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Deutscher Mondschein - 1

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  Deutscher Mondschein
  Eine Erzählung von Wilhelm Raabe (1831-1910)
  Erzählen wir ruhig und ohne alle Aufregung. Ich bin ein selbst für
  Deutschland außergewöhnlich nüchterner Mensch und verstehe es, meine
  fünf Sinne zusammenzuhalten. Außerdem bin ich Jurist, der Mann
  meiner Frau und der Vater meiner Söhne. Weder zur Zeit der
  Holunderblüte noch zur Zeit der Stockrosen, Sonnenblumen und Astern
  pflege ich mich sentimentalen oder romantischen Anwandlungen
  ausgesetzt zu fühlen. Ein Tagebuch führe ich nicht; aber sämtliche
  Jahrgänge meines Terminkalenders halten in meiner Bibliothek
  wohlgeordnet ihren Platz fest. Diese alles vorausgeschickt, teile
  ich mit, daß ich mich im Jahre 1867 auf ärztlichen Rat, der Seeluft
  und des Meerwassers wegen, auf der Insel Sylt befand und daß ich
  daselbst eine Bekanntschaft machte--eine ganz außerordentliche
  Bekanntschaft.
  Selbstverständlich kann ich mich nicht dabei aufhalten, das oft
  Empfundene und noch häufiger Geschilderte und in Briefen oder durch
  den Druck Verbreitete von neuem durch eine schriftliche Wiedergabe
  meiner eigenen Erfahrungen und Gefühle zu berichtigen oder zu
  bekräftigen. Wogenschlag, Sandhafer und Sandroggen, Möwenflug und
  vor allem der Westwind machten auf jeden, der von einer deutschen
  Beamtenexistenz den Schweiß und den Staub abzuspülen hat, einen
  angenehmen, erfrischenden Eindruck. Sie verfehlten ihre Wirkung auch
  auf mich nicht, zumal da die Anstrengungen, die der erwähnten
  Erfrischung vorangingen, nicht gering waren.
  Ich wohnte auf der Grenze der beiden Dörfer Tinnum und Westerland und
  hatte also, um zum Strande und in die heilige Salzflut zu gelangen,
  einen Weg von mindestens einer halben Stunde zurückzulegen. Ein
  nicht kürzerer Weg führte dann zu dem edlen Mann, der uns
  allmittäglich für einen soliden Preis von innen aus wieder
  auferbaute. Auf häuslichen Komfort oder gar Luxus mache ich als an
  Genügsamkeit gewöhnter deutscher Staatsdiener überhaupt keinen
  Anspruch. Da ich von meinen einundzwanzig Pfeifen sieben mit mir
  führte, würde ich mich selbst in einem Hünengrabe behaglich
  eingerichtet haben.
  Gut--ich wohnte bei einem Bäcker, der seinen Backofen mit
  Strandholz, das heißt dem in den Strandauktionen von gestrandeten
  Schiffen erstandenen Gebälk und Sparren- und Balkenwerk heizte. Ich
  half ihm dann und wann, dieses Holz zu spalten, und fühlte mich hier
  gemütlich dadurch angeregt--daheim widme ich mich dem Geschäft mehr
  aus sanitätischen Gründen.
  Daheim säge und spalte ich in meinen Mußestunden mein Brennholz, hier
  trieb ich Allotria oder studierte einige vorsichtigerweise im Gepäck
  mitgeführte Abhandlungen über die braunschweigische Erbfolge. In den
  Geschäftsstunden ging ich am Strande spazieren.
  Bei einem solchen Badeaufenthalt zieht sich alles in die Länge. Zu
  Hause wandle ich jeglichen Tag und in jedem Wetter rund um die zu
  Spaziergängen eingerichteten Wälle meiner Amststadt; auf Sylt speiste
  ich, hielt eine Stunde auf einer Düne Siesta und lief dann geradeaus
  gen Norden den Strand entlang, manchmal bis zum Roten Kliff, jedoch
  gewöhnlich nur bis zu den Badehütten von Wenningstedt.
  Da das Meer wie ein Waschweib beiderlei Geschlechts nichts bei sich
  behalten kann, sondern alles wieder auswirft, so waren diese Gänge
  nie ohne ihre Reize; denn wenn ich auch ein Mann der Prosa bin, so
  kann ich doch einen toten Seehund mit einer gewissen Melancholie vom
  Rücken auf den Bauch wenden und meine Gedanken dabei haben.
  Gut--oder diesmal vielmehr: besser! Ich befand mich ungefähr drei
  Wochen auf dieser lang von Süden nach Norden oder umgekehrt
  hingestreckten Insel, als ich die zu Anfang meiner Relation erwähnte
  Bekanntschaft machte.
  Es war gegen Abend. Die Sonne war untergegangen, und ich kam--heute
  --vom Roten Kliff zurück, und zwar nicht wenig müde, denn die Ebbe
  hatte den Weg am Strande nach besten Kräften für alle auf Sylt
  anwesenden am Unterleib leidenden Patienten gangbar gemacht. Wenn
  man zehn Schritte lang auf ziemlich festgeschlagenem Sande wandelte,
  versank man während der nächsten zweihundert Schritte desto tiefer,
  und die Gattin, Tochter, Cousine oder Geliebte meiner Leser, die über
  diesen der Gesundheit so ungemein ersprießlichen Pfad graziös
  weggeglitten wäre, würde ich in der Tat gern einem Poeten zur
  lyrischen oder epischen Verwendung empfehlen, wenn mir ein solcher
  außer dem Kreisrichter Löhnefinke unter meinen Kollegen und
  sonstigen Freunden und Feinden bekannt wäre.
  Ich sagte: die Sonne war untergegangen, und verbessere mich. Sie
  ging eben unter, als ich bei den Dünen, südlich von Wenningstedt, dem
  Riesenloch gegenüber, anlangte. Ein Blankeneser oder Cuxhavener
  Fischerboot verschwand mit ihr in den Nebeln des Meereshorizontes,
  und ein trübes Grau wurde aus dem erfreulichen und dem Auge so
  wohltätigen Grün des Wassers. Auch die gelbrote Färbung der
  Sandhügel zur Linken des gesunden, aber beschwerlichen Weges
  verschwand, und die graue Farbe gewann zur Linken wie zur Rechten die
  Oberhand. Das Dünengras fing an, in einem kühlern Winde zu lispeln;
  es war Abend geworden, und es war gegründete Aussicht vorhanden, daß
  es demnächst Nacht werde.
  Stolpernd und trotz der Abendkühle in Schweiß gebadet, beschleunigte
  ich meine Schritte der abendliche Pfeife zu, als mir das Unerwartete
  passierte und ich den Kollegen Löhnefinke kennenlernte.
  Jedermann, der den westlichen Strand der Insel Sylt kennt, weiß auch,
  wie schroff oft die Dünen gegen den sandigen Gesundheitspfad an der
  See abfallen, und an einer der schroffsten Stellen fiel mir der
  Kollege auf den Hals und setzte mich für alle Zeit meines
  Erdenwandels in Erstaunen: der geehrte Leser erlaube mir, daß ich
  mein Protokoll mit gewohnter Ruhe und ohne Aufregung weiterführe.
  Ich befand mich, wie gesagt, dem Riesenloch gegenüber, und die Sonne
  hatte vor fünf Minuten Abschied genommen, als plötzlich auf der Höhe
  der Düne zur Linken, ungefähr siebenzig Fuß über meinem Kopfe, ein
  Mensch erschien, der unbedingt im eiligsten Laufe an dem Anhange
  anlangte, die Arme gegen den Abendhimmel emporwarf, dann sich
  niederkauerte und mit einem Male zu meinem haarsträubenden Grausen,
  den schroffen, fast senkrechten Hügel herab rutschte, schurrte,
  schoß!
  Ehe der Ruf des halben Schreckens und ganzen Erstaunens, den ich
  ausstieß, verhallt war, saß der Mensch schon am Fuße der Düne im
  weichen Sande zwischen einem dorthin angespülten halbzertrümmerten
  Faß und einer zerbrochenen Schiffslaterne und sah mit weitoffenem,
  schreckensbleichem und doch zugleich zu einem offenbaren Grinsen sich
  verziehendem Munde mich, den Herbeieilenden, an und rief, schrie oder
  vielmehr heulte:
  „Er--sie--ist hinter mir! Ich bitte um Entschuldigung, mein Herr,
  aber--wer kann gegen seine Nerven...?“
  „Wer? was? wer ist hinter Ihnen?“ schrie ich, an der grauen
  Dünenwand emporstarrend, ohne etwas irgend Bedrohliches zu erblicken.
  Nichts zeigte sich, was die gewagte Rutschpartie des noch immer im
  Sande vor mir sitzenden, ziemlich wohlbeleibten und höchst anständig
  gekleideten Individuums und die grenzenlose Bestürzung desselben
  rechtfertigen konnte.
  „Wer ist hinter Ihnen? Niemand, wie mir scheint! So reden Sie doch!
  Wer jagt Sie? Was treibt Sie zu solchen Sprüngen? Ich sehe
  wahrhaftig nicht das geringste da oben!“
  „Doch, doch! Er--sie--der Mond--Luna--Selene! Nein, nein, nicht
  Luna und Selene, sondern er, der Mond, der verruchte deutsche Mond!
  Eben geht er hinter den Watten auf und wird in einigen Minuten dort
  über die Höhe hinter mir her sein! Und hier kein Dach, kein Schirm –
  nicht einmal ein Regenschirm--und der nächste Badekarren zum
  Unterschlüpfen eine Viertelstunde weit ab! Das ist mein Tod!“
  Einen Regenschirm führe ich gewöhnlich mit mir und so auch jetzt; der
  Unbekannte in seiner Verstörung hatte ihn jedoch nicht bemerkt, und
  ehe ich ihn dem Narren anbot, überlegte ich natürlicherweise.
  Es war mir klar, juristisch klar, daß ich einen Wahnsinnigen vor mir
  hatte, und schnell gefaßt überdachte ich, wie unter solchen Umständen
  von mir gegen ihn zu handeln sei. Sollte ich den Mann, da ich an
  seinen eigentümlichen Fiktionen nichts ändern konnte, seinem
  Schicksal überlassen und es seinen Wächtern anheimstellen, ihn
  einzufangen; oder sollte ich ein Gespräch mit ihm anknüpfen und auf
  die Gefahr hin, in persönlich unangenehme Auseinandersetzungen mit
  ihm zu geraten, seine Zustände näher zu ergründen suchen?
  Als Mensch würde ich das erstere vorgezogen haben, als Jurist, als
  Kriminalist zog mich das letztere an. Ich folgte der Verlockung und
  führte die Unterhaltung weiter.
  „Mein lieber Herr,“ sprach ich, „wenn Sie sich unter einem
  Regenschirm gegen Ihren Feind gesichert glauben, so bin ich mit dem
  meinigen gern zu Diensten. Nehmen Sie meinen Arm.“
  Ich hatte bereits das seidene Wetterdach ausgespannt, und der
  Irrsinnige war ebenfalls bereits mit einem Freudenruf in die Höhe
  gesprungen.
  „O mein Herr, der Himmel hat mich Ihnen entgegengeführt.“
  Er nahm meinen Arm und sagte, den Hut abziehend:
  „Erlauben Sie aber auch, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist
  Löhnefinke--Königlich Preußischer Kreisrichter zu Groß-Fauhlenberge,
  Provinz...“
  Jetzt tat ich in vollkommener Stupefaktion einen Seitensprung:
  „Mein Herr--das ist nicht möglich!“
  „Mein Herr?“
  „Sie? Sie, der Sie, um dem Mondaufgange zu entrinnen, sich kopfüber,
  auf die Gefahr den Hals zu brechen, eben da--dort hinunterstürzten,
  der Kreisrichter Löhnefinke aus Groß-Fauhlenberge? Unmöglich, ganz
  unmöglich sind Sie der Kreisrichter Löhnefinke!“
  „Doch, doch! Wenn Sie es ein Vergnügen nennen wollen, so habe ich es
  und bin der Genannte.“
  Mühsam faßte ich mich, indem ich mir sagte: jetzt ist es außer allem
  Zweifel, es ist ein Wahnsinniger mit mehreren fixen Ideen. Der
  Unglückliche hält nicht nur den Mond für seinen Feind, sondern er
  hält sich unbedingt dazu für einen andern.
  „Ja, mein Name ist Löhnefinke, und ich würde es für eine Ehre halten,
  wenn Sie, mein werter Herr, mich nunmehr auch mit dem Ihrigen bekannt
  machen würden.“
  Was war dagegen zu machen? Ich stellte mich vor und nannte meinen
  Namen und Titel. Sofort zog der Irrsinnige von neuem den Hut, griff
  nach meiner Hand, drückte sie herzlich und rief:
  „Ach, mein liebe Kollege, sehen Sie, wie das Fatum die Leute
  zusammenführt! Wahrhaftig, das hätte ich mir vor einer Viertelstunde
  nicht träumen lassen. Mein Gott, so sind wir ja schon seit geraumer
  Zeit die besten Bekannten! Erinnern Sie sich doch! Haben wir nicht
  in Sachen Johann Peter Müllers, des nachgemachten Zigeunerhäuptlings
  aus Langensalza, Akten gewechselt und eine geschäftliche
  Korrespondenz geführt? Nicht wahr, es fällt Ihnen ein? O, wie mich
  das freut!“
  War das ein Traum, oder war’s Wirklichkeit? War dieser Mensch
  verrückt, oder war ich es?
  Die Sache verhielt sich in der Tat so, und meines Schriftenwechsels
  mit dem preußischen Kreisgericht zu Groß-Fauhlenberge erinnerte ich
  mich sofort auf das deutlichste. Und mein sonderbarer Begleiter (wir
  schritten bereits nebeneinander her) hielt sich auch gar nicht allein
  an das bloße Sicher- und Feststellen dieser Tatsache; nein, er
  vertiefte sich augenblicklich in die Einzelheiten des betreffenden
  Falles, legte mir jetzt mündlich alle die Bedenken vor, die er mir
  früher schriftlich mitgeteilt hatte, und--ich erwiderte ihm, als ob
  es wirklich keinem Zweifel mehr für mich unterliege, daß er der
  fragliche königlich preußische Beamte sei und wirklich den Namen
  Löhnefinke führe. Der Vollmond war währenddem in der Tat am
  östlichen Horizonte emporgestiegen und schien uns auf die Köpfe, ohne
  daß mein Begleiter sich um ihn kümmerte. Arm in Arm gegen den
  Badestrand von Westerland anwandelnd, vertieften wir uns immer mehr
  in unsere hohe Wissenschaft und ließen den Mond scheinen, wie es ihm
  beliebte. So hatten wir fast das Herrenbad erreicht und näherten uns
  jetzt der Treppe, welche von dem Strande zu der Höhe der Dünen
  hinaufführt, als der Kollege, der sich seiner ersten Exaltation zum
  Trotz mir nunmehr als ein höchst klarer Kopf und scharfer Jurist
  ausgewiesen hatte, plötzlich, im Sande steckenbleibend, sich umsah,
  aufguckte und, geisterbleich werdend, stöhnte:
  „O ihr Götter, da sind wir ja mitten drin!“
  Daran war kein Zweifel: wir waren mitten drin; die fixe Idee packte
  von neuem den Unglückseligen, wütend und angstvoll zog er sich meinen
  ausgespannten Schirm dicht auf den Hut herab, und ich--ich konnte
  nichts weiter tun, als ihn--den Kreisrichter Löhnefinke, fester am
  Ellbogen zu halten und dem erbost sich Windenden und Abzappelnden
  eindringlichst zuzureden:
  „Aber Verehrtester, ich bitte Sie! Fassung! Fassung! Dieses ist
  doch zu toll, Kollege! Was hat Ihnen denn dieses unschädliche
  Beleuchtungsinstitut eigentlich zuleide getan? Oder was haben Sie
  gegen es verbrochen? Nehmen Sie Vernunft an, Kollege, überzeugen Sie
  sich doch: die harmlose Kugel macht durchaus keine Miene, uns auf den
  Kopf zu fallen.“
  „O mein Kopf! mein Kopf!“ stöhnte der Kreisrichter, den fraglichen
  Körperteil mit beiden Händen haltend.
  „Kommen Sie, Kollege, niemand jagt Sie, niemand treibt Sie. Welch
  ein ganz verrückter Raptus! Nehmen Sie mir das nicht übel!“
  „Niemand? Niemand?“ ächzte Löhnefinke.
  „Niemand. Und wissen Sie, jetzt lassen Sie uns dort hinaufsteigen;
  im Pavillon finden wir noch Menschen--Gesellschaft, irgendein
  ermutigendes Getränke und unbedingt eine Petroleumampel, gegen welche
  Ihr Feind oder Ihre Feindin sicherlich den kürzeren zieht.“
  „Petroleum!“ murmelte Löhnefinke, das Wort fassend und festhaltend
  wie ein Verbrecher auf dem Hochgericht den Ruf: Gnade!
  „Horchen Sie nur, es ist sogar noch Musik im Pavillon. Was meinen
  Sie, wenn wir uns daselbst bei einem Glase Grog noch eine Weile
  niederließen und...“
  „ ...den Untergang des Mondes abwarteten?! Jaja, das ist das rechte!“
  „ Würde uns aber doch ein wenig lange da fesseln. Der Mond geht erst
  nach dreiviertel auf sieben Uhr morgens unter; aber ein anderer Trost
  steigt uns herauf. Sehen Sie, dort über der See erhebt sich dunkles
  Gewölk; Kollege, warten wir ab, bis eine Wolke vor den Mond gezogen
  ist.“
  „Jaja, angenommen! Gern, nur zu gern eingeschlagen! Kollege, ich
  stelle mich ganz und gar unter Ihre Vormundschaft. Treten wir ein in
  die Bude, warten wir, bis eine Wolke vor das grinsende Scheusal
  gezogen ist, und trinken wir Grog derweile!“ rief der aufgeregte
  preußische Staatsbeamte, und so erkletterten wir die steile Treppe,
  langten, ohne den Hals gebrochen zu haben, auf der Höhe an, wandten
  uns rechts durch das Dünengras dem erleuchteten, von Musik
  durchschmetterten und mit Badegästen dicht gefüllten Dünenpavillon
  zu.
  In dem Augenblick aber, als wir in die Tür des hölzernen Rundbaus
  traten, schwieg plötzlich die Badeblechmusik. Die Musikanten packten
  ihre Instrumente ein oder nahmen sie einfach unter den Arm. Sie
  nahmen auch noch einen Gratisschnaps am Büffet und zogen ab, und der
  größte Teil des Publikums folgte ihnen seltsamerweise auf dem Fuße,
  ohne sich erst von dem Kunstgenuß erholt zu haben. Nur einige
  Gruppen verständiger Männer hielten sich noch bei ihren Gläsern.
  Über die Nordsee strich jetzt ein ziemlich lebendiger Wind. Die
  Wellen rauschten lauter und bedeckten sich mit weißern und krausern
  Schaumkronen. Das belebende und erwärmende Getränke, welches wir
  bestellten, bevor wir uns niederließen, mußte unbedingt von dem
  wohltätigsten Einfluß auf unsere seelische Stimmung und unser
  körperliches Behagen sein.
  Nun saßen wir, und während am nächsten Tische eine muntere
  Gesellschaft lustig durcheinanderschwatzte, sah ich mir meinen neuen
  Bekannten, und zwar durchaus nicht verstohlen, genauer bei
  Lampenbeleuchtung an, und meine Verwunderung stieg unter dem
  Scrutinio.
  Der Kreisrichter Löhnefinke aus Groß-Fauhlenberge war ein Mann von
  ungefähr fünfzig Jahren, korpulent, wie schon bemerkt, und sonst ohne
  alle äußerlichen Absonderlichkeiten. Ein breites Kinn, ein
  kurzgehaltenes, graugesprenkeltes Haupthaar, ein preußischer
  Beamtenbart und zwei graue, kluge Augen, die jeden Gegenstand, auf
  den sie sich hefteten, scharf festhielten, gaben mir sicherlich
  keinen Anlaß, den Mann für einen Tollhauskandidaten zu erklären, und
  doch--ich hielt es nicht aus! Meine Hand auf den Arm des Kollegen
  legend und dicht an ihn heranrückend, sagte ich:
  „Nehmen Sie es mir nicht übel, lieber Löhnefinke, aber in diesem
  Moment glaube ich nicht mehr daran.“
  „Woran nicht?“
  „An Ihr Auftreten vorhin. An--na ja, an Ihre halsbrecherische
  Flucht über die Düne, an jene Rutschpartie bei Wenningstedt, an:
  kurz an Ihre Mondfeindschaft, Kollege.“
  Sofort kam eine außerordentliche Veränderung über den ganzen, dicht
  neben mir sitzenden Menschen. Er duckte sich wieder einmal, und wie
  vorhin nach meinem Regenschirm griff er jetzt nach dem vor ihm
  stehenden Glase, zog die darin befindliche heiße, dampfende Mischung
  auf einen Zug in sich hinein und flüsterte durch die Zähne:
  „Es ist aber doch so! Ich hasse den Mond; er ist mein Todfeind, und
  ich ziehe den kürzern gegen ihn, wie er gegen die Lampe da über uns.“
  Ich winkte der Kellnerin, welche meinen Wink verstand und dem Kollege
  ein zweites dampfendes Glas vor die Nase setzte.
  „Danke!“ sagte der Kreisrichter. Und auch Ihnen Dank; denn wäre ich
  vorhin Ihnen und Ihrem Schirm nicht in die Arme gefallen, so weiß ich
  wahrlich nicht, was auf diesem schattenlosen Strande aus mir geworden
  wäre.“
  „Kollege,“ sprach ich, „ich bin ein ruhiger Mann, amtiere seit langen
  Jahren zur Zufriedenheit meiner Amtseingesessenen und meiner
  vorgesetzten Behörden. Ich habe den Landesorden zu Hause im
  Schubkasten und bin noch nie einem mir anvertrauten Geheimnis
  gegenüber feloniter vorgegangen: würden Sie es sehr übelnehmen,
  Kollege, wenn ich Sie aufforderte, mir mitzuteilen, wie Sie mit jenem
  unschuldigen Trabanten unserer sündigen Erde in Konflikt geraten
  sind?“
  „Ich werde das durchaus nicht übelnehmen“, sagte der Kollege.
  „Im Gegenteil, von Zeit zu Zeit fühle ich das intensivste Bedürfnis,
  meinem Haß und Zorn und leider auch meiner grimmigsten Beklemmung und
  Angst gegen eine fühlende Seele Luft zu machen. Lassen Sie sich
  ebenfalls noch ein Glas Grog geben und hören Sie zu. Nachher mögen
  Sie richten und werde ich mich auf Ihr Urteil verlassen, um so mehr,
  als ich Sie bereits aus unserem amtlichen Schriftenwechsel als einen
  tüchtigen Juristen kennengelernt habe.“
  „Ungemein verbunden“, sprach ich, aufs äußerste gespannt, und sah
  jetzt dem Kollegen in die Augen, wie ich vor fünfundzwanzig Jahren
  meiner Braut nicht in die ihrigen gesehen hatte. Er schlürfte von
  neuem vom dampfenden Getränk und begann und legte sein Bekenntnis ab.
  „Zuerst,“ sagte er, „muß ich Ihnen bemerken, daß mein Arzt mich
  hierher ins Seebad geschickt hat auf den Antrieb meiner Frau gerade
  dieses meines Zustandes wegen, wie sie sagt,--meiner Nerven wegen,
  wie er sagt. Jahrelang hat der Mann, der mich von Jugend auf kennt,
  der mit mir aufgewachsen ist, über diesen Zustand gelacht; erst
  durch die Insinuationen meiner Gattin ist ihm die Sache bedenklich
  geworden. Auf einmal hat er gefunden, daß es jetzt die höchste Zeit
  sei, etwas gegen die bedauerlichen Zustände zu tun, und hier bin ich
  und gehe pflichtgemäß täglich ins Wasser, wie Sie heute abend
  erfahren haben, bis jetzt ohne den geringsten Erfolg. Zur Sache!
  Mit einem Wort, ich büße für meine Jugendsünden.“
  „Aha!“ murmelte ich, doch der Kollege schüttelte, meine Meinung
  sofort erkennend, nachdrucksvoll den Kopf und seufzte:
  „O nein, nein! Ach, wie glücklich würde ich mich schätzen, wenn es
  d a s wäre! Das ist ja gerade mein Elend, daß ganz das Gegenteil
  dessen, was Sie im Sinne haben, den Grund meiner Verstörung bildet.
  Ich versichere Sie, weder der Wein noch die Weiber haben es mir in
  meinen Jünglingstagen angetan. Ich bin nur zu solide gewesen und
  bereue es heute in Kummer, Schmerz und im Sylter Badekostüm. O hätte
  ich mich doch ausgetobt in den Tagen meiner Jugend! Hätte ich doch
  meiner Phantasie die Zügel auf den Hals geworfen und die Gefahr,
  abgeworfen zu werden und das Genick zu brechen, zur rechten Zeit auf
  mich genommen! Kollega, Kollega, unterdrückte Poesie ist es, welche
  mich verrückt macht – verrückt weit nach dem vierzigsten Lebensjahre.
  Der deutsche Mondschein rächt sich an mir, und ich bezweifle, daß mir
  irgendein Bad, Sauer oder Bitterwasser helfen werde.“
  „Der deutsche Mondenschein?“
  „Freilich und sechsmal ja! Der Mond grinst mich aus meinem Verstande
  heraus, mich den königlich preußischen Kreisrichter Friedrich Wilhelm
  Löhnefinke zu Groß-Fauhlenberge, und nicht nur für eigene
  Verschuldung büße ich, nein, ich habe auch noch dazu die Schulden
  ungezählter Generationen meiner Vorfahren an das glänzende Ungeheuer
  abzutragen. O Kollega, ich fühle mich stellenweise sehr
  unglücklich!“
  „Kollege, Sie sind jedenfalls ein sehr interessanter Mensch. Mit
  aufgespanntesten Seelenkräften bitte ich um eine genauere Erklärung.“
  „Welche ich Ihnen geben werde. Mein Vater war königlicher Beamter,
  mein Großvater gleichfalls, und es wäre lächerlich von mir, wenn ich
  daran zweifeln wollte, daß auch mein Urgroßvater königlicher Beamter
  gewesen sei, selbstverständlich Provinzialbeamter wie wir alle.
  Meine Mutter war ein deutsches Weib, ebenso meine Großmutter und
  natürlich meine Urgroßmutter nicht weniger. Auch sie stammten
  sämtlich aus königlichen Provinzialbeamtenfamilien ab. Von Poesie
  wußten sie nichts, und auf den Mond achteten sie nur insofern, als er
  so gefällig war, sie zu benachrichtigen, wann es Zeit sei, die Haare
  zu verschneiden oder zur Ader zu lassen. O, sie überließen es
  einfach mir, für die Vernachlässigung zu büßen! Meine Mutter las
  Clauren, meine Großmutter Bibel und Gesangbuch, meine Urgroßmutter
  konnte wahrscheinlich gar nicht lesen. Meine Vorväter lasen und
  schrieben ihre Akten, lasen das Amtsblatt und vielleicht auch die
  Zeitung, und ich war bis in die jüngste Zeit ihr würdiger Nachkomme.
  Da kam das Jahr achtundvierzig, und der Mond ging mir auf.“
  „Aha!“ rief ich wiederum; aber der Kollege Kreisrichter schüttelte
  abermals das Haupt und sagte:
  „O nein, nein und zwölfmal nein! Sie irren sich jetzt nicht weniger
  als vorhin. Sie wissen was wir unter dem Worte ‚altliberal‘
  verstehen?“
  Ich nickte mit der Energie einer chinesischen Pagode.
  „Sie werden mir also zugestehen, daß man als Altliberaler noch weit
  davon entfernt ist, den Mond zu hassen und vor dem Monde Reißaus zu
  nehmen?“
  Es wäre töricht von mir gewesen, dieses Zugeständnis nicht zu machen,
  und ich machte es, tat aber dabei die Gegenfrage:
  „Wie alt waren Sie im März von Achtundvierzig?“
  „Ich hatte eben das Alter eines preußischen Auskultators erreicht.“
  „Bravo! Erzählen Sie ruhig weiter.“
  „Im März kam er also über die Dächer und schien in meine Stube zu
  Berlin, und ich rieb mir die Augen, wie gesagt, ohne ihnen zu trauen.
  Noch hatte ich nicht die geringste Ahnung von der Gefährlichkeit des
  Burschen, aber im folgenden Jahre neunundvierzig bekam ich mehr als
  eine Ahnung davon. Mit heißem Kopfe aus einer erregten
  Volksversammlung heimkehrend, schlief ich mit eben diesem Kopfe in
  der Fensterbank liegend ein, und das hämische Gestirn schien mir
  während mehrerer Stunden darauf.“
  „Und?“
  „Und am folgenden Morgen hatte ich nicht nur Kopfweh, sondern auch
  einen ausgesprochenen Ekel an manchen Dingen und Menschen, die mir
  sonst sehr hoch in Empfindung, Gefühl und Achtung gestanden hatten.
  Die Poesie brach durch--und--Kollege, wissen Sie was das bedeutet,
  wenn die Poesie des Lebens bei einem königlich preußischen
  Auskultator zum Durchbruch gelangt?“
  „Gottlob nein; erinnern Sie sich nur, daß wir über unsere respektiven
  Landesgrenzen miteinander korrespondiert haben.“
  „Das ist wahr; aber ich wußte es auch nicht, doch heute kann ich
  darüber reden. Sie haben die ganze Nacht ruhig und solide von den
  Pandekten und dem Landrecht geträumt, und Sie erwachen und suchen
  sich den Inhalt Ihrer Träume wieder zu vergegenwärtigen. Es gelingt
  Ihnen nur zu gut, und der Jammer beginnt. Sie sehen von Ihrem
  Kopfkissen aus nach Ihrer Bibliothek hinüber, und plötzlich ergreift
  Sie eine kaum zu bezwingende Lust aufzuspringen, den ganzen Trödel in
  die Arme zu fassen---und--und--und--Dinge--unsagbare Dinge damit
  vorzunehmen. Sie bezähmen sich aber, denn es fällt Ihnen ein wieviel
  Geld Sie in den Wust gesteckt haben, und Sie bezähmen sich auch zum
  Glück für Ihre weitere Karriere und gehen an die Bereitung Ihres
  Kaffees. Dabei ergreift Sie dann die Vorstellung, daß Sie noch immer
  ohne die entsprechende Vergütung dem Staate zur Verfügung stehen, mit
  erschütternder Gewalt; und darüber wieder kocht Ihnen nicht nur die
  Galle, sondern auch Ihr Gebräu über, und Sie fressen die eine in
  sich hinein und schütten das andere nicht in die Dachrinne, sondern
  ebenfalls in sich hinein. Sie haben Illusionen verloren und Sie
  machen sich neue: sehen Sie, da haben Sie eine der ersten Wirkungen
  unseres Feindes, des Mondes! Ja, Sie machen sich sonderbare
  Illusionen, und was das sonderbarste ist, Sie verdenken es sich
  selber gar nicht. Nachher gehen Sie zum Büro, begegnen unterwegs
  Ihrem Vorgesetzten, grüßen ihn höflichst, und jetzt, mit einem Male,
  fällt Ihnen ein anderes Träumen ein! Sie erinnern sich dessen, was
  Sie träumten, als Sie mit dem Kopfe im offenen Fenster lagen und der
  Mond Ihnen auf den Kopf schien. Sie stehen und sehen dem Präsidenten
  nach; und nun, und einzig und allein durch des deutschen Mondes
  Schuld, fällt Ihnen bei, daß Sie für Ihre Person doch mehr gelesen
  haben als Ihre Vorfahren: nicht die Zeitung, sondern Zeitungen,
  außerdem Schiller und Goethe, Voltaire und Rousseau, Börne und Stahl,
  Ranke und Raumer und ein inkommensurables Gemisch neuester Poeten
  höchst liberaler Art. Sie erinnern sich an manches, was Sie auf
  Universitäten beim Kommersch sangen, und der sanfte, liebliche Mond,
  der vielleicht gerade als zarte Sichel über Ihnen im Hellblau des
  Morgenhimmels steht, verzieht den Mund höhnisch und wächst, wächst,
  wächst von neuem zu Vollmond an, während Sie Tag für Tag, Woche für
  Woche Ihren Amstgeschäften nachgehen. Sie fühlen sich grenzenlos
  unbehaglich, Sie kommen sich unsagbar dumm, albern und abgeschmackt
  vor und protokollieren auch dumm, wofür Sie eine ganz gehörige Nase
  besehen. Mit der letztern gehen Sie nach Hause und besehen zufällig
  Ihren abnehmenden Haarwuchs im Spiegel, und wenn Sie dabei in Ihrem
  Bart ein weißes Haar entdecken sollten, so kommt auch das Ihrem guten
  Freunde, dem Monde, ganz gelegen; denn er ist imstande, Sie daran
  fester zu fassen und leichter seine Wege zu führen als an irgend
  etwas anderem. Das nächste Mal, wenn Sie wieder einsam in der Nacht
  am Fenster sitzen, nimmt er Sie bei diesem Haar: Sie sehnen sich
  nach einem Busen, einem zarten, gefühlvollen, weichen Busen, in den
  Sie alle Ihre Wehmut ausschütten können, dem Sie Ihren Gram sagen,
  dem Sie Verdruß und Ärgernis mitteilen können. Sie träumen wachend,
  und der Mond hohnlacht ärger denn zuvor...“
  „Halten Sie einmal, Löhnefinke!“ rief ich, beide Hände auf die Stirn
  drückend. „Muß denn immer erst ein anderer kommen und einem seine
  eigensten vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustände klar
  und objektiv hinstellen? Kollega, Sie haben vollständig recht;
  nervös, wie Sie selber, folge ich Ihrer Auseinandersetzung! Fahren
  Sie fort,--wahrhaftig, der Mond ist ein Ungeheuer!“
  „Er ist es, der Mond, und vor allem dieser deutsche Mond! Da kommt
  er abermals über das Dach, und Sie legen den Kopf auf die Schulter
  und blinzeln ihm blöde und verlegen in die breite Fratze. Und
  plötzlich schwankt hohes Weizenährenfeld vor Ihren Blicken, die
  Nachtigall oder sonst ein Vogel piept im Gebüsch, es blitzt der
  Teich, der Bach murmelt, und Sie, Kollega, fangen gleichfalls an zu
  murmeln. Was murmeln Sie? Natürlich irgendeinen wohlklingenden
  Taufnamen, auf E oder A auslaufend,--Klothilde, Josephine, Maria,
  
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