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Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 3 - 1

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  Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 3
  Johann Wolfgang von Goethe
  
  
  
  Drittes Buch
  Erstes Kapitel
  
  Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
  Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
  Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
  Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
  Kennst du es wohl?
  
  Dahin! Dahin
  Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
  
  Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
  Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
  Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
  Was hat man dir, du armes Kind, getan?
  Kennst du es wohl?
  
  Dahin! Dahin
  Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
  
  Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
  Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
  In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
  Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
  Kennst du ihn wohl?
  
  Dahin! Dahin
  Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!
  
  Als Wilhelm des Morgens sich nach Mignon im Hause umsah, fand er sie
  nicht, hörte aber, daß sie früh mit Melina ausgegangen sei, welcher
  sich, um die Garderobe und die übrigen Theatergerätschaften zu
  übernehmen, beizeiten aufgemacht hatte.
  Nach Verlauf einiger Stunden hörte Wilhelm Musik vor seiner Türe. Er
  glaubte anfänglich, der Harfenspieler sei schon wieder zugegen; allein
  er unterschied bald die Töne einer Zither, und die Stimme, welche zu
  singen anfing, war Mignons Stimme. Wilhelm öffnete die Türe, das Kind
  trat herein und sang das Lied, das wir soeben aufgezeichnet haben.
  Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich
  die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen
  wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins
  Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne
  nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die
  gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende
  verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts
  verglichen werden.
  Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas
  Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen
  wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer;
  das "Kennst du es wohl?" drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus;
  in dem "Dahin! Dahin!" lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr
  "Laß uns ziehn!" wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu
  modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und
  vielversprechend war.
  Nachdem sie das Lied zum zweitenmal geendigt hatte, hielt sie einen
  Augenblick inne, sah Wilhelmen scharf an und fragte: "Kennst du das
  Land?"--"Es muß wohl Italien gemeint sein", versetzte Wilhelm; "woher
  hast du das Liedchen?"--"Italien!" sagte Mignon bedeutend, "gehst du
  nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier."--"Bist du schon
  dort gewesen, liebe Kleine?" fragte Wilhelm.--Das Kind war still und
  nichts weiter aus ihm zu bringen.
  Melina, der hereinkam, besah die Zither und freute sich, daß sie schon
  so hübsch zurechtgemacht sei. Das Instrument war ein Inventarienstück
  der alten Garderobe. Mignon hatte sich's diesen Morgen ausgebeten,
  der Harfenspieler bezog es sogleich, und das Kind entwickelte bei
  dieser Gelegenheit ein Talent, das man an ihm bisher noch nicht kannte.
  
  Melina hatte schon die Garderobe mit allem Zugehör übernommen; einige
  Glieder des Stadtrats versprachen ihm gleich die Erlaubnis, einige
  Zeit im Orte zu spielen. Mit frohem Herzen und erheitertem Gesicht
  kam er nunmehr wieder zurück. Er schien ein ganz anderer Mensch zu
  sein: denn er war sanft, höflich gegen jedermann, ja zuvorkommend und
  einnehmend. Er wünschte sich Glück, daß er nunmehr seine Freunde, die
  bisher verlegen und müßig gewesen, werde beschäftigen und auf eine
  Zeitlang engagieren können, wobei er zugleich bedauerte, daß er
  freilich zum Anfange nicht imstande sei, die vortrefflichen Subjekte,
  die das Glück ihm zugeführt, nach ihren Fähigkeiten und Talenten zu
  belohnen, da er seine Schuld einem so großmütigen Freunde, als Wilhelm
  sich gezeigt habe, vor allen Dingen abtragen müsse.
  "Ich kann Ihnen nicht ausdrücken", sagte Melina zu ihm, "welche
  Freundschaft Sie mir erzeigen, indem Sie mir zur Direktion eines
  Theaters verhelfen. Denn als ich Sie antraf, befand ich mich in einer
  sehr wunderlichen Lage. Sie erinnern sich, wie lebhaft ich Ihnen bei
  unsrer ersten Bekanntschaft meine Abneigung gegen das Theater sehen
  ließ, und doch mußte ich mich, sobald ich verheiratet war, aus Liebe
  zu meiner Frau, welche sich viel Freude und Beifall versprach, nach
  einem Engagement umsehen. Ich fand keins, wenigstens kein beständiges,
  dagegen aber glücklicherweise einige Geschäftsmänner, die eben in
  außerordentlichen Fällen jemanden brauchen konnten, der mit der Feder
  umzugehen wußte, Französisch verstand und im Rechnen nicht ganz
  unerfahren war. So ging es mir eine Zeitlang recht gut, ich ward
  leidlich bezahlt, schaffte mir manches an, und meine Verhältnisse
  machten mir keine Schande. Allein die außerordentlichen Aufträge
  meiner Gönner gingen zu Ende, an eine dauerhafte Versorgung war nicht
  zu denken, und meine Frau verlangte nur desto eifriger nach dem
  Theater, leider zu einer Zeit, wo ihre Umstände nicht die
  vorteilhaftesten sind, um sich dem Publikum mit Ehren darzustellen.
  Nun, hoffe ich, soll die Anstalt, die ich durch Ihre Hülfe einrichten
  werde, für mich und die Meinigen ein guter Anfang sein, und ich
  verdanke Ihnen mein künftiges Glück, es werde auch, wie es wolle."
  Wilhelm hörte diese äußerungen mit Zufriedenheit an, und die
  sämtlichen Schauspieler waren gleichfalls mit den Erklärungen des
  neuen Direktors so ziemlich zufrieden, freuten sich heimlich, daß sich
  so schnell ein Engagement zeige, und waren geneigt, für den Anfang mit
  einer geringen Gage vorliebzunehmen, weil die meisten dasjenige, was
  ihnen so unvermutet angeboten wurde, als einen Zuschuß ansahen, auf
  den sie vor kurzem noch nicht Rechnung machen konnten. Melina war im
  Begriff, diese Disposition zu benutzen, suchte auf eine geschickte
  Weise jeden besonders zu sprechen und hatte bald den einen auf diese,
  den andern auf eine andere Weise zu bereden gewußt, daß sie die
  Kontrakte geschwind abzuschließen geneigt waren, über das neue
  Verhältnis kaum nachdachten und sich schon gesichert glaubten, mit
  sechswöchentlicher Aufkündigung wieder loskommen zu können.
  Nun sollten die Bedingungen in gehörige Form gebracht werden, und
  Melina dachte schon an die Stücke, mit denen er zuerst das Publikum
  anlocken wollte, als ein Kurier dem Stallmeister die Ankunft der
  Herrschaft verkündigte und dieser die untergelegten Pferde vorzuführen
  befahl.
  Bald darauf fuhr der hochbepackte Wagen, von dessen Bocke zwei
  Bedienten heruntersprangen, vor dem Gasthause vor, und Philine war
  nach ihrer Art am ersten bei der Hand und stellte sich unter die Türe.
  "Wer ist Sie?" fragte die Gräfin im Hereintreten.
  "Eine Schauspielerin, Ihro Exzellenz zu dienen", war die Antwort,
  indem der Schalk mit einem gar frommen Gesichte und demütigen Gebärden
  sich neigte und der Dame den Rock küßte.
  Der Graf, der noch einige Personen umherstehen sah, die sich
  gleichfalls für Schauspieler ausgaben, erkundigte sich nach der Stärke
  der Gesellschaft, nach dem letzten Orte ihres Aufenthalts und ihrem
  Direktor. "Wenn es Franzosen wären", sagte er zu seiner Gemahlin,
  "könnten wir dem Prinzen eine unerwartete Freude machen und ihm bei
  uns seine Lieblingsunterhaltung verschaffen."
  "Es käme darauf an", versetzte die Gräfin, "ob wir nicht diese Leute,
  wenn sie schon unglücklicherweise nur Deutsche sind, auf dem Schloß,
  solange der Fürst bei uns bleibt, spielen ließen. Sie haben doch wohl
  einige Geschicklichkeit. Eine große Sozietät läßt sich am besten
  durch ein Theater unterhalten, und der Baron würde sie schon zustutzen."
  Unter diesen Worten gingen sie die Treppe hinauf, und Melina
  präsentierte sich oben als Direktor. "Ruf Er seine Leute zusammen",
  sagte der Graf, "und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an
  ihnen ist. Ich will auch zugleich die Liste von den Stücken sehen,
  die sie allenfalls aufführen könnten."
  Melina eilte mit einem tiefen Bücklinge aus dem Zimmer und kam bald
  mit den Schauspielern zurück. Sie drückten sich vor- und
  hintereinander, die einen präsentierten sich schlecht, aus großer
  Begierde zu gefallen, und die andern nicht besser, weil sie sich
  leichtsinnig darstellten. Philine bezeigte der Gräfin, die
  außerordentlich gnädig und freundlich war, alle Ehrfurcht; der Graf
  musterte indes die übrigen. Er fragte einen jeden nach seinem Fache
  und äußerte gegen Melina, daß man streng auf Fächer halten müsse,
  welchen Ausspruch dieser in der größten Devotion aufnahm.
  Der Graf bemerkte sodann einem jeden, worauf er besonders zu studieren,
  was er an seiner Figur und Stellung zu bessern habe, zeigte ihnen
  einleuchtend, woran es den Deutschen immer fehle, und ließ so
  außerordentliche Kenntnisse sehen, daß alle in der größten Demut vor
  so einem erleuchteten Kenner und erlauchten Beschützer standen und
  kaum Atem zu holen sich getrauten.
  "Wer ist der Mensch dort in der Ecke?" fragte der Graf, indem er nach
  einem Subjekte sah, das ihm noch nicht vorgestellt worden war, und
  eine hagre Figur nahte sich in einem abgetragenen, auf dem Ellbogen
  mit Fleckchen besetzten Rocke; eine kümmerliche Perücke bedeckte das
  Haupt des demütigen Klienten.
  Dieser Mensch, den wir schon aus dem vorigen Buche als Philinens
  Liebling kennen, pflegte gewöhnlich Pedanten, Magister und Poeten zu
  spielen und meistens die Rolle zu übernehmen, wenn jemand Schläge
  kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende,
  lächerliche, furchtsame Bücklinge angewöhnt, und seine stockende
  Sprache, die zu seinen Rollen paßte, machte die Zuschauer lachen, so
  daß er immer noch als ein brauchbares Glied der Gesellschaft angesehen
  wurde, besonders da er übrigens sehr dienstfertig und gefällig war.
  Er nahte sich auf seine Weise dem Grafen, neigte sich vor demselben
  und beantwortete jede Frage auf die Art, wie er sich in seinen Rollen
  auf dem Theater zu gebärden pflegte. Der Graf sah ihn mit gefälliger
  Aufmerksamkeit und mit überlegung eine Zeitlang an, alsdann rief er,
  indem er sich zu der Gräfin wendete: "Mein Kind, betrachte mit diesen
  Mann genau; ich hafte dafür, das ist ein großer Schauspieler oder kann
  es werden." Der Mensch machte von ganzem Herzen einen albernen
  Bückling, so daß der Graf laut über ihn lachen mußte und ausrief: "Er
  macht seine Sachen exzellent! Ich wette, dieser Mensch kann spielen,
  was er will, und es ist schade, daß man ihn bisher zu nichts Besserm
  gebraucht hat."
  Ein so außerordentlicher Vorzug war für die übrigen sehr kränkend, nur
  Melina empfand nichts davon, er gab vielmehr dem Grafen vollkommen
  recht und versetzte mit ehrfurchtsvoller Miene: "Ach ja, es hat wohl
  ihm und mehreren von uns nur ein solcher Kenner und eine solche
  Aufmunterung gefehlt, wie wir sie gegenwärtig an Eurer Exzellenz
  gefunden haben."
  "Ist das die sämtliche Gesellschaft?" sagte der Graf.
  "Es sind einige Glieder abwesend", versetzte der kluge Melina, "und
  überhaupt könnten wir, wenn wir nur Unterstützung fänden, sehr bald
  aus der Nachbarschaft vollzählig sein."
  Indessen sagte Philine zur Gräfin: "Es ist noch ein recht hübscher
  junger Mann oben, der sich gewiß bald zum ersten Liebhaber
  qualifizieren würde."
  "Warum läßt er sich nicht sehen?" versetzte die Gräfin.
  "Ich will ihn holen", rief Philine und eilte zur Türe hinaus.
  Sie fand Wilhelmen noch mit Mignon beschäftigt und beredete ihn, mit
  herunterzugehen. Er folgte ihr mit einigem Unwillen, doch trieb ihn
  die Neugier: denn da er von vornehmen Personen hörte, war er voll
  Verlangen, sie näher kennenzulernen. Er trat ins Zimmer, und seine
  Augen begegneten sogleich den Augen der Gräfin, die auf ihn gerichtet
  waren. Philine zog ihn zu der Dame, indes der Graf sich mit den
  übrigen beschäftigte. Wilhelm neigte sich und gab auf verschiedene
  Fragen, welche die reizende Dame an ihn tat, nicht ohne Verwirrung
  Antwort. Ihre Schönheit, Jugend, Anmut, Zierlichkeit und feines
  Betragen machten den angenehmsten Eindruck auf ihn, um so mehr, da
  ihre Reden und Gebärden mit einer gewissen Schamhaftigkeit, ja man
  dürfte sagen Verlegenheit begleitet waren. Auch dem Grafen ward er
  vorgestellt, der aber wenig acht auf ihn hatte, sondern zu seiner
  Gemahlin ans Fenster trat und sie um etwas zu fragen schien. Man
  konnte bemerken, daß ihre Meinung auf das lebhafteste mit der seinigen
  übereinstimmte, ja daß sie ihn eifrig zu bitten und ihn in seiner
  Gesinnung zu bestärken schien.
  Er kehrte sich darauf bald zu der Gesellschaft und sagte: "Ich kann
  mich gegenwärtig nicht aufhalten, aber ich will einen Freund zu euch
  schicken, und wenn ihr billige Bedingungen macht und euch recht viel
  Mühe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt, euch auf dem Schlosse
  spielen zu lassen."
  Alle bezeugten ihre große Freude darüber, und besonders küßte Philine
  mit der größten Lebhaftigkeit der Gräfin die Hände.
  "Sieht Sie, Kleine", sagte die Dame, indem sie dem leichtfertigen
  Mädchen die Backen klopfte, "sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder
  zu mir, ich will schon mein Versprechen halten, Sie muß sich nur
  besser anziehen." Philine entschuldigte sich, daß sie wenig auf ihre
  Garderobe zu verwenden habe, und sogleich befahl die Gräfin ihren
  Kammerfrauen, einen englischen Hut und ein seidnes Halstuch, die
  leicht auszupacken waren, heraufzugeben. Nun putzte die Gräfin selbst
  Philinen an, die fortfuhr, sich mit einer scheinheiligen, unschuldigen
  Miene gar artig zu gebärden und zu betragen.
  Der Graf bot seiner Gemahlin die Hand und führte sie hinunter. Sie
  grüßte die ganze Gesellschaft im Vorbeigehen freundlich und kehrte
  sich nochmals gegen Wilhelmen um, indem sie mit der huldreichsten
  Miene zu ihm sagte: "Wir sehen uns bald wieder."
  So glückliche Aussichten belebten die ganze Gesellschaft; jeder ließ
  nunmehr seinen Hoffnungen, Wünschen und Einbildungen freien Lauf,
  sprach von den Rollen, die er spielen, von dem Beifall, den er
  erhalten wollte. Melina überlegte, wie er noch geschwind durch einige
  Vorstellungen den Einwohnern des Städtchens etwas Geld abnehmen und
  zugleich die Gesellschaft in Atem setzen könne, indes andere in die
  Küche gingen, um ein besseres Mittagsessen zu bestellen, als man sonst
  einzunehmen gewohnt war.
  
  
  III. Buch, 2. Kapitel
  
  
  Zweites Kapitel
  Nach einigen Tagen kam der Baron, und Melina empfing ihn nicht ohne
  Furcht. Der Graf hatte ihn als einen Kenner angekündigt, und es war
  zu besorgen, er werde gar bald die schwache Seite des kleinen Haufens
  entdecken und einsehen, daß er keine formierte Truppe vor sich habe,
  indem sie kaum ein Stück gehörig besetzen konnten; allein sowohl der
  Direktor als die sämtlichen Glieder waren bald aus aller Sorge, da sie
  an dem Baron einen Mann fanden, der mit dem größten Enthusiasmus das
  vaterländische Theater betrachtete, dem ein jeder Schauspieler und
  jede Gesellschaft willkommen und erfreulich war. Er begrüßte sie alle
  mit Feierlichkeit, pries sich glücklich, eine deutsche Bühne so
  unvermutet anzutreffen, mit ihr in Verbindung zu kommen und die
  vaterländischen Musen in das Schloß seines Verwandten einzuführen. Er
  brachte bald darauf ein Heft aus der Tasche, in welchem Melina die
  Punkte des Kontraktes zu erblicken hoffte; allein es war ganz etwas
  anderes. Der Baron bat sie, ein Drama, das er selbst verfertigt und
  das er von ihnen gespielt zu sehen wünschte, mit Aufmerksamkeit
  anzuhören. Willig schlossen sie einen Kreis und waren erfreut, mit so
  geringen Kosten sich in der Gunst eines so notwendigen Mannes
  befestigen zu können, obgleich ein jeder nach der Dicke des Heftes
  übermäßig lange Zeit befürchtete. Auch war es wirklich so; das Stück
  war in fünf Akten geschrieben und von der Art, die gar kein Ende nimmt.
  
  Der Held war ein vornehmer, tugendhafter, großmütiger und dabei
  verkannter und verfolgter Mann, der aber denn doch zuletzt den Sieg
  über seine Feinde davontrug, über welche sodann die strengste
  poetische Gerechtigkeit ausgeübt worden wäre, wenn er ihnen nicht auf
  der Stelle verziehen hätte.
  Indem dieses Stück vorgetragen wurde, hatte jeder Zuhörer Raum genug,
  an sich selbst zu denken und ganz sachte aus der Demut, zu der er sich
  noch vor kurzem geneigt fühlte, zu einer glücklichen
  Selbstgefälligkeit emporzusteigen und von da aus die anmutigsten
  Aussichten in die Zukunft zu überschauen. Diejenigen, die keine ihnen
  angemessene Rolle in dem Stück fanden, erklärten es bei sich für
  schlecht und hielten den Baron für einen unglücklichen Autor, dagegen
  die andern eine Stelle, bei der sie beklatscht zu werden hofften, mit
  dem größten Lobe zur möglichsten Zufriedenheit des Verfassers
  verfolgten.
  Mit dem ökonomischen waren sie geschwind fertig. Melina wußte zu
  seinem Vorteil mit dem Baron den Kontrakt abzuschließen und ihn vor
  den übrigen Schauspielern geheimzuhalten.
  über Wilhelmen sprach Melina den Baron im Vorbeigehen und versicherte,
  daß er sich sehr gut zum Theaterdichter qualifiziere und zum
  Schauspieler selbst keine üblen Anlagen habe. Der Baron machte
  sogleich mit ihm als einem Kollegen Bekanntschaft, und Wilhelm
  produzierte einige kleine Stücke, die nebst wenigen Reliquien an jenem
  Tage, als er den größten Teil seiner Arbeiten in Feuer aufgehen ließ,
  durch einen Zufall gerettet wurden. Der Baron lobte sowohl die Stücke
  als den Vortrag, nahm als bekannt an, daß er mit hinüber auf das
  Schloß kommen würde, versprach bei seinem Abschiede allen die beste
  Aufnahme, bequeme Wohnung, gutes Essen, Beifall und Geschenke, und
  Melina setzte noch die Versicherung eines bestimmten Taschengeldes
  hinzu.
  Man kann denken, in welche gute Stimmung durch diesen Besuch die
  Gesellschaft gesetzt war, indem sie statt eines ängstlichen und
  niedrigen Zustandes auf einmal Ehre und Behagen vor sich sah. Sie
  machten sich schon zum voraus auf jene Rechnung lustig, und jedes
  hielt für unschicklich, nur noch irgendeinen Groschen Geld in der
  Tasche zu behalten.
  Wilhelm ging indessen mit sich zu Rate, ob er die Gesellschaft auf das
  Schloß begleiten solle, und fand in mehr als einem Sinne rätlich,
  dahin zu gehen. Melina hoffte, bei diesem vorteilhaften Engagement
  seine Schuld wenigstens zum Teil abtragen zu können, und unser Freund,
  der auf Menschenkenntnis ausging, wollte die Gelegenheit nicht
  versäumen, die große Welt näher kennenzulernen, in der er viele
  Aufschlüsse über das Leben, über sich selbst und die Kunst zu erlangen
  hoffte. Dabei durfte er sich nicht gestehen, wie sehr er wünsche, der
  schönen Gräfin wieder näher zu kommen. Er suchte sich vielmehr im
  allgemeinen zu überzeugen, welchen großen Vorteil ihm die nähere
  Kenntnis der vornehmen und reichen Welt bringen würde. Er machte
  seine Betrachtungen über den Grafen, die Gräfin, den Baron, über die
  Sicherheit, Bequemlichkeit und Anmut ihres Betragens und rief, als er
  allein war, mit Entzücken aus:
  "Dreimal glücklich sind diejenigen zu preisen, die ihre Geburt
  sogleich über die untern Stufen der Menschheit hinaushebt; die durch
  jene Verhältnisse, in welchen sich manche gute Menschen die ganze Zeit
  ihres Lebens abängstigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal darin
  als Gäste zu verweilen brauchen. Allgemein und richtig muß ihr Blick
  auf dem höheren Standpunkte werden, leicht ein jeder Schritt ihres
  Lebens! Sie sind von Geburt an gleichsam in ein Schiff gesetzt, um
  bei der überfahrt, die wir alle machen müssen, sich des günstigen
  Windes zu bedienen und den widrigen abzuwarten, anstatt daß andere nur
  für ihre Person schwimmend sich abarbeiten, vom günstigen Winde wenig
  Vorteil genießen und im Sturme mit bald erschöpften Kräften untergehen.
  Welche Bequemlichkeit, welche Leichtigkeit gibt ein angebornes
  Vermögen! und wie sicher blühet ein Handel, der auf ein gutes Kapital
  gegründet ist, so daß nicht jeder mißlungene Versuch sogleich in
  Untätigkeit versetzt! Wer kann den Wert und Unwert irdischer Dinge
  besser kennen, als der sie zu genießen von Jugend auf im Falle war,
  und wer kann seinen Geist früher auf das Notwendige, das Nützliche,
  das Wahre leiten, als der sich von so vielen Irrtümern in einem Alter
  überzeugen muß, wo es ihm noch an Kräften nicht gebricht, ein neues
  Leben anzufangen!"
  So rief unser Freund allen denenjenigen Glück zu, die sich in den
  höheren Regionen befinden; aber auch denen, die sich einem solchen
  Kreise nähern, aus diesen Quellen schöpfen können, und pries seinen
  Genius, der Anstalt machte, auch ihn diese Stufen hinanzuführen.
  Indessen mußte Melina, nachdem er lange sich den Kopf zerbrochen, wie
  er nach dem Verlangen des Grafen und nach seiner eigenen überzeugung
  die Gesellschaft in Fächer einteilen und einem jeden seine bestimmte
  Mitwirkung übertragen wollte, zuletzt, da es an die Ausführung kam,
  sehr zufrieden sein, wenn er bei einem so geringen Personal die
  Schauspieler willig fand, sich nach Möglichkeit in diese oder jene
  Rollen zu schicken. Doch übernahm gewöhnlich Laertes die Liebhaber,
  Philine die Kammermädchen, die beiden jungen Frauenzimmer teilten sich
  in die naiven und zärtlichen Liebhaberinnen, der alte Polterer ward am
  besten gespielt. Melina selbst glaubte als Chevalier auftreten zu
  dürfen, Madame Melina mußte zu ihrem größten Verdruß in das Fach der
  jungen Frauen, ja sogar der zärtlichen Mütter übergehen, und weil in
  den neuern Stücken nicht leicht mehr ein Pedant oder Poet, wenn er
  auch vorkommen sollte, lächerlich gemacht wird, so mußte der bekannte
  Günstling des Grafen nunmehr die Präsidenten und Minister spielen,
  weil diese gewöhnlich als Bösewichter vorgestellt und im fünften Akte
  übel behandelt werden. Ebenso steckte Melina mit Vergnügen als
  Kammerjunker oder Kammerherr die Grobheiten ein, welche ihm von
  biedern deutschen Männern hergebrachtermaßen in mehreren beliebten
  Stücken aufgedrungen wurden, weil er sich doch bei dieser Gelegenheit
  artig herausputzen konnte und das Air eines Hofmannes, das er
  vollkommen zu besitzen glaubte, anzunehmen die Erlaubnis hatte.
  Es dauerte nicht lange, so kamen von verschiedenen Gegenden mehrere
  Schauspieler herbeigeflossen, welche ohne sonderliche Prüfung
  angenommen, aber auch ohne sonderliche Bedingungen festgehalten wurden.
  
  Wilhelm, den Melina vergebens einigemal zu einer Liebhaberrolle zu
  bereden suchte, nahm sich der Sache mit vielem guten Willen an, ohne
  daß unser neuer Direktor seine Bemühungen im mindesten anerkannte;
  vielmehr glaubte dieser mit seiner Würde auch alle nötige Einsicht
  überkommen zu haben; besonders war das Streichen eine seiner
  angenehmsten Beschäftigungen, wodurch er ein jedes Stück auf das
  gehörige Zeitmaß herunterzusetzen wußte, ohne irgendeine andere
  Rücksicht zu nehmen. Er hatte viel Zuspruch, das Publikum war sehr
  zufrieden, und die geschmackvollsten Einwohner des Städtchens
  behaupteten, daß das Theater in der Residenz keinesweges so gut als
  das ihre bestellt sei.
  
  
  III. Buch, 3. Kapitel
  
  
  Drittes Kapitel
  Endlich kam die Zeit herbei, daß man sich zur überfahrt schicken, die
  Kutschen und Wagen erwarten sollte, die unsere Truppe nach dem
  Schlosse des Grafen hinüberzuführen bestellt waren. Schon zum voraus
  fielen große Streitigkeiten vor, wer mit dem andern fahren, wie man
  sitzen sollte. Die Ordnung und Einteilung ward endlich nur mit Mühe
  ausgemacht und festgesetzt, doch leider ohne Wirkung. Zur bestimmten
  Stunde kamen weniger Wagen, als man erwartet hatte, und man mußte sich
  einrichten. Der Baron, der zu Pferde nicht lange hintendrein folgte,
  gab zur Ursache an, daß im Schlosse alles in großer Bewegung sei, weil
  nicht allein der Fürst einige Tage früher eintreffen werde, als man
  geglaubt, sondern weil auch unerwarteter Besuch schon gegenwärtig
  angelangt sei; der Platz gehe sehr zusammen, sie würden auch deswegen
  nicht so gut logieren, als man es ihnen vorher bestimmt habe, welches
  ihm außerordentlich leid tue.
  Man teilte sich in die Wagen, so gut es gehen wollte, und da leidlich
  Wetter und das Schloß nur einige Stunden entfernt war, machten sich
  die Lustigsten lieber zu Fuße auf den Weg, als daß sie die Rückkehr
  der Kutschen hätten abwarten sollen. Die Karawane zog mit
  Freudengeschrei aus, zum erstenmal ohne Sorgen, wie der Wirt zu
  bezahlen sei. Das Schloß des Grafen stand ihnen wie ein Feengebäude
  vor der Seele, sie waren die glücklichsten und fröhlichsten Menschen
  von der Welt, und jeder knüpfte unterwegs an diesen Tag, nach seiner
  Art zu denken, eine Reihe von Glück, Ehre und Wohlstand.
  Ein starker Regen, der unerwartet einfiel, konnte sie nicht aus diesen
  angenehmen Empfindungen reißen; da er aber immer anhaltender und
  stärker wurde, spürten viele von ihnen eine ziemliche Unbequemlichkeit.
  Die Nacht kam herbei, und erwünschter konnte ihnen nichts erscheinen
  als der durch alle Stockwerke erleuchtete Palast des Grafen, der ihnen
  von einem Hügel entgegenglänzte, so daß sie die Fenster zählen konnten.
  
  Als sie näher kamen, fanden sie auch alle Fenster der Seitengebäude
  erhellet. Ein jeder dachte bei sich, welches wohl sein Zimmer werden
  möchte, und die meisten begnügten sich bescheiden mit einer Stube in
  der Mansarde oder den Flügeln.
  Nun fuhren sie durch das Dorf und am Wirtshause vorbei. Wilhelm ließ
  halten, um dort abzusteigen; allein der Wirt versicherte, daß er ihm
  nicht den geringsten Raum anweisen könne. Der Herr Graf habe, weil
  unvermutete Gäste angekommen, sogleich das ganze Wirtshaus besprochen,
  an allen Zimmern stehe schon seit gestern mit Kreide deutlich
  angeschrieben, wer darin wohnen solle. Wider seinen Willen mußte also
  unser Freund mit der übrigen Gesellschaft zum Schloßhofe hineinfahren.
  Um die Küchenfeuer in einem Seitengebäude sahen sie geschäftige Köche
  sich hin und her bewegen und waren durch diesen Anblick schon erquickt;
  eilig kamen Bediente mit Lichtern auf die Treppe des Hauptgebäudes
  gesprungen, und das Herz der guten Wanderer quoll über diesen
  Aussichten auf. Wie sehr verwunderten sie sich dagegen, als sich
  dieser Empfang in ein entsetzliches Fluchen auflöste. Die Bedienten
  schimpften auf die Fuhrleute, daß sie hier hereingefahren seien; sie
  sollten umwenden, rief man, und wieder hinaus nach dem alten Schlosse
  zu, hier sei kein Raum für diese Gäste! Einem so unfreundlichen und
  unerwarteten Bescheide fügten sie noch allerlei Spöttereien hinzu und
  lachten sich untereinander aus, daß sie durch diesen Irrtum in den
  Regen gesprengt worden. Es goß noch immer, keine Sterne standen am
  Himmel, und nun wurde die Gesellschaft durch einen holperichten Weg
  zwischen zwei Mauern in das alte, hintere Schloß gezogen, welches
  unbewohnt dastand, seit der Vater des Grafen das vordere gebaut hatte.
  Teils im Hofe, teils unter einem langen, gewölbten Torwege hielten
  die Wagen still, und die Fuhrleute, Anspanner aus dem Dorfe, spannten
  aus und ritten ihrer Wege.
  Da niemand zum Empfange der Gesellschaft sich zeigte, stiegen sie aus,
  riefen, suchten, vergebens! Alles blieb finster und stille. Der Wind
  blies durch das hohe Tor, und grauerlich waren die alten Türme und
  Höfe, wovon sie kaum die Gestalten in der Finsternis unterschieden.
  Sie froren und schauerten, die Frauen fürchteten sich, die Kinder
  fingen an zu weinen, ihre Ungeduld vermehrte sich mit jedem
  Augenblicke, und ein so schneller Glückswechsel, auf den niemand
  vorbereitet war, brachte sie alle ganz und gar aus der Fassung.
  Da sie jeden Augenblick erwarteten, daß jemand kommen und ihnen
  aufschließen werde, da bald Regen, bald Sturm sie täuschte und sie
  mehr als einmal den Tritt des erwünschten Schloßvogts zu hören
  glaubten, blieben sie eine lange Zeit unmutig und untätig, es fiel
  keinem ein, in das neue Schloß zu gehen und dort mitleidige Seelen um
  Hülfe anzurufen. Sie konnten nicht begreifen, wo ihr Freund, der
  Baron, geblieben sei, und waren in einer höchst beschwerlichen Lage.
  Endlich kamen wirklich Menschen an, und man erkannte an ihren Stimmen
  
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