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Schach von Wuthenow - 01

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58.3 süzlär 8000 iñ yış oçrıy torgan süzlärgä kerä.
  Schach von Wuthenow
  
  
  Von ~Theodor Fontane~ erschienen in gleichem Verlage:
  ~L'Adultera.~ Roman aus der Berliner Gesellschaft.
  ~Cécile.~ Roman.
  ~Graf Petöfy.~ Roman.
  ~Irrungen Wirrungen.~ Berliner Roman.
  ~Stine.~ Berliner Sitten-Roman.
  ~Kriegsgefangen.~ Erlebtes 1870.
  ~Aus den Tagen der Occupation.~ Eine Osterreise.
  ~Frau Jenny Treibel.~ Roman.
  ~Meine Kinderjahre.~ Autobiographischer Roman.
  ~Von vor und nach der Reise.~ Plaudereien und kleine Geschichten.
  ~Effi Briest.~ Roman.
  ~Die Poggenpuhls.~ Erzählung.
  ~Von Zwanzig bis Dreissig.~ Autobiographisches.
  ~Der Stechlin.~ Roman.
  ~Aus England und Schottland.~ Reisebilder.
  
  Gesammelte Romane und Erzählungen.
  Ausgabe in 12 Bänden mit dem Bilde des Dichters.
  =Inhalt=: ~L'Adultera.~ Roman aus der Berliner Gesellschaft. --
  Ellernklipp. Nach einem Harzer Kirchenbuch. -- ~Graf Petöfy.~ Roman. --
  ~Unterm Birnbaum.~ Erzählung. -- ~Schach von Wuthenow.~ Erzählung. --
  ~Grete Minde.~ Nach einer altmärkischen Chronik. -- ~Vor dem Sturm.~
  Roman aus dem Winter 1812 auf 13. -- ~Irrungen Wirrungen.~ Berliner
  Roman. -- ~Stine.~ Berliner Sitten-Roman. -- ~Kriegsgefangen.~ Erlebtes
  1870.
  
  
   Schach von Wuthenow
   Erzählung
   aus der Zeit des Regiments Gensdarmes
   von
   Theodor Fontane
   Vierte Auflage.
   Berlin W
   F. Fontane & Co.
   1901
  
  
   Alle Rechte, vor allem das der Uebersetzung, vorbehalten.
  
  
  Erstes Kapitel.
  Im Salon der Frau von Carayon.
  
  In dem Salon der in der Behrenstraße wohnenden Frau von Carayon und
  ihrer Tochter Victoire waren an ihrem gewöhnlichen Empfangsabend einige
  Freunde versammelt, aber freilich wenige nur, da die große Hitze des
  Tages auch die treuesten Anhänger des Zirkels ins Freie gelockt hatte.
  Von den Offizieren des Regiments Gensdarmes, die selten an einem dieser
  Abende fehlten, war nur einer erschienen, ein Herr von Alvensleben, und
  hatte neben der schönen Frau vom Hause Platz genommen unter
  gleichzeitigem scherzhaftem Bedauern darüber, daß gerade =der= fehle,
  dem dieser Platz in Wahrheit gebühre.
  Beiden gegenüber, an der der Mitte des Zimmers zugekehrten Tischseite,
  saßen zwei Herren in Civil, die, seit wenig Wochen erst heimisch in
  diesem Kreise, sich nichtsdestoweniger bereits eine dominirende Stellung
  innerhalb desselben errungen hatten. Am entschiedensten der um einige
  Jahre jüngere von beiden, ein ehemaliger Stabskapitän, der, nach einem
  abenteuernden Leben in England und den Unionsstaaten in die Heimat
  zurückgekehrt, allgemein als das Haupt jener militärischen Frondeurs
  angesehen wurde, die damals die politische Meinung der Hauptstadt
  machten, beziehungsweise terrorisirten. Sein Name war von Bülow.
  Nonchalance gehörte mit zur Genialität, und so focht er denn, beide Füße
  weit vorgestreckt und die linke Hand in der Hosentasche, mit seiner
  Rechten in der Luft umher, um durch lebhafte Gestikulationen seinem
  Kathedervortrage Nachdruck zu geben. Er konnte, wie seine Freunde
  sagten, nur sprechen um Vortrag zu halten, und -- er sprach eigentlich
  immer. Der starke Herr neben ihm war der Verleger seiner Schriften, Herr
  Daniel Sander, im Uebrigen aber sein vollkommener Widerpart, wenigstens
  in allem was Erscheinung anging. Ein schwarzer Vollbart umrahmte sein
  Gesicht, das ebensoviel Behagen wie Sarkasmus ausdrückte, während ihm
  der in der Taille knapp anschließende Rock von niederländischem Tuche
  sein Embonpoint zusammenschnürte. Was den Gegensatz vollendete, war die
  feinste weiße Wäsche, worin Bülow keineswegs excellirte.
  Das Gespräch, das eben geführt wurde, schien sich um die kurz vorher
  beendete Haugwitzsche Mission zu drehen, die, nach Bülows Ansicht, nicht
  nur ein wünschenswerthes Einvernehmen zwischen Preußen und Frankreich
  wieder hergestellt, sondern uns auch den Besitz von Hannover noch als
  »Morgengabe« mit eingetragen habe. Frau von Carayon aber bemängelte
  diese »Morgengabe«, weil man nicht gut geben oder verschenken könne, was
  man nicht habe, bei welchem Worte die bis dahin unbemerkt am Theetisch
  beschäftigt gewesene Tochter Victoire der Mutter einen zärtlichen Blick
  zuwarf, während Alvensleben der schönen Frau die Hand küßte.
  »Ihrer Zustimmung, lieber Alvensleben,« nahm Frau von Carayon das Wort,
  »war ich sicher. Aber sehen Sie, wie minos- und rhadamantusartig unser
  Freund Bülow dasitzt. Er brütet mal wieder Sturm, Victoire, reiche Herrn
  von Bülow von den Karlsbader Oblaten. Es ist, glaub' ich, das Einzige,
  was er von Oesterreich gelten läßt. Inzwischen unterhält uns Herr Sander
  von unsern Fortschritten in der neuen Provinz. Ich fürchte nur, daß sie
  nicht groß sind.«
  »Oder sagen wir lieber, gar nicht existiren,« erwiderte Sander. »Alles
  was zum welfischen Löwen oder zum springenden Roß hält, will sich nicht
  preußisch regieren lassen. Und ich verdenk es Keinem. Für die Polen
  reichten wir allenfalls aus. Aber die Hannoveraner sind feine Leute.«
  »Ja, das sind sie,« bestätigte Frau von Carayon, während sie gleich
  danach hinzufügte: »Vielleicht auch etwas hochmüthig.«
  »Etwas!« lachte Bülow. »O, meine Gnädigste, wer doch allzeit einer
  ähnlichen Milde begegnete. Glauben Sie mir, ich kenne die Hannoveraner
  seit lange, hab ihnen in meiner Altmärker-Eigenschaft so zu sagen von
  Jugend auf über den Zaun gekuckt, und darf Ihnen danach versichern, daß
  alles das, was mir England so zuwider macht, in diesem welfischen
  Stammlande doppelt anzutreffen ist. Ich gönn' ihnen deshalb die
  Zuchtruthe, die wir ihnen bringen. Unsere preußische Wirthschaft ist
  erbärmlich, und Mirabeau hatte Recht, den gepriesenen Staat Friedrichs
  des Großen mit einer Frucht zu vergleichen, die schon faul sei, bevor
  sie noch reif geworden, aber faul oder nicht, =Eines= haben wir
  wenigstens: ein Gefühl davon, daß die Welt in diesen letzten funfzehn
  Jahren einen Schritt vorwärts gemacht hat, und daß sich die großen
  Geschicke derselben nicht nothwendig zwischen Nuthe und Notte vollziehen
  müssen. In Hannover aber glaubt man immer noch an eine Spezialaufgabe
  Kalenbergs und der Lüneburger Haide. _Nomen est omen._ Es ist der Sitz
  der Stagnation, eine Brutstätte der Vorurtheile. =Wir= wissen
  wenigstens, daß wir nichts taugen, und in dieser Erkenntniß ist die
  Möglichkeit der Besserung gegeben. Im Einzelnen bleiben wir hinter ihnen
  zurück, zugegeben, aber im Ganzen sind wir ihnen voraus, und darin
  steckt ein Anspruch und ein Recht, die wir geltend machen müssen. Daß
  wir, trotz Sander, in Polen eigentlich gescheitert sind, beweist nichts;
  der Staat strengte sich nicht an und hielt seine Steuereinnehmer gerade
  für gut genug, um die Kultur nach Osten zu tragen. In soweit mit Recht,
  als selbst ein Steuereinnehmer die Ordnung vertritt, wenn auch freilich
  von der unangenehmen Seite.«
  Victoire, die von dem Augenblick an, wo Polen mit ins Gespräch gezogen
  worden war, ihren Platz am Theetisch aufgegeben hatte, drohte jetzt zu
  dem Sprecher hinüber und sagte: »Sie müssen wissen, Herr von Bülow, daß
  ich die Polen liebe, sogar _de tout mon coeur_.« Und dabei beugte sie
  sich aus dem Schatten in den Lichtschein der Lampe vor, in dessen Helle
  man jetzt deutlich erkennen konnte, daß ihr feines Profil einst dem der
  Mutter geglichen haben mochte, durch zahlreiche Blatternarben aber um
  seine frühere Schönheit gekommen war.
  Jeder mußt' es sehen, und der Einzige, der es =nicht= sah, oder, wenn er
  es sah, als absolut gleichgültig betrachtete, war Bülow. Er wiederholte
  nur: »o ja, die Polen. Es sind die besten Mazurkatänzer, und darum
  lieben Sie sie.«
  »Nicht doch. Ich liebe sie, weil sie ritterlich und unglücklich sind.«
  »Auch das. Es läßt sich dergleichen sagen. Und um dies ihr Unglück
  könnte man sie beinah beneiden, denn es trägt ihnen die Sympathien aller
  Damenherzen ein. In Fraueneroberungen haben sie, von alter Zeit her, die
  glänzendste Kriegsgeschichte.«
  »Und wer rettete ....«
  »Sie kennen meine ketzerischen Ansichten über Rettungen. Und nun gar
  Wien! Es wurde gerettet. Allerdings. Aber wozu? Meine Phantasie schwelgt
  ordentlich in der Vorstellung, eine Favoritsultanin in der Krypta der
  Kapuziner stehen zu sehen. Vielleicht da, wo jetzt Maria Theresia steht.
  Etwas vom Islam ist bei diesen Hahndel- und Fasahndelmännern immer zu
  Hause gewesen, und Europa hätt' ein bischen mehr von Serail- oder
  Haremwirthschaft ohne großen Schaden ertragen ....«
  Ein eintretender Diener meldete den Rittmeister von Schach, und ein
  Schimmer freudiger Ueberraschung überflog beide Damen, als der
  Angemeldete gleich darnach eintrat. Er küßte der Frau von Carayon die
  Hand, verneigte sich gegen Victoire, und begrüßte dann Alvensleben mit
  Herzlichkeit, Bülow und Sander aber mit Zurückhaltung.
  »Ich fürchte, Herrn von Bülow unterbrochen zu haben ....«
  »Ein allerdings unvermeidlicher Fall,« antwortete Sander und rückte
  seinen Stuhl zur Seite. Man lachte, Bülow selbst stimmte mit ein, und
  nur an Schachs mehr als gewöhnlicher Zurückhaltung ließ sich erkennen,
  daß er entweder unter dem Eindruck eines ihm persönlich unangenehmen
  Ereignisses oder aber einer politisch unerfreulichen Nachricht in den
  Salon eingetreten sein müsse.
  »Was bringen Sie, lieber Schach? Sie sind präokkupirt. Sind neue
  Stürme ....«
  »Nicht =das=, gnädigste Frau, nicht das. Ich komme von der Gräfin
  Haugwitz, bei der ich um so häufiger verweile, je mehr ich mich von dem
  Grafen und seiner Politik zurückziehe. Die Gräfin weiß es und billigt
  mein Benehmen. Eben begannen wir ein Gespräch, als sich draußen vor dem
  Palais eine Volksmasse zu sammeln begann, erst Hunderte, dann Tausende.
  Dabei wuchs der Lärm und zuletzt ward ein Stein geworfen und flog an dem
  Tisch vorbei, daran wir saßen. Ein Haar breit und die Gräfin wurde
  getroffen. Wovon sie aber =wirklich= getroffen wurde, das waren die
  Worte, die Verwünschungen, die heraufklangen. Endlich erschien der Graf
  selbst. Er war vollkommen gefaßt und verleugnete keinen Augenblick den
  Kavalier. Es währte jedoch lang', eh' die Straße gesäubert werden
  konnte. Sind wir bereits dahin gekommen? Emeute, Krawall. Und das im
  Lande Preußen, unter den Augen Seiner Majestät.«
  »Und speziell =uns= wird man für diese Geschehnisse verantwortlich
  machen,« unterbrach Alvensleben, »speziell =uns= von den Gensdarmes. Man
  weiß, daß wir diese Liebedienerei gegen Frankreich mißbilligen, von der
  wir schließlich nichts haben als gestohlene Provinzen. Alle Welt weiß,
  wie wir dazu stehen, auch bei Hofe weiß man's, und man wird nicht
  säumen, =uns= diese Zusammenrottung in die Schuh zu schieben.«
  »Ein Anblick für Götter,« sagte Sander. »Das Regiment Gensdarmes unter
  Anklage von Hochverrath und Krawall.«
  »Und nicht mit Unrecht,« fuhr Bülow in jetzt wirklicher Erregung
  dazwischen. »Nicht mit Unrecht, sag' ich. Und das witzeln Sie nicht
  fort, Sander. Warum führen die Herren, die jeden Tag klüger sein wollen,
  als der König und seine Minister, warum führen sie diese Sprache? Warum
  politisiren sie? Ob eine Truppe politisiren darf, stehe dahin, aber
  =wenn= sie politisirt, so politisire sie wenigstens richtig. Endlich
  sind wir jetzt auf dem rechten Weg, endlich stehen wir da, wo wir von
  Anfang an hätten stehen sollen, endlich hat Seine Majestät den
  Vorstellungen der Vernunft Gehör gegeben und was geschieht? Unsere
  Herren Offiziere, deren drittes Wort der König und ihre Loyalität ist,
  und denen doch immer nur wohl wird, wenn es nach Rußland und Juchten und
  recht wenig nach Freiheit riecht, unsere Herren Offiziere, sag' ich,
  gefallen sich plötzlich in einer ebenso naiven wie gefährlichen
  Oppositionslust, und fordern durch ihr keckes Thun und ihre noch
  keckeren Worte den Zorn des kaum besänftigten Imperators heraus.
  Dergleichen verpflanzt sich dann leicht auf die Gasse. Die Herren vom
  Regiment Gensdarmes werden freilich den Stein nicht selber heben, der
  schließlich bis an den Theetisch der Gräfin fliegt, aber sie sind doch
  die moralischen Urheber dieses Krawalles, =sie= haben die Stimmung dazu
  gemacht.«
  »Nein, diese Stimmung war da.«
  »Gut. Vielleicht war sie da. Aber =wenn= sie da war, so galt es, sie zu
  bekämpfen, nicht aber sie zu nähren. Nähren wir sie, so beschleunigen
  wir unsern Untergang. Der Kaiser wartet nur auf eine Gelegenheit, wir
  sind mit vielen Posten in sein Schuldbuch eingetragen, und zählt er erst
  die Summe, so sind wir verloren.«
  »Glaub's nicht,« antwortete Schach. »Ich vermag Ihnen nicht zu folgen,
  Herr von Bülow.«
  »Was ich beklage.«
  »Ich desto weniger. Es trifft sich bequem für Sie, daß Sie mich und
  meine Kameraden über Landes- und Königstreue belehren und aufklären
  dürfen, denn die Grundsätze, zu denen Sie sich bekennen, sind momentan
  obenauf. Wir stehen jetzt nach Ihrem Wunsch und allerhöchstem Willen am
  Tische Frankreichs und lesen die Brosamen auf, die von des Kaisers
  Tische fallen. Aber auf wie lange? Der Staat Friedrichs des Großen muß
  sich wieder auf sich selbst besinnen.«
  »So er's nur thäte,« replizirte Bülow. »Aber das versäumt er eben. Ist
  dies Schwanken, dies immer noch halbe Stehen zu Rußland und Oesterreich,
  das uns dem Empereur entfremdet, ist das Fridericianische Politik? Ich
  frage Sie?«
  »Sie mißverstehen mich.«
  »So bitt ich, mich aus dem Mißverständniß zu reißen.«
  »Was ich wenigstens versuchen will .... Uebrigens =wollen= Sie mich
  mißverstehen, Herr von Bülow. Ich bekämpfe nicht das französische
  Bündniß, weil es ein Bündniß ist, auch nicht =deshalb=, weil es nach Art
  aller Bündnisse darauf aus ist, unsere Kraft zu diesem oder jenem Zweck
  zu doubliren. O, nein; wie könnt' ich? Allianzen sind Mittel, deren
  =jede= Politik bedarf; auch der große König hat sich dieser Mittel
  bedient und innerhalb dieser Mittel beständig =gewechselt=. Aber =nicht=
  gewechselt hat er in seinem Endzweck. Dieser war unverrückt: ein starkes
  und selbstständiges Preußen. Und nun frag' ich Sie, Herr von Bülow, ist
  =das=, was uns Graf Haugwitz heimgebracht hat, und was sich Ihrer
  Zustimmung so sehr erfreut, ist =das= ein starkes und selbstständiges
  Preußen? Sie haben =mich= gefragt, nun frag ich =Sie=.«
  
  
  Zweites Kapitel.
  »Die Weihe der Kraft.«
  
  Bülow, dessen Züge den Ausdruck einer äußersten Ueberheblichkeit
  anzunehmen begannen, wollte repliziren, aber Frau von Carayon unterbrach
  und sagte: »Lernen wir etwas aus der Politik unserer Tage: wo nicht
  Friede sein kann, da sei wenigstens Waffenstillstand. Auch hier .... Und
  nun rathen Sie, lieber Alvensleben, wer heute hier war, uns seinen
  Besuch zu machen? Eine Berühmtheit. Und von der Rahel Lewin uns
  zugewiesen.«
  »Also der Prinz,« sagte Alvensleben.
  »O nein, berühmter oder doch wenigstens tagesberühmter. Der Prinz ist
  eine etablirte Celebrität, und Celebritäten, die zehn Jahre gedauert
  haben, sind keine mehr .... Ich will Ihnen übrigens zu Hilfe kommen, es
  geht ins Litterarische hinüber, und so möcht' ich denn auch annehmen,
  daß uns Herr Sander das Räthsel lösen wird.«
  »Ich will es wenigstens versuchen, gnädigste Frau, wobei mir Ihr
  Zutrauen vielleicht eine gewisse Weihekraft, oder sagen wirs lieber rund
  heraus, eine gewisse ›Weihe der Kraft‹ verleihen wird.«
  »O vorzüglich. Ja, Zacharias Werner war hier. Leider waren wir aus, und
  so sind wir denn um den uns zugedachten Besuch gekommen. Ich hab es sehr
  bedauert.«
  »Sie sollten sich umgekehrt beglückwünschen, einer Enttäuschung
  entgangen zu sein,« nahm Bülow das Wort. »Es ist selten, daß die Dichter
  der Vorstellung entsprechen, die wir uns von ihnen machen. Wir erwarten
  einen Olympier, einen Nektar- und Ambrosiamann, und sehen statt dessen
  einen Gourmand einen Putenbraten verzehren; wir erwarten Mittheilungen
  aus seiner geheimsten Zwiesprach mit den Göttern und hören ihn von
  seinem letzten Orden erzählen oder wohl gar die allergnädigsten Worte
  citiren, die Serenissimus über das jüngste Kind seiner Muse geäußert
  hat. Vielleicht auch Serenissima, was immer das denkbar Albernste
  bedeutet.«
  »Aber doch schließlich nichts Alberneres, als das Urtheil solcher, die
  den Vorzug haben, in einem Stall oder einer Scheune geboren zu sein,«
  sagte Schach spitz.
  »Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern, mein sehr verehrter Herr von Schach,
  auch auf =diesem= Gebiete widersprechen. Der Unterschied, den Sie
  bezweifeln, ist wenigstens nach =meinen= Erfahrungen thatsächlich
  vorhanden, und zwar, wie Sie mir zu wiederholen gestatten wollen, zu
  =Nicht=-Gunsten von Serenissimus. In der Welt der kleinen Leute steht
  das Urtheil an und für sich nicht höher, aber die verlegene
  Bescheidenheit, darin sich's kleidet und das stotternde
  Schlechte-Gewissen, womit es zu Tage tritt, haben allemal etwas
  Versöhnendes. Und nun spricht der Fürst! Er ist der Gesetzgeber seines
  Landes in all und jedem, in Großem und Kleinem, also natürlich auch in
  Aestheticis. Wer über Leben und Tod entscheidet, sollte der nicht auch
  über ein Gedichtchen entscheiden können? Ah, bah! Er mag sprechen was er
  will, es sind immer Tafeln direkt vom Sinai. Ich habe solche zehn Gebote
  mehr als einmal verkünden hören und weiß seitdem was es heißt: _regarder
  dans le Néant_.«
  »Und doch stimm' ich der Mama bei,« bemerkte Victoire, der daran lag das
  Gespräch auf seinen Anfang, auf das Stück und seinen Dichter also
  zurückzuführen. »Es wäre mir wirklich eine Freude gewesen, den
  ›tagesberühmten Herrn‹, wie Mama ihn einschränkend genannt hat, kennen
  zu lernen. Sie vergessen, Herr von Bülow, daß wir =Frauen= sind, und daß
  wir als solche ein Recht haben, neugierig zu sein. An einer Berühmtheit
  wenig Gefallen zu finden, ist schließlich immer noch besser, als sie gar
  nicht gesehen zu haben.«
  »Und wir werden ihn in der That nicht mehr sehen, in aller Bestimmtheit
  nicht,« fügte Frau von Carayon hinzu. »Er verläßt Berlin in den nächsten
  Tagen schon und war überhaupt nur hier, um den ersten Proben seines
  Stückes beizuwohnen.«
  »Was also heißt,« warf Alvensleben ein, »daß an der Aufführung selbst
  nicht länger mehr zu zweifeln ist.«
  »Ich glaube, nein. Man hat den Hof dafür zu gewinnen oder wenigstens
  alle beigebrachten Bedenken niederzuschlagen gewußt.«
  »Was ich unbegreiflich finde,« fuhr Alvensleben fort. »Ich habe das
  Stück gelesen. Er will Luther verherrlichen, und der Pferdefuß des
  Jesuitismus guckt überall unter dem schwarzen Doktormantel hervor. Am
  räthselhaftesten aber ist es mir, daß sich Iffland dafür interessirt,
  Iffland, ein Freimaurer.«
  »Woraus ich einfach schließen möchte, daß er die Hauptrolle hat,«
  erwiderte Sander. »Unsere Prinzipien dauern gerade so lange, bis sie mit
  unsern Leidenschaften oder Eitelkeiten in Konflikt gerathen und ziehen
  dann jedesmal den kürzeren. Er wird den Luther spielen wollen. Und das
  entscheidet.«
  »Ich bekenne, daß es mir widerstrebt,« sagte Victoire, »die Gestalt
  Luthers auf der Bühne zu sehen. Oder geh' ich darin zu weit?«
  Es war Alvensleben, an den sich die Frage gerichtet hatte. »Zu weit? O,
  meine theuerste Victoire, gewiß nicht. Sie sprechen mir ganz aus dem
  Herzen. Es sind meine frühesten Erinnerungen, daß ich in unserer
  Dorfkirche saß, und mein alter Vater neben mir, der alle
  Gesangbuchsverse mitsang. Und links neben dem Altar da hing unser Martin
  Luther in ganzer Figur, die Bibel im Arm, die Rechte darauf gelegt, ein
  lebensvolles Bild, und sah zu mir herüber. Ich darf sagen, daß dies
  ernste Mannesgesicht an manchem Sonntage besser und eindringlicher zu
  mir gepredigt hat als unser alter Kluckhuhn, der zwar dieselben hohen
  Backenknochen und dieselben weißen Päffchen hatte wie der Reformator,
  aber auch weiter nichts. Und diesen Gottesmann, nach dem wir uns nennen
  und unterscheiden, und zu dem ich nie anders als in Ehrfurcht und
  Andacht aufgeschaut habe, den will ich nicht aus den Koulissen oder aus
  einer Hinterthür treten sehen. Auch nicht, wenn Iffland ihn giebt, den
  ich übrigens schätze, nicht blos als Künstler, sondern auch als Mann von
  Grundsätzen und guter preußischer Gesinnung.«
  »_Pectus facit oratorem_«, versicherte Sander, und Victoire jubelte.
  Bülow aber, der nicht gern neue Götter neben sich duldete, warf sich in
  seinen Stuhl zurück und sagte, während er sein Kinn und seinen Spitzbart
  strich: »Es wird Sie nicht überraschen, mich im Dissens zu finden.«
  »O, gewiß nicht,« lachte Sander.
  »Nur dagegen möcht' ich mich verwahren, als ob ich durch einen solchen
  Dissens irgendwie den Anwalt dieses pfäffischen Zacharias Werner zu
  machen gedächte, der mir in seinen mystisch-romantischen Tendenzen
  einfach zuwider ist. Ich bin Niemandes Anwalt ....«
  »Auch nicht Luthers?« fragte Schach ironisch.
  »Auch nicht Luthers!«
  »Ein Glück, daß er dessen entbehren kann ....«
  »Aber auf wie lange?« fuhr Bülow sich aufrichtend fort. »Glauben Sie
  mir, Herr von Schach, auch =er= ist in der Decadence, wie so viel
  anderes mit ihm, und über ein Kleines wird keine Generalanwaltschaft der
  Welt ihn halten können.«
  »Ich habe Napoleon von einer ›Episode Preußen‹ sprechen hören,«
  erwiderte Schach. »Wollen uns die Herren Neuerer, und Herr von Bülow an
  ihrer Spitze, vielleicht auch mit einer ›Episode Luther‹ beglücken?«
  »Es ist so. Sie treffen es. Uebrigens sind nicht =wir= es, die dies
  Episodenthum schaffen wollen. Dergleichen schafft nicht der Einzelne,
  die Geschichte schafft es. Und dabei wird sich ein wunderbarer
  Zusammenhang zwischen der Episode Preußen und der Episode Luther
  herausstellen. Es heißt auch da wieder: ›Sage mir, mit wem Du umgehst,
  und ich will Dir sagen, wer Du bist.‹ Ich bekenne, daß ich die Tage
  Preußens gezählt glaube, und ›wenn der Mantel fällt, muß der Herzog
  nach.‹ Ich überlass' es Ihnen, die Rollen dabei zu vertheilen. Die
  Zusammenhänge zwischen Staat und Kirche werden nicht genugsam gewürdigt;
  jeder Staat ist in gewissem Sinne zugleich auch ein =Kirchenstaat=; er
  schließt eine Ehe mit der Kirche, und soll diese Ehe glücklich sein, so
  müssen beide zu einander passen. In Preußen passen sie zu einander. Und
  warum? Weil beide gleich dürftig angelegt, gleich eng gerathen sind. Es
  sind Kleinexistenzen, beide bestimmt in etwas Größerem auf- oder
  unterzugehen. Und zwar bald. _Hannibal ante portas._«
  »Ich glaubte Sie dahin verstanden zu haben,« erwiderte Schach, »daß uns
  Graf Haugwitz nicht den Untergang, wohl aber die Rettung und den Frieden
  gebracht habe.«
  »Das hat er. Aber er kann unser Geschick nicht wenden, wenigstens auf
  die Dauer nicht. Dies Geschick heißt Einverleibung in das Universelle.
  Der nationale wie der konfessionelle Standpunkt sind hinschwindende
  Dinge, vor allem aber ist es der preußische Standpunkt und sein _alter
  ego_ der lutherische. Beide sind künstliche Größen. Ich frage, was
  bedeuten sie? welche Missionen erfüllen sie? Sie ziehen Wechsel
  aufeinander, sie sind sich gegenseitig Zweck und Aufgabe, das ist alles.
  Und das soll eine Weltrolle sein! Was hat Preußen der Welt geleistet?
  Was find' ich, wenn ich nachrechne? Die Großen Blauen König Friedrich
  Wilhelms I., den eisernen Ladestock, den Zopf, und jene wundervolle
  Moral, die den Satz erfunden hat, ›ich hab' ihn an die Krippe gebunden,
  warum hat er nicht gefressen?‹«
  »Gut, gut. Aber Luther ....«
  »Nun wohl denn, es geht eine Sage, daß mit dem Manne von Wittenberg die
  Freiheit in die Welt gekommen sei, und beschränkte Historiker haben es
  dem norddeutschen Volke so lange versichert, bis man's geglaubt hat.
  Aber was hat er denn in Wahrheit in die Welt gebracht? Unduldsamkeit und
  Hexenprozesse, Nüchternheit und Langeweile. Das ist kein Kitt für
  Jahrtausende. Jener Weltmonarchie, der nur noch die letzte Spitze fehlt,
  wird auch eine Weltkirche folgen, denn wie die kleinen Dinge sich finden
  und im Zusammenhange stehen, so die großen noch viel mehr. Ich werde mir
  den Bühnen-Luther nicht ansehen, weil er mir in dieses Herren Zacharias
  Werner Verzerrung einfach ein Ding ist, das mich ärgert; aber ihn nicht
  ansehen, weil es Anstoß gebe, weil es =Entheiligung= sei, das ist mehr
  als ich fassen kann.«
  »Und =wir=, lieber Bülow,« unterbrach Frau von Carayon, »wir werden ihn
  uns ansehen, =trotzdem= es uns Anstoß giebt. Victoire hat Recht, und
  wenn bei Iffland die Eitelkeit stärker sein darf als das Prinzip, so bei
  =uns= die Neugier. Ich hoffe, Herr von Schach und Sie, lieber
  Alvensleben, werden uns begleiten. Uebrigens sind ein paar der
  eingelegten Lieder nicht übel. Wir erhielten sie gestern. Victoire, Du
  könntest uns das ein' oder andere davon singen.«
  »Ich habe sie kaum durchgespielt.«
  »O, dann bitt' ich um so mehr,« bemerkte Schach. »Alle Salonvirtuosität
  ist mir verhaßt. Aber was ich in der Kunst liebe, das ist ein solches
  poetisches Suchen und Tappen.«
  Bülow lächelte vor sich hin und schien sagen zu wollen: »Ein jeder nach
  seinen Mitteln.«
  Schach aber führte Victoiren an das Klavier, und diese sang, während er
  begleitete.
   Die Blüthe, sie schläft so leis und lind
   Wohl in der Wiege von Schnee;
   Einlullt sie der Winter »Schlaf ein geschwind
   Du blühendes Kind«
   Und das Kind es weint und verschläft sein Weh
   Und hernieder steigen aus duftiger Höh
   Die Schwestern und lieben und blühn
  Eine kleine Pause trat ein, und Frau von Carayon fragte: »Nun, Herr
  Sander, wie besteht es vor Ihrer Kritik?« »Es muß sehr schön sein,«
  antwortete dieser. »Ich versteh es nicht. Aber hören wir weiter. Die
  Blüthe, die vorläufig noch schläft, wird doch wohl mal erwachen.«
   Und kommt der Mai dann wieder so lind,
   Dann bricht er die Wiege von Schnee,
   Er schüttelt die Blüthe »Wach auf geschwind
   Du welkendes Kind.«
   Und es hebt das Aeuglein, es thut ihm weh
   Und steigt hinauf in die leuchtende Höh
   Wo strahlend die Brüderlein blühn.
  Ein lebhafter Beifall blieb nicht aus. Aber er galt ausschließlich
  Victoiren und der Komposition, und als schließlich auch der Text an die
  Reihe kam, bekannte sich Alles zu Sanders ketzerischen Ansichten.
  Nur Bülow schwieg. Er hatte, wie die meisten mit Staatenuntergang
  beschäftigten Frondeurs, auch seine schwachen Seiten, und eine davon war
  durch das Lied getroffen worden. An dem halbumwölkten Himmel draußen
  funkelten ein paar Sterne, die Mondsichel stand dazwischen, und er
  wiederholte, während er durch die Scheiben der hohen Balkonthür
  hinaufblickte: »wo strahlend die Brüderlein blühn.«
  Wider Wissen und Willen, war er ein Kind seiner Zeit, und romantisirte.
  Noch ein zweites und drittes Lied wurde gesungen, aber das Urtheil blieb
  dasselbe. Dann trennte man sich zu nicht allzu später Stunde.
  
  
  Drittes Kapitel.
  Bei Sala Tarone.
  
  Die Thurmuhren auf dem Gensdarmenmarkt schlugen elf, als die Gäste der
  Frau von Carayon auf die Behrenstraße hinaustraten und nach links
  einbiegend auf die Linden zuschritten. Der Mond hatte sich verschleiert,
  und die Regenfeuchte, die bereits in der Luft lag und auf Wetterumschlag
  deutete, that allen wohl. An der Ecke der Linden empfahl sich Schach,
  allerhand Dienstliches vorschützend, während Alvensleben, Bülow und
  Sander übereinkamen, noch eine Stunde zu plaudern.
  »Aber wo?« fragte Bülow, der im Ganzen nicht wählerisch war, aber doch
  einen Abscheu gegen Lokale hatte, darin ihm »Aufpasser und Kellner die
  Kehle zuschnürten.«
  »Aber wo?« wiederholte Sander. »Sieh, das Gute liegt so nah,« und wies
  dabei auf einen Eckladen, über dem in mäßig großen Buchstaben zu lesen
  stand: Italiener-, Wein- und Delikatessen-Handlung von Sala Tarone. Da
  schon geschlossen war, klopfte man an die Hausthür, an deren einer Seite
  sich ein Einschnitt mit einer Klappe befand. Und wirklich, gleich darauf
  öffnete sich's von innen, ein Kopf erschien am Kuckloch, und als
  Alvenslebens Uniform über den Charakter der etwas späten Gäste beruhigt
  hatte, drehte sich innen der Schlüssel im Schloß, und alle drei traten
  ein. Aber der Luftzug, der ging, löschte den Blaker aus, den der Küfer
  in Händen hielt, und nur eine ganz im Hintergrunde, dicht über der
  Hofthür schweelende Laterne, gab gerade noch Licht genug, um das
  Gefährliche der Passage kenntlich zu machen.
  »Ich bitte Sie, Bülow, was sagen Sie zu diesem Defilé,« brummte Sander,
  
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