wahr, wenn meine Krankheit zu heilen wäre, so würden diese
Menschen es tun. Heute ist mein Geburtstag, und in aller Frühe
empfange ich ein Päckchen von Alberten. Mir fällt beim Eröffnen
sogleich eine der blaßroten Schleifen in die Augen, die Lotte vor
hatte, als ich sie kennen lernte, und um die ich sie seither
etlichemal gebeten hatte. Es waren zwei Büchelchen in Duodez dabei,
der kleine Wetsteinische Homer, eine Ausgabe, nach der ich so oft
verlangt, um mich auf dem Spaziergange mit dem Ernestischen nicht zu
schleppen. Sieh! So kommen sie meinen Wünschen zuvor, so suchen sie
alle die kleinen Gefälligkeiten der Freundschaft auf, die tausendmal
werter sind als jene blendenden Geschenke, wodurch uns die Eitelkeit
des Gebers erniedrigt. Ich küsse diese Schleife tausendmal, und mit
jedem Atemzuge schlürfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit
denen mich jene wenigen, glücklichen, unwiederbringlichen Tage
überfüllten. Wilhelm, es ist so, und ich murre nicht, die Blüten des
Lebens sind nur Erscheinungen! Wie viele gehn vorüber, ohne eine Spur
hinter sich zu lassen, wie wenige setzen Frucht an, und wie wenige
dieser Früchte werden reif! Und doch sind deren noch genug da; und
doch--o mein Bruder!--können wir gereifte Früchte vernachlässigen,
verachten, ungenossen verfaulen lassen?
Lebe wohl! Es ist ein herrlicher Sommer; ich sitze oft auf den
Obstbäumen in Lottens Baumstück mit dem Obstbrecher, der langen Stange,
und hole die Birnen aus dem Gipfel. Sie steht unten und nimmt sie ab,
wenn ich sie ihr herunterlasse.

Am 30. August
Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? Betriegst du dich nicht
selbst? Was soll diese tobende, endlose Leidenschaft? Ich habe kein
Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere
Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur
im Verhältnisse mit ihr. Und das macht mir denn so manche glückliche
Stunde--bis ich mich wieder von ihr losreißen muß! Ach Wilhelm! Wozu
mich mein Herz oft drängt!--wenn ich bei ihr gesessen bin, zwei, drei
Stunden, und mich an ihrer Gestalt, an ihrem Betragen, an dem
himmlischen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe, und nun nach und nach
alle meine Sinne aufgespannt werden, mir es düster vor den Augen wird,
ich kaum noch höre, und es mich an die Gurgel faßt wie ein
Meuchelmörder, dann mein Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen
Luft zu machen sucht und ihre Verwirrung nur vermehrt--Wilhelm, ich
weiß oft nicht, ob ich auf der Welt bin! Und--wenn nicht manchmal die
Wehmut das Übergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt,
auf ihrer Hand meine Beklemmung auszuweinen,--so muß ich fort, muß
hinaus, und schweife dann weit im Felde umher; einen jähen Berg zu
klettern ist dann meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad
durchzuarbeiten, durch die Hecken, die mich verletzen, durch die
Dornen, die mich zerreißen! Da wird mir's etwas besser! Etwas! Und
wenn ich vor Müdigkeit und Durst manchmal unterwegs liegen bleibe,
manchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond über mir steht,
im einsamen Walde auf einen krumm gewachsenen Baum mich setze, um
meinen verwundeten Sohlen nur einige Linderung zu verschaffen, und
dann in einer ermattenden Ruhe in dem Dämmerschein hinschlummre! O
Wilhelm! Die einsame Wohnung einer Zelle, das härene Gewand und der
Stachelgürtel wären Labsale, nach denen meine Seele schmachtet. Adieu!
Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das Grab.

Am 3. September
Ich muß fort! Ich danke dir, Wilhelm, daß du meinen wankenden
Entschluß bestimmt hast. Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem
Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muß fort. Sie ist wieder in der
Stadt bei einer Freundin. Und Albert--und--ich muß fort!

Am 10. September
Das war eine Nacht! Wilhelm! Nun überstehe ich alles. Ich werde sie
nicht wiedersehn! O daß ich nicht an deinen Hals fliegen, dir mit
tausend Tränen und Entzückungen ausdrücken kann, mein Bester, die
Empfindungen, die mein Herz bestürmen. Hier sitze ich und schnappe
nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und mit
Sonnenaufgang sind die Pferde bestellt.
Ach, sie schläft ruhig und denkt nicht, daß sie mich nie wieder sehen
wird. Ich habe mich losgerissen, bin stark genug gewesen, in einem
Gespräch von zwei Stunden mein Vorhaben nicht zu verraten. Und Gott,
welch ein Gespräch!
Albert hatte mir versprochen, gleich nach dem Nachtessen mit Lotten im
Garten zu sein. Ich stand auf der Terrasse unter den hohen
Kastanienbäumen und sah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmale
über dem lieblichen Tale, über dem sanften Fluß unterging. So oft
hatte ich hier gestanden mit ihr und eben dem herrlichen Schauspiele
zugesehen, und nun--ich ging in der Allee auf und ab, die mir so lieb
war; ein geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier so oft gehalten,
ehe ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als wir im Anfang
unserer Bekanntschaft die wechselseitige Neigung zu diesem Plätzchen
entdeckten, das wahrhaftig eins von den romantischsten ist, die ich
von der Kunst hervorgebracht gesehen habe.
Erst hast du zwischen den Kastanienbäumen die weite Aussicht--Ach, ich
erinnere mich, ich habe dir, denk' ich, schon viel davon geschrieben,
wie hohe Buchenwände einen endlich einschließen und durch ein
daranstoßendes Boskett die Allee immer düsterer wird, bis zuletzt
alles sich in ein geschlossenes Plätzchen endigt, das alle Schauer der
Einsamkeit umschweben. Ich fühle es noch, wie heimlich mir's ward,
als ich zum erstenmale an einem hohen Mittage hineintrat; ich ahnete
ganz leise, was für ein Schauplatz das noch werden sollte von
Seligkeit und Schmerz.
Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in den schmachtenden, süßen
Gedanken des Abscheidens, des Wiedersehens geweidet, als ich sie die
Terrasse heraufsteigen hörte. Ich lief ihnen entgegen, mit einem
Schauer faßte ich ihre Hand und küßte sie. Wir waren eben
heraufgetreten, als der Mond hinter dem buschigen Hügel aufging; wir
redeten mancherlei und kamen unvermerkt dem düstern Kabinette näher.
Lotte trat hinein und setzte sich, Albert neben sie, ich auch; doch
meine Unruhe ließ mich nicht lange sitzen; ich stand auf, trat vor sie,
ging auf und ab, setzte mich wieder: es war ein ängstlicher Zustand.
Sie machte uns aufmerksam auf die schöne Wirkung des Mondenlichtes,
das am Ende der Buchenwände die ganze Terrasse vor uns erleuchtete:
ein herrlicher Anblick, der um so viel frappanter war, weil uns rings
eine tiefe Dämmerung einschloß. Wir waren still, und sie fing nach
einer Weile an: "niemals gehe ich im Mondenlichte spazieren, niemals,
daß mir nicht der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete, daß nicht
das Gefühl von Tod, von Zukunft über mich käme". "Wir werden sein!"
fuhr sie mit der Stimme des herrlichsten Gefühls fort; "aber, Werther,
sollen wir uns wieder finden? Wieder erkennen? Was ahnen Sie? Was
sagen Sie?"
"Lotte", sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen
voll Tränen wurden,"wir werden uns wiedersehn! Hier und dort
wiedersehn!"--ich konnte nicht weiter reden--Wilhelm, mußte sie mich
das fragen, da ich diesen ängstlichen Abschied im Herzen hatte!
"Und ob die lieben Abgeschiednen von uns wissen", fuhr sie fort, "ob
sie fühlen, wann's uns wohl geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer
erinnern? O! Die Gestalt meiner Mutter schwebt immer um mich, wenn
ich am stillen Abend unter ihren Kindern, unter meinen Kindern sitze
und sie um mich versammelt sind, wie sie um sie versammelt waren.
Wenn ich dann mit einer sehnenden Träne gen Himmel sehe und wünsche,
daß sie hereinschauen könnte einen Augenblick, wie ich mein Wort halte,
das ich ihr in der des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu sein.
Mit welcher Empfindung rufe ich aus: 'verzeihe mir's, Teuerste, wenn
ich ihnen nicht bin, was du ihnen warst. Ach! Tue ich doch alles,
was ich kann; sind sie doch gekleidet, genährt, ach, und, was mehr ist
als das alles, gepflegt und geliebt. Könntest du unsere Eintracht
sehen, liebe Heilige! Du würdest mit dem heißesten Danke den Gott
verherrlichen, den du mit den letzten, bittersten Tränen um die
Wohlfahrt deiner Kinder batest.'"--Sie sagte das! O Wilhelm, wer
kann wiederholen, was sie sagte! Wie kann der kalte, tote Buchstabe
diese himmlische Blüte des Geistes darstellen! Albert fiel ihr sanft
in die Rede: "es greift zu stark an, liebe Lotte! Ich weiß, Ihre
Seele hängt sehr nach diesen Ideen, aber ich bitte Sie".--"O Albert",
sagte sie, "ich weiß, du vergissest nicht die Abende, da wir
zusammensaßen an dem kleinen, runden Tischchen, wenn der Papa verreist
war, und wir die Kleinen schlafen geschickt hatten. Du hattest oft
ein gutes Buch und kannst so selten dazu, etwas zu lesen--war der
Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles? Die schöne,
sanfte, muntere und immer tätige Frau! Gott kennt meine Tränen, mit
denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er möchte mich ihr
gleich machen".
"Lotte!" rief ich aus, indem ich mich vor sie hinwarf, ihre Hand nahm
und mit tausend Tränen netzte, "Lotte! Der Segen Gottes ruht über dir
und der Geist deiner Mutter!" "Wenn Sie sie gekannt hätten", sagte
sie, indem sie mir die Hand drückte,--"sie war wert, von Ihnen gekannt
zu sein!"--ich glaubte zu vergehen.
Nie war ein größeres, stolzeres Wort über mich ausgesprochen
worden--und sie fuhr fort:"und diese Frau mußte in der Blüte ihrer
Jahre dahin, da ihr jüngster Sohn nicht sechs Monate alt war! Ihre
Krankheit dauerte nicht lange; sie war ruhig, hingegeben, nur ihre
Kinder taten ihr weh, besonders das kleine. Wie es gegen das Ende
ging und sie zu mir sagte: 'bringe mir sie herauf!' und wie ich sie
hereinführte, die kleinen, die nicht wußten, und die ältesten, die
ohne Sinne waren, wie sie ums Bette standen, und wie sie die Hände
aufhob und über sie betete, und sie küßte nach einander und sie
wegschickte und zu mir sagte: 'sei ihre Mutter!'--Ich gab ihr die Hand
drauf!--'Du versprichst viel, meine Tochter', sagte sie, 'das Herz
einer Mutter und das Aug' einer Mutter. Ich habe oft an deinen
dankbaren Tränen gesehen, daß du fühlst, was das sei. Habe es für
deine Geschwister, und für deinen Vater die Treue und den Gehorsam
einer Frau. Du wirst ihn trösten.'--Sie fragte nach ihm, er war
ausgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu verbergen, den er
fühlte, der Mann war ganz zerrissen.
Albert, du warst im Zimmer. Sie hörte jemand gehn und fragte und
forderte dich zu sich, und wie sie dich ansah und mich, mit dem
getrösteten, ruhigen Blicke, daß wir glücklich sein, zusammen
glücklich sein würden".--Albert fiel ihr um den Hals und küßte sie und
rief: "wir sind es! Wir werden es sein!"--der ruhige Albert war ganz
aus seiner Fassung, und ich wußte nichts von mir selber. "Werther",
fing sie an, "und diese Frau sollte dahin sein! Gott! Wenn ich
manchmal denke, wie man das Liebste seines Lebens wegtragen läßt, und
niemand als die Kinder das so scharf fühlt, die sich noch lange
beklagten, die schwarzen Männer hätten die Mama weggetragen! "sie
stand auf, und ich ward erweckt und erschüttert, blieb sitzen und
hielt ihre Hand.--"Wir wollen fort", sagte sie, "es wird Zeit".--Sie
wollte ihre Hand zurückziehen, und ich hielt sie fester.--"wir werden
uns wieder sehen" rief ich, "wir werden uns finden, unter allen
Gestalten werden wir uns erkennen. Ich gehe", fuhr ich fort, "ich
gehe willig, und doch, wenn ich sagen sollte auf ewig, ich würde es
nicht aushalten. Leb' wohl, Lotte! Leb' wohl, Albert! Wir sehn uns
wieder".--"Morgen, denke ich", versetzte sie scherzend.--Ich fühlte
das Morgen! Ach, sie wußte nicht, als sie ihre Hand aus der meinen
zog--Sie gingen die Allee hinaus, ich stand, sah ihnen nach im
Mondscheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus und sprang
auf und lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort unten im
Schatten der hohen Lindenbäume ihr weißes Kleid nach der Gartentür
schimmern, ich streckte meine Arme aus, und es verschwand.
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  • Die Leiden des jungen Werther — Band 1 - 1
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