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Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 4 - 1

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  Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 4
  Johann Wolfgang von Goethe
  
  
  
  Viertes Buch
  Erstes Kapitel
  Laertes stand nachdenklich am Fenster und blickte, auf seinen Arm
  gestützt, in das Feld hinaus. Philine schlich über den großen Saal
  herbei, lehnte sich auf den Freund und verspottete sein ernsthaftes
  Ansehen.
  "Lache nur nicht", versetzte er, "es ist abscheulich, wie die Zeit
  vergeht, wie alles sich verändert und ein Ende nimmt! Sieh nur, hier
  stand vor kurzem noch ein schönes Lager, wie lustig sahen die Zelte
  aus! wie lebhaft ging es darin zu! wie sorgfältig bewachte man den
  ganzen Bezirk! und nun ist alles auf einmal verschwunden. Nur kurze
  Zeit werden das zertretene Stroh und die eingegrabenen Kochlöcher noch
  eine Spur zeigen; dann wird alles bald umgepflügt sein, und die
  Gegenwart so vieler tausend rüstiger Menschen in dieser Gegend wird
  nur noch in den Köpfen einiger alten Leute spuken."
  Philine fing an zu singen und zog ihren Freund zu einem Tanze in den
  Saal. "Laß uns", rief sie, "da wir der Zeit nicht nachlaufen können,
  wenn sie vorüber ist, sie wenigstens als eine schöne Göttin, indem sie
  bei uns vorbeizieht, fröhlich und zierlich verehren!"
  Sie hatten kaum einige Wendungen gemacht, als Madame Melina durch den
  Saal ging. Philine war boshaft genug, sie gleichfalls zum Tanze
  einzuladen und sie dadurch an die Mißgestalt zu erinnern, in welche
  sie durch ihre Schwangerschaft versetzt war.
  "Wenn ich nur", sagte Philine hinter ihrem Rücken, "keine Frau mehr
  guter Hoffnung sehen sollte!"
  "Sie hofft doch", sagte Laertes.
  "Aber es kleidet sie so häßlich. Hast du die vordere Wackelfalte des
  verkürzten Rocks gesehen, die immer vorausspaziert, wenn sie sich
  bewegt? Sie hat gar keine Art noch Geschick, sich nur ein bißchen zu
  mustern und ihren Zustand zu verbergen."
  "Laß nur", sagte Laertes, "die Zeit wird ihr schon zu Hülfe kommen."
  "Es wäre doch immer hübscher", rief Philine, "wenn man die Kinder von
  den Bäumen schüttelte."
  Der Baron trat herein und sagte ihnen etwas Freundliches im Namen des
  Grafen und der Gräfin, die ganz früh abgereist waren, und machte ihnen
  einige Geschenke. Er ging darauf zu Wilhelmen, der sich im
  Nebenzimmer mit Mignon beschäftigte. Das Kind hatte sich sehr
  freundlich und zutätig bezeigt, nach Wilhelms Eltern, Geschwistern und
  Verwandten gefragt und ihn dadurch an seine Pflicht erinnert, den
  Seinigen von sich einige Nachricht zu geben.
  Der Baron brachte ihm nebst einem Abschiedsgruße von den Herrschaften
  die Versicherung, wie sehr der Graf mit ihm, seinem Spiele, seinen
  poetischen Arbeiten und seinen theatralischen Bemühungen zufrieden
  gewesen sei. Er zog darauf zum Beweis dieser Gesinnung einen Beutel
  hervor, durch dessen schönes Gewebe die reizende Farbe neuer
  Goldstücke durchschimmerte; Wilhelm trat zurück und weigerte sich, ihn
  anzunehmen.
  "Sehen Sie", fuhr der Baron fort, "diese Gabe als einen Ersatz für
  Ihre Zeit, als eine Erkenntlichkeit für Ihre Mühe, nicht als eine
  Belohnung Ihres Talents an. Wenn uns dieses einen guten Namen und die
  Neigung der Menschen verschafft, so ist billig, daß wir durch Fleiß
  und Anstrengung zugleich die Mittel erwerben, unsre Bedürfnisse zu
  befriedigen, da wir doch einmal nicht ganz Geist sind. Wären wir in
  der Stadt, wo alles zu finden ist, so hätte man diese kleine Summe in
  eine Uhr, einen Ring oder sonst etwas verwandelt; nun gebe ich aber
  den Zauberstab unmittelbar in Ihre Hände; schaffen Sie sich ein
  Kleinod dafür, das Ihnen am liebsten und am dienlichsten ist, und
  verwahren Sie es zu unserm Andenken. Dabei halten Sie ja den Beutel
  in Ehren. Die Damen haben ihn selbst gestrickt, und ihre Absicht war,
  durch das Gefäß dem Inhalt die annehmlichste Form zu geben."
  "Vergeben Sie", versetzte Wilhelm, "meiner Verlegenheit und meinen
  Zweifeln, dieses Geschenk anzunehmen. Es vernichtet gleichsam das
  wenige, was ich getan habe, und hindert das freie Spiel einer
  glücklichen Erinnerung. Geld ist eine schöne Sache, wo etwas abgetan
  werden soll, und ich wünschte nicht, in dem Andenken Ihres Hauses so
  ganz abgetan zu sein."
  "Das ist nicht der Fall", versetzte der Baron; "aber indem Sie selbst
  zart empfinden, werden Sie nicht verlangen, daß der Graf sich völlig
  als Ihren Schuldner denken soll: ein Mann, der seinen größten Ehrgeiz
  darein setzt, aufmerksam und gerecht zu sein. Ihm ist nicht entgangen,
  welche Mühe Sie sich gegeben und wie Sie seinen Absichten ganz Ihre
  Zeit gewidmet haben, ja er weiß, daß Sie, um gewisse Anstalten zu
  beschleunigen, Ihr eignes Geld nicht schonten. Wie will ich wieder
  vor ihm erscheinen, wenn ich ihn nicht versichern kann, daß seine
  Erkenntlichkeit Ihnen Vergnügen gemacht hat."
  "Wenn ich nur an mich selbst denken, wenn ich nur meinen eigenen
  Empfindungen folgen dürfte", versetzte Wilhelm, "würde ich mich,
  ungeachtet aller Gründe, hartnäckig weigern, diese Gabe, so schön und
  ehrenvoll sie ist, anzunehmen; aber ich leugne nicht, daß sie mich in
  dem Augenblicke, in dem sie mich in Verlegenheit setzt, aus einer
  Verlegenheit reißt, in der ich mich bisher gegen die Meinigen befand
  und die mir manchen stillen Kummer verursachte. Ich habe sowohl mit
  dem Gelde als mit der Zeit, von denen ich Rechenschaft zu geben habe,
  nicht zum besten hausgehalten; nun wird es mir durch den Edelmut des
  Herrn Grafen möglich, den Meinigen getrost von dem Glücke Nachricht zu
  geben, zu dem mich dieser sonderbare Seitenweg geführt hat. Ich opfre
  die Delikatesse, die uns wie ein zartes Gewissen bei solchen
  Gelegenheiten warnt, einer höhern Pflicht auf, und um meinem Vater
  mutig unter die Augen treten zu können, steh ich beschämt vor den
  Ihrigen."
  "Es ist sonderbar", versetzte der Baron, "welch ein wunderlich
  Bedenken man sich macht, Geld von Freunden und Gönnern anzunehmen, von
  denen man jede andere Gabe mit Dank und Freude empfangen würde. Die
  menschliche Natur hat mehr ähnliche Eigenheiten, solche Skrupel gern
  zu erzeugen und sorgfältig zu nähren."
  "Ist es nicht das nämliche mit allen Ehrenpunkten?" fragte Wilhelm.
  "Ach ja", versetzte der Baron, "und andern Vorurteilen. Wir wollen
  sie nicht ausjäten, um nicht vielleicht edle Pflanzen zugleich mit
  auszuraufen. Aber mich freut immer, wenn einzelne Personen fühlen,
  über was man sich hinaussetzen kann und soll, und ich denke mit
  Vergnügen an die Geschichte des geistreichen Dichters, der für ein
  Hoftheater einige Stücke verfertigte, welche den ganzen Beifall des
  Monarchen erhielten. "Ich muß ihn ansehnlich belohnen", sagte der
  großmütige Fürst; "man forsche an ihm, ob ihm irgendein Kleinod
  Vergnügen macht oder ob er nicht verschmäht, Geld anzunehmen." Nach
  seiner scherzhaften Art antwortete der Dichter dem abgeordneten
  Hofmann: "Ich danke lebhaft für die gnädigen Gesinnungen, und da der
  Kaiser alle Tage Geld von uns nimmt, so sehe ich nicht ein, warum ich
  mich schämen sollte, Geld von ihm anzunehmen.""
  Der Baron hatte kaum das Zimmer verlassen, als Wilhelm eifrig die
  Barschaft zählte, die ihm so unvermutet und, wie er glaubte, so
  unverdient zugekommen war. Es schien, als ob ihm der Wert und die
  Würde des Goldes, die uns in spätern Jahren erst fühlbar werden,
  ahnungsweise zum erstenmal entgegenblickten, als die schönen,
  blinkenden Stücke aus dem zierlichen Beutel hervorrollten. Er machte
  seine Rechnung und fand, daß er, besonders da Melina den Vorschuß
  sogleich wieder zu bezahlen versprochen hatte, ebensoviel, ja noch
  mehr in Kassa habe als an jenem Tage, da Philine ihm den ersten Strauß
  abfordern ließ. Mit heimlicher Zufriedenheit blickte er auf sein
  Talent, mit einem kleinen Stolze auf das Glück, das ihn geleitet und
  begleitet hatte. Er ergriff nunmehr mit Zuversicht die Feder, um
  einen Brief zu schreiben, der auf einmal die Familie aus aller
  Verlegenheit und sein bisheriges Betragen in das beste Licht setzen
  sollte. Er vermied eine eigentliche Erzählung und ließ nur in
  bedeutenden und mystischen Ausdrücken dasjenige, was ihm begegnet sein
  könnte, erraten. Der gute Zustand seiner Kasse, der Erwerb, den er
  seinem Talent schuldig war, die Gunst der Großen, die Neigung der
  Frauen, die Bekanntschaft in einem weiten Kreise, die Ausbildung
  seiner körperlichen und geistigen Anlagen, die Hoffnung für die
  Zukunft bildeten ein solches wunderliches Luftgemälde, daß Fata
  Morgagna selbst es nicht seltsamer hätte durcheinanderwirken können.
  In dieser glücklichen Exaltation fuhr er fort, nachdem der Brief
  geschlossen war, ein langes Selbstgespräch zu unterhalten, in welchem
  er den Inhalt des Schreibens rekapitulierte und sich eine tätige und
  würdige Zukunft ausmalte. Das Beispiel so vieler edlen Krieger hatte
  ihn angefeuert, die Shakespearische Dichtung hatte ihm eine neue Welt
  eröffnet, und von den Lippen der schönen Gräfin hatte er ein
  unaussprechliches Feuer in sich gesogen. Das alles konnte, das sollte
  nicht ohne Wirkung bleiben.
  Der Stallmeister kam und fragte, ob sie mit Einpacken fertig seien.
  Leider hatte außer Melina noch niemand daran gedacht. Nun sollte man
  eilig aufbrechen. Der Graf hatte versprochen, die ganze Gesellschaft
  einige Tagereisen weit transportieren zu lassen, die Pferde waren eben
  bereit und konnten nicht lange entbehrt werden. Wilhelm fragte nach
  seinem Koffer; Madame Melina hatte sich ihn zunutze gemacht; er
  verlangte nach seinem Gelde, Herr Melina hatte es ganz unten in den
  Koffer mit großer Sorgfalt gepackt. Philine sagte: "Ich habe in dem
  meinigen noch Platz", nahm Wilhelms Kleider und befahl Mignon, das
  übrige nachzubringen. Wilhelm mußte es, nicht ohne Widerwillen,
  geschehen lassen.
  Indem man aufpackte und alles zubereitete, sagte Melina: "Es ist mir
  verdrießlich, daß wir wie Seiltänzer und Marktschreier reisen; ich
  wünschte, daß Mignon Weiberkleider anzöge und daß der Harfenspieler
  sich noch geschwinde den Bart scheren ließe." Mignon hielt sich fest
  an Wilhelm und sagte mit großer Lebhaftigkeit: "Ich bin ein Knabe: ich
  will kein Mädchen sein!" Der Alte schwieg, und Philine machte bei
  dieser Gelegenheit über die Eigenheit des Grafen, ihres Beschützers,
  einige lustige Anmerkungen. "Wenn der Harfner seinen Bart
  abschneidet", sagte sie, "so mag er ihn nur sorgfältig auf Band nähen
  und bewahren, daß er ihn gleich wieder vornehmen kann, sobald er dem
  Herrn Grafen irgendwo in der Welt begegnet: denn dieser Bart allein
  hat ihm die Gnade dieses Herrn verschafft."
  Als man in sie drang und eine Erklärung dieser sonderbaren äußerung
  verlangte, ließ sie sich folgendergestalt vernehmen: "Der Graf glaubt,
  daß es zur Illusion sehr viel beitrage, wenn der Schauspieler auch im
  gemeinen Leben seine Rolle fortspielt und seinen Charakter souteniert;
  deswegen war er dem Pedanten so günstig, und er fand, es sei recht
  gescheit, daß der Harfner seinen falschen Bart nicht allein abends auf
  dem Theater, sondern auch beständig bei Tage trage, und freute sich
  sehr über das natürliche Aussehen der Maskerade."
  Als die andern über diesen Irrtum und über die sonderbaren Meinungen
  des Grafen spotteten, ging der Harfner mit Wilhelm beiseite, nahm von
  ihm Abschied und bat mit Tränen, ihn ja sogleich zu entlassen.
  Wilhelm redete ihm zu und versicherte, daß er ihn gegen jedermann
  schützen werde, daß ihm niemand ein Haar krümmen, viel weniger ohne
  seinen Willen abschneiden solle.
  Der Alte war sehr bewegt, und in seinen Augen glühte ein sonderbares
  Feuer. "Nicht dieser Anlaß treibt mich hinweg", rief er aus; "schon
  lange mache ich mir stille Vorwürfe, daß ich um Sie bleibe. Ich
  sollte nirgends verweilen, denn das Unglück ereilt mich und beschädigt
  die, die sich zu mir gesellen. Fürchten Sie alles, wenn Sie mich
  nicht entlassen, aber fragen Sie mich nicht, ich gehöre nicht mir zu,
  ich kann nicht bleiben."
  "Wem gehörst du an? Wer kann eine solche Gewalt über dich ausüben?"
  "Mein Herr, lassen Sie mir mein schaudervolles Geheimnis, und geben
  Sie mich los! Die Rache, die mich verfolgt, ist nicht des irdischen
  Richters; ich gehöre einem unerbittlichen Schicksale; ich kann nicht
  bleiben, und ich darf nicht!"
  "In diesem Zustande, in dem ich dich sehe, werde ich dich gewiß nicht
  lassen."
  "Es ist Hochverrat an Ihnen, mein Wohltäter, wenn ich zaudre. Ich bin
  sicher bei Ihnen, aber Sie sind in Gefahr. Sie wissen nicht, wen Sie
  in Ihrer Nähe hegen. Ich bin schuldig, aber unglücklicher als
  schuldig. Meine Gegenwart verscheucht das Glück, und die gute Tat
  wird ohnmächtig, wenn ich dazutrete. Flüchtig und unstet sollt ich
  sein, daß mein unglücklicher Genius mich nicht einholet, der mich nur
  langsam verfolgt und nur dann sich merken läßt, wenn ich mein Haupt
  niederlegen und ruhen will. Dankbarer kann ich mich nicht bezeigen,
  als wenn ich Sie verlasse."
  "Sonderbarer Mensch! du kannst mir das Vertrauen in dich so wenig
  nehmen als die Hoffnung, dich glücklich zu sehen. Ich will in die
  Geheimnisse deines Aberglaubens nicht eindringen; aber wenn du ja in
  Ahnung wunderbarer Verknüpfungen und Vorbedeutungen lebst, so sage ich
  dir zu deinem Trost und zu deiner Aufmunterung: geselle dich zu meinem
  Glücke, und wir wollen sehen, welcher Genius der stärkste ist, dein
  schwarzer oder mein weißer!"
  Wilhelm ergriff diese Gelegenheit, um ihm noch mancherlei Tröstliches
  zu sagen; denn er hatte schon seit einiger Zeit in seinem wunderbaren
  Begleiter einen Menschen zu sehen geglaubt, der durch Zufall oder
  Schickung eine große Schuld auf sich geladen hat und nun die
  Erinnerung derselben immer mit sich fortschleppt. Noch vor wenigen
  Tagen hatte Wilhelm seinen Gesang behorcht und folgende Zeilen wohl
  bemerkt:
  
  Ihm färbt der Morgensonne Licht
  Den reinen Horizont mit Flammen,
  Und über seinem schuld'gen Haupte bricht
  Das schöne Bild der ganzen Welt zusammen.
  
  Der Alte mochte nun sagen, was er wollte, so hatte Wilhelm immer ein
  stärker Argument, wußte alles zum besten zu kehren und zu wenden,
  wußte so brav, so herzlich und tröstlich zu sprechen, daß der Alte
  selbst wieder aufzuleben und seinen Grillen zu entsagen schien.
  
  
  IV. Buch, 2. Kapitel
  
  
  Zweites Kapitel
  Melina hatte Hoffnung, in einer kleinen, aber wohlhabenden Stadt mit
  seiner Gesellschaft unterzukommen. Schon befanden sie sich an dem
  Orte, wohin sie die Pferde des Grafen gebracht hatten, und sahen sich
  nach andern Wagen und Pferden um, mit denen sie weiterzukommen hofften.
  Melina hatte den Transport übernommen und zeigte sich nach seiner
  Gewohnheit übrigens sehr karg. Dagegen hatte Wilhelm die schönen
  Dukaten der Gräfin in der Tasche, auf deren fröhliche Verwendung er
  das größte Recht zu haben glaubte, und sehr leicht vergaß er, daß er
  sie in der stattlichen Bilanz, die er den Seinigen zuschickte, schon
  sehr ruhmredig aufgeführt hatte.
  Sein Freund Shakespeare, den er mit großer Freude auch als seinen
  Paten anerkannte und sich nur um so lieber Wilhelm nennen ließ, hatte
  ihm einen Prinzen bekannt gemacht, der sich unter geringer, ja sogar
  schlechter Gesellschaft eine Zeitlang aufhält und ungeachtet seiner
  edlen Natur an der Roheit, Unschicklichkeit und Albernheit solcher
  ganz sinnlichen Bursche sich ergötzt. Höchst willkommen war ihm das
  Ideal, womit er seinen gegenwärtigen Zustand vergleichen konnte, und
  der Selbstbetrug, wozu er eine fast unüberwindliche Neigung spürte,
  ward ihm dadurch außerordentlich erleichtert.
  Er fing nun an, über seine Kleidung nachzudenken. Er fand, daß ein
  Westchen, über das man im Notfall einen kurzen Mantel würfe, für einen
  Wanderer eine sehr angemessene Tracht sei. Lange, gestrickte
  Beinkleider und ein Paar Schnürstiefeln schienen die wahre Tracht
  eines Fußgängers. Dann verschaffte er sich eine schöne seidne Schärpe,
  die er zuerst unter dem Vorwande, den Leib warm zu halten, umband;
  dagegen befreite er seinen Hals von der Knechtschaft einer Binde und
  ließ sich einige Streifen Nesseltuch ans Hemde heften, die aber etwas
  breit gerieten und das völlige Ansehen eines antiken Kragens erhielten.
  Das schöne seidne Halstuch, das gerettete Andenken Marianens, lag
  nur locker geknüpft unter der nesseltuchnen Krause. Ein runder Hut
  mit einem bunten Bande und einer großen Feder machte die Maskerade
  vollkommen.
  Die Frauen beteuerten, diese Tracht lasse ihm vorzüglich gut. Philine
  stellte sich ganz bezaubert darüber und bat sich seine schönen Haare
  aus, die er, um dem natürlichen Ideal nur desto näherzukommen,
  unbarmherzig abgeschnitten hatte. Sie empfahl sich dadurch nicht übel,
  und unser Freund, der durch seine Freigebigkeit sich das Recht
  erworben hatte, auf Prinz Harrys Manier mit den übrigen umzugehen, kam
  bald selbst in den Geschmack, einige tolle Streiche anzugeben und zu
  befördern. Man focht, man tanzte, man erfand allerlei Spiele, und in
  der Fröhlichkeit des Herzens genoß man des leidlichen Weins, den man
  angetroffen hatte, in starkem Maße, und Philine lauerte in der
  Unordnung dieser Lebensart dem spröden Helden auf, für den sein guter
  Genius Sorge tragen möge.
  Eine vorzügliche Unterhaltung, mit der sich die Gesellschaft besonders
  ergötzte, bestand in einem extemporierten Spiel, in welchem sie ihre
  bisherigen Gönner und Wohltäter nachahmten und durchzogen. Einige
  unter ihnen hatten sich sehr gut die Eigenheiten des äußern Anstandes
  verschiedner vornehmer Personen gemerkt, und die Nachbildung derselben
  ward von der übrigen Gesellschaft mit dem größten Beifall aufgenommen,
  und als Philine aus dem geheimen Archiv ihrer Erfahrungen einige
  besondere Liebeserklärungen, die an sie geschehen waren, vorbrachte,
  wußte man sich vor Lachen und Schadenfreude kaum zu lassen.
  Wilhelm schalt ihre Undankbarkeit; allein man setzte ihm entgegen, daß
  sie das, was sie dort erhalten, genugsam abverdient und daß überhaupt
  das Betragen gegen so verdienstvolle Leute, wie sie sich zu sein
  rühmten, nicht das beste gewesen sei. Nun beschwerte man sich, mit
  wie wenig Achtung man ihnen begegnet, wie sehr man sie zurückgesetzt
  habe. Das Spotten, Necken und Nachahmen ging wieder an, und man ward
  immer bitterer und ungerechter.
  "Ich wünschte", sagte Wilhelm darauf, "daß durch eure äußerungen weder
  Neid noch Eigenliebe durchschiene und daß ihr jene Personen und ihre
  Verhältnisse aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtetet. Es ist eine
  eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der
  menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reichtümer
  eine vollkommene Leichtigkeit des Daseins verschafft haben, wer sich,
  wenn ich mich so ausdrücken darf, von allem Beiwesen der Menschheit
  von Jugend auf reichlich umgeben findet, gewöhnt sich meist, diese
  Güter als das Erste und Größte zu betrachten, und der Wert einer von
  der Natur schön ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich.
  Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch untereinander ist
  nach äußern Vorzügen abgemessen; sie erlauben jedem, seinen Titel,
  seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste
  geltend zu machen."
  Diesen Worten gab die Gesellschaft einen unmäßigen Beifall. Man fand
  abscheulich, daß der Mann von Verdienst immer zurückstehen müsse und
  daß in der großen Welt keine Spur von natürlichem und herzlichem
  Umgang zu finden sei. Sie kamen besonders über diesen letzten Punkt
  aus dem Hundertsten ins Tausendste.
  "Scheltet sie nicht darüber", rief Wilhelm aus, "bedauert sie vielmehr!
  Denn von jenem Glück, das wir als das höchste erkennen, das aus dem
  innern Reichtum der Natur fließt, haben sie selten eine erhöhte
  Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es
  gegönnt, das Glück der Freundschaft in reichem Maße zu genießen. Wir
  können unsre Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch Gunst
  befördern, noch durch Geschenke beglücken. Wir haben nichts als uns
  selbst. Dieses ganze Selbst müssen wir hingeben und, wenn es einigen
  Wert haben soll, dem Freunde das Gut auf ewig versichern. Welch ein
  Genuß, welch ein Glück für den Geber und Empfänger! In welchen
  seligen Zustand versetzt uns die Treue! Sie gibt dem vorübergehenden
  Menschenleben eine himmlische Gewißheit; sie macht das Hauptkapital
  unsers Reichtums aus."
  Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten genähert, schlang ihre
  zarten Arme um ihn und blieb mit dem Köpfchen an seine Brust gelehnt
  stehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt und fuhr fort: "Wie
  leicht wird es einem Großen, die Gemüter zu gewinnen! wie leicht
  eignet er sich die Herzen zu! Ein gefälliges, bequemes, nur
  einigermaßen menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele Mittel
  hat er, die einmal erworbenen Geister festzuhalten. Uns kommt alles
  seltner, wird alles schwerer, und wie natürlich ist es, daß wir auf
  das, was wir erwerben und leisten, einen größern Wert legen. Welche
  rührenden Beispiele von treuen Dienern, die sich für ihre Herren
  aufopferten! Wie schön hat uns Shakespeare solche geschildert! Die
  Treue ist in diesem Falle ein Bestreben einer edlen Seele, einem
  Größern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anhänglichkeit und Liebe
  wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen
  bezahlten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind
  nur für den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren, und sie
  kleiden ihn schön. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht
  versucht, sich auch der Erkenntlichkeit zu überheben. Ja, in diesem
  Sinne glaube ich behaupten zu können, daß ein Großer wohl Freunde
  haben, aber nicht Freund sein könne."
  Mignon drückte sich immer fester an ihn.
  "Nun gut", versetzte einer aus der Gesellschaft. "Wir brauchen ihre
  Freundschaft nicht und haben sie niemals verlangt. Nur sollten sie
  sich besser auf Künste verstehen, die sie doch beschützen wollen.
  Wenn wir am besten gespielt haben, hat uns niemand zugehört: alles war
  lauter Parteilichkeit. Wem man günstig war, der gefiel, und man war
  dem nicht günstig, der zu gefallen verdiente. Es war nicht erlaubt,
  wie oft das Alberne und Abgeschmackte Aufmerksamkeit und Beifall auf
  sich zog."
  "Wenn ich abrechne", versetzte Wilhelm, "was Schadenfreude und Ironie
  gewesen sein mag, so denk ich, es geht in der Kunst wie in der Liebe.
  Wie will der Weltmann bei seinem zerstreuten Leben die Innigkeit
  erhalten, in der ein Künstler bleiben muß, wenn er etwas Vollkommenes
  hervorzubringen denkt, und die selbst demjenigen nicht fremd sein darf,
  der einen solchen Anteil am Werke nehmen will, wie der Künstler ihn
  wünscht und hofft.
  Glaubt mir, meine Freunde, es ist mit den Talenten wie mit der Tugend:
  man muß sie um ihrer selbst willen lieben oder sie ganz aufgeben. Und
  doch werden sie beide nicht anders erkannt und belohnt, als wenn man
  sie gleich einem gefährlichen Geheimnis im verborgnen üben kann."
  "Unterdessen, bis ein Kenner uns auffindet, kann man Hungers sterben",
  rief einer aus der Ecke.
  "Nicht eben sogleich", versetzte Wilhelm. "Ich habe gesehen, solange
  einer lebt und sich rührt, findet er immer seine Nahrung, und wenn sie
  auch gleich nicht die reichlichste ist. Und worüber habt ihr euch
  denn zu beschweren? Sind wir nicht ganz unvermutet, eben da es mit
  uns am schlimmsten aussah, gut aufgenommen und bewirtet worden? Und
  jetzt, da es uns noch an nichts gebricht, fällt es uns denn ein, etwas
  zu unserer übung zu tun und nur einigermaßen weiterzustreben? Wir
  treiben fremde Dinge und entfernen, den Schulkindern ähnlich, alles,
  was uns nur an unsre Lektion erinnern könnte."
  "Wahrhaftig", sagte Philine, "es ist unverantwortlich! Laßt uns ein
  Stück wählen; wir wollen es auf der Stelle spielen. Jeder muß sein
  möglichstes tun, als wenn er vor dem größten Auditorium stünde."
  Man überlegte nicht lange; das Stück ward bestimmt. Es war eines
  derer, die damals in Deutschland großen Beifall fanden und nun
  verschollen sind. Einige pfiffen eine Symphonie, jeder besann sich
  schnell auf seine Rolle, man fing an und spielte mit der größten
  Aufmerksamkeit das Stück durch, und wirklich über Erwartung gut. Man
  applaudierte sich wechselsweise; man hatte sich selten so wohl
  gehalten.
  Als sie fertig waren, empfanden sie alle ein ausnehmendes Vergnügen,
  teils über ihre wohlzugebrachte Zeit, teils weil jeder besonders mit
  sich zufrieden sein konnte. Wilhelm ließ sich weitläufig zu ihrem
  Lobe heraus, und ihre Unterhaltung war heiter und fröhlich.
  "Ihr solltet sehen", rief unser Freund, "wie weit wir kommen müßten,
  wenn wir unsre übungen auf diese Art fortsetzten und nicht bloß auf
  Auswendiglernen, Probieren und Spielen uns mechanisch pflicht- und
  handwerksmäßig einschränkten. Wieviel mehr Lob verdienen die
  Tonkünstler, wie sehr ergötzen sie sich, wie genau sind sie, wenn sie
  gemeinschaftlich ihre übungen vornehmem Wie sind sie bemüht, ihre
  Instrumente übereinzustimmen, wie genau halten sie Takt, wie zart
  wissen sie die Stärke und Schwäche des Tons auszudrücken! Keinem
  fällt es ein, sich bei dem Solo eines andern durch ein vorlautes
  Akkompagnieren Ehre zu machen. Jeder sucht in dem Geist und Sinne des
  Komponisten zu spielen und jeder das, was ihm aufgetragen ist, es mag
  viel oder wenig sein, gut auszudrücken. Sollten wir nicht ebenso
  genau und ebenso geistreich zu Werke gehen, da wir eine Kunst treiben,
  die noch viel zarter als jede Art von Musik ist, da wir die
  gewöhnlichsten und seltensten äußerungen der Menschheit geschmackvoll
  und ergötzend darzustellen berufen sind? Kann etwas abscheulicher
  sein, als in den Proben zu sudeln und sich bei der Vorstellung auf
  Laune und gut Glück zu verlassen? Wir sollten unser größtes Glück und
  Vergnügen dareinsetzen, miteinander übereinzustimmen, um uns
  wechselsweise zu gefallen, und auch nur insofern den Beifall des
  Publikums zu schätzen, als wir ihn uns gleichsam untereinander schon
  selbst garantiert hätten. Warum ist der Kapellmeister seines
  Orchesters gewisser als der Direktor seines Schauspiels? Weil dort
  jeder sich seines Mißgriffs, der das äußere Ohr beleidigt, schämen muß;
  aber wie selten hab ich einen Schauspieler verzeihliche und
  unverzeihliche Mißgriffe, durch die das innere Ohr so schnöde
  beleidigt wird, anerkennen und sich ihrer schämen sehen! Ich wünschte
  nur, daß das Theater so schmal wäre als der Draht eines Seiltänzers,
  damit sich kein Ungeschickter hinaufwagte, anstatt daß jetzo ein jeder
  sich Fähigkeit genug fühlt, darauf zu paradieren."
  Die Gesellschaft nahm diese Apostrophe gut auf, indem jeder überzeugt
  war, daß nicht von ihm die Rede sein könne, da er sich noch vor kurzem
  nebst den übrigen so gut gehalten. Man kam vielmehr überein, daß man
  in dem Sinne, wie man angefangen, auf dieser Reise und künftig, wenn
  man zusammen bliebe, eine gesellige Bearbeitung wolle obwalten lassen.
  Man fand nur, daß, weil dieses eine Sache der guten Laune und des
  freien Willens sei, so müsse sich eigentlich kein Direktor
  dareinmischen. Man nahm als ausgemacht an, daß unter guten Menschen
  die republikanische Form die beste sei; man behauptete, das Amt eines
  Direktors müsse herumgehen; er müsse von allen gewählt werden und eine
  Art von kleinem Senat ihm jederzeit beigesetzt bleiben. Sie waren so
  von diesem Gedanken eingenommen, daß sie wünschten, ihn gleich ins
  Werk zu richten.
  "Ich habe nichts dagegen", sagte Melina, "wenn ihr auf der Reise einen
  solchen Versuch machen wollt; ich suspendiere meine Direktorschaft
  gern, bis wir wieder an Ort und Stelle kommen." Er hoffte dabei zu
  sparen und manche Ausgaben der kleinen Republik oder dem
  Interimsdirektor aufzuwälzen. Nun ging man sehr lebhaft zu Rate, wie
  man die Form des neuen Staates aufs beste einrichten wolle.
  "Es ist ein wanderndes Reich", sagte Laertes; "wir werden wenigstens
  keine Grenzstreitigkeiten haben."
  Man schritt sogleich zur Sache und erwählte Wilhelmen zum ersten
  Direktor. Der Senat ward bestellt, die Frauen erhielten Sitz und
  Stimme, man schlug Gesetze vor, man verwarf, man genehmigte. Die Zeit
  ging unvermerkt unter diesem Spiele vorüber, und weil man sie angenehm
  zubrachte, glaubte man auch wirklich etwas Nützliches getan und durch
  die neue Form eine neue Aussicht für die vaterländische Bühne eröffnet
  zu haben.
  
  
  IV. Buch, 3. Kapitel
  
  
  Drittes Kapitel
  
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