🕥 33 minut uku

Erstes Kapitel des Buches "Richard und Samuel" - 1

Härber sızık iñ yış oçrıy torgan 1000 süzlärneñ protsentnı kürsätä.
Süzlärneñ gomumi sanı 4282
Unikal süzlärneñ gomumi sanı 1617
35.7 süzlär 2000 iñ yış oçrıy torgan süzlärgä kerä.
47.3 süzlär 5000 iñ yış oçrıy torgan süzlärgä kerä.
51.8 süzlär 8000 iñ yış oçrıy torgan süzlärgä kerä.
  Erstes Kapitel des Buches »Richard und Samuel«
  von Max Brod und Franz Kafka
  
  Unter dem Titel »_Richard und Samuel -- Eine kleine Reise durch
  mitteleuropäische Gegenden_«, wird ein Bändchen die parallelen
  Reisetagebücher zweier Freunde verschiedenartigen Charakters enthalten.
  Samuel ist ein weltläufiger junger Mann, der mit vielem Ernst sich
  Kenntnisse im grossen Stil und ein richtiges Urteil über alle
  Gegenstände des Lebens und der Kunst zu bilden bestrebt ist, ohne doch
  jemals nüchtern oder gar pedantisch zu werden. Richard hat keinen
  bestimmten Interessekreis, lässt sich von rätselhaften Gefühlen, noch
  mehr von seiner Schwäche treiben, zeigt aber in seinem engen und
  zufälligen Kreise so viel Intensität und naive Selbstständigkeit, dass
  er nie zu schrullenhafter Komik ausartet. Dem Berufe nach ist Samuel
  Sekretär eines Kunstvereines, Richard Bankbeamter. Richard hat Vermögen,
  arbeitet nur, weil er sich nicht für fähig hält, freie Tage zu ertragen;
  Samuel muss von seiner (überdies erfolgreichen und sehr geschätzten)
  Arbeit leben.
  Die beiden, obwohl Schulkollegen, sind während dieser beschriebenen
  Reise zum erstenmal andauernd mit einander allein. Sie schätzen
  einander, obwohl sie einander unbegreiflich erscheinen. Anziehung und
  Abstossung wird vielartig gefühlt. Es wird beschrieben, wie sich dieses
  Verhältnis zunächst zu überhitzter Intimität anstachelt, dann nach
  manchen Zwischenfällen auf dem gefährlichen Boden von Mailand und Paris
  in männliches Verständnis gegenseitig beruhigt und ganz befestigt. Die
  Reise schliesst damit, dass die beiden Freunde ihre Fähigkeiten zu einem
  neuen eigenartigen Kunstunternehmen vereinigen.
  Die vielen Nüancen, deren Freundschaftsbeziehungen zwischen Männern
  fähig sind, darzustellen und zugleich die bereisten Länder durch eine
  widerspruchsvolle Doppelbeleuchtung in einer Frische und Bedeutung sehn
  zu lassen, wie sie oft mit Unrecht nur exotischen Gegenden zugeschrieben
  werden: ist der Sinn dieses Buches.
  
  
  Die erste lange Eisenbahnfahrt (Prag-Zürich)
  
  _Samuel_: Abfahrt 26. VIII. 1911 Mittag 1 Uhr 2 Min.
  _Richard_: Beim Anblick Samuels, der in seinen bekannten winzigen
  Taschenkalender etwas Kurzes einträgt, habe ich wieder die alte schöne
  Idee, jeder von uns solle ein Tagebuch über diese Reise führen. Ich sage
  es ihm. Er lehnt zuerst ab, dann stimmt er zu, er begründet beides, ich
  verstehe es beidemal nur oberflächlich, aber das macht nichts, wenn wir
  nur Tagebücher führen werden. -- Jetzt lacht er schon wieder über mein
  Notizbuch, welches allerdings, in Glanzleinen schwarz eingebunden, neu,
  sehr gross, quadratisch, eher einem Schulheft ähnelt. Ich sehe voraus,
  dass es schwer und jedenfalls lästig sein wird, dieses Heft während der
  ganzen Reise in der Tasche zu tragen. Übrigens kann ich mir auch in
  Zürich mit ihm zugleich ein praktisches kaufen. Er hat auch eine
  Füllfeder. Ich werde mir sie hie und da ausborgen.
  _Samuel_: In einer Station unserem Fenster gegenüber ein Waggon mit
  Bäuerinnen. Im Schosse einer, die lacht, schläft eine. Aufwachend winkt
  sie uns, unanständig in ihrem Halbschlaf: »Komm«. Als verspotte sie uns,
  weil wir nicht hinüberkönnen. Im Nebenkoupee eine dunkle, heroische,
  ganz unbeweglich. Den Kopf tief zurückgelehnt schaut sie entlang der
  Scheibe hinaus. Delphische Sibylle.
  _Richard_: Aber was mir nicht gefällt, ist sein anknüpferischer,
  fälschlich Vertrautheit vorgebender, fast liebedienerischer Gruss an die
  Bäuerinnen. Nun setzt sich gar der Zug in Bewegung und Samuel bleibt mit
  seinem zu gross angefangenen Lächeln und Mützeschwenken allein. --
  Übertreibe ich nicht? -- Samuel liest mir seine erste Bemerkung vor, sie
  macht auf mich einen grossen Eindruck. Ich hätte auf die Bäuerinnen mehr
  Acht geben sollen. -- Der Kondukteur fragt, übrigens sehr undeutlich,
  als hätte er es mit lauter Leuten zu tun, die diese Strecke schon oft
  gefahren sind, ob jemand für Pilsen Kaffee bestellen wolle. Bestellt
  man, so klebt er einen schmalen grünen Zettel für jede Portion ans
  Koupeefenster, so wie in Misdroy ehemals, so lange es keine
  Landungsbrücke gab, der ferne Dampfer durch Wimpel die Zahl der Boote,
  die zum Ausbooten benötigt wurden, anzeigte. Samuel kennt Misdroy gar
  nicht. Schade, dass ich nicht mit ihm dort war. Es war damals sehr
  schön. Diesmal wird es auch wunderbar schön werden. Die Fahrt ist zu
  schnell, es vergeht zu rasch; die Begierde nach weiter Reise, die ich
  jetzt habe! -- Welch ein altertümlicher Vergleich ist der obige, da seit
  fünf Jahren der Landungssteg in Misdroy steht. -- Der Kaffee in Pilsen
  auf dem Perron. Man muss ihn mit Zettel nicht nehmen und bekommt ihn
  auch ohne.
  _Samuel_: Vom Perron aus sehn wir ein fremdes Mädchen aus unserem Koupee
  herausschauen, die spätere Dora Lippert. Hübsch, dicknasig, kleiner
  Halsausschnitt in weisser Spitzenbluse. Erste gemeinschaftliche Tatsache
  bei der Weiterfahrt: ihr grosser Hut in seiner Papierhülle schwebt aus
  dem Gepäcknetz leicht auf meinen Kopf herab. -- Wir erfahren, dass sie
  die Tochter eines nach Innsbruck versetzten Offiziers ist und zu ihren
  Eltern fährt, die sie schon so lange nicht gesehn hat. Sie arbeitet in
  einem technischen Bureau in Pilsen, den ganzen Tag, hat sehr viel zu
  tun, aber es macht ihr Freude, sie ist sehr zufrieden mit ihrem Leben.
  Im Bureau heisst sie: unser Nesthäkchen, unsere kleine Schwalbe. Sie ist
  dort unter lauter Männern, die jüngste. O es ist lustig im Bureau! Man
  verwechselt die Hüte in der Garderobe, nagelt die Zehnuhrkipfel an oder
  klebt einem den Federstiel mit Gummiarabicum an die Schreibmappe. Wir
  selbst haben Gelegenheit an einem solchen »tadellosen« Witz mitzuwirken.
  Sie schreibt nämlich eine Karte an ihre Bureaukollegen, in der es
  heisst: »Das Vorausgesagte ist leider eingetroffen. Ich bin in einen
  falschen Zug eingestiegen und befinde mich jetzt in Zürich. Herzliche
  Grüsse.« Wir sollen diese Karte in Zürich aufgeben. Sie erwartet aber
  von uns als »Ehrenmännern«, dass wir nichts dazuschreiben. Im Bureau
  wird man natürlich Sorge haben, telegraphieren und Gott weiss, was noch.
  -- Sie ist Wagnerianerin, fehlt bei keiner Wagnervorstellung, »diese
  Kurz neulich als Isolde«, auch den Briefwechsel Wagners mit der
  Wesendonck liest sie eben, sie nimmt ihn sogar nach Innsbruck mit, ein
  Herr, natürlich jener, der ihr die Klavierauszüge vorspielt, hat ihr das
  Buch geborgt. Sie selbst hat leider wenig Talent zum Klavierspiel, wir
  wissen es aber schon seit dem sie uns einige Leitmotive vorgesummt hat.
  -- Sie sammelt Chokoladenpapier, aus dem sie eine grosse Staniolkugel
  macht, die sie auch mit hat. Diese Kugel ist für eine Freundin bestimmt,
  weiterer Zweck unbekannt. Sie sammelt aber auch Cigarrenbinden, diese
  ganz bestimmt für ein Tablett. -- Der erste bayerische Kondukteur bringt
  sie darauf, ihre sehr widerspruchsvollen und dunklen Ansichten einer
  Offizierstochter über das österreichische Militär und Militär überhaupt
  kurz und mit grosser Entschiedenheit zu äussern. Sie hält nämlich nicht
  nur das österreichische Militär für schlapp, sondern auch das deutsche
  und jedes Militär überhaupt. Aber läuft sie nicht im Bureau zum Fenster,
  wenn Militärmusik vorüberkommt? Eben nicht, denn das ist kein Militär.
  Ja, ihre jüngere Schwester, die ist anders. Die tanzt fleissig im
  Innsbrucker Offizierskasino. Also Uniformen imponieren ihr gar nicht und
  Offiziere sind für sie Luft. Offenbar ist daran zum Teil jener Herr
  schuld, der ihr die Klavierauszüge borgt, zum Teil aber unser Hin- und
  Herspazieren auf dem Perron des Further Bahnhofs, denn sie fühlt sich
  nach der Fahrt im Gehn so frisch und streicht mit den Handflächen ihre
  Hüften. Richard verteidigt das Militär, aber ganz im Ernst. -- Ihre
  Lieblingsausdrücke: tadellos -- mit Null Komma fünf Beschleunigung --
  herausfeuern -- prompt -- schlapp.
  _Richard_: Dora L. hat runde Wangen mit viel blondem Flaum; sie sind
  aber so blutleer, dass man sehr lange die Hände in sie drücken müsste,
  ehe sich eine Röthung zeigte. Das Mieder ist schlecht, über seinem Rande
  auf der Brust zerknittert sich die Bluse; davon muss man absehn.
  Froh bin ich, dass ich ihr gegenüber und nicht neben ihr sitze, ich kann
  nämlich mit einem, der neben mir sitzt, nicht reden. Samuel z. B. setzt
  sich wieder mit Vorliebe neben mich; er sitzt auch gern neben Dora. Ich
  dagegen fühle mich ausgehorcht, wenn sich jemand neben mich setzt.
  Schliesslich hat man ja wirklich gegen einen solchen Menschen von
  vornherein kein Auge in Bereitschaft, man muss sie erst zu ihm
  hinüberdrehen. Allerdings bin ich infolge meines Gegenübersitzens von
  der Unterhaltung Doras und Samuels, besonders wenn der Zug fährt,
  zeitweilig ausgeschlossen; alle Vorteile kann man nicht haben. Dafür sah
  ich sie aber schon, wenn auch nur Augenblicke lang, stumm neben
  einandersitzen; natürlich ohne meine Schuld.
  Ich bewundere sie; sie ist so musikalisch. Samuel allerdings scheint
  ironisch zu lächeln, als sie ihm etwas leise vorsingt. Vielleicht war es
  nicht ganz korrekt, aber immerhin, verdient es nicht Bewunderung, dass
  sich ein in einer grossen Stadt alleinstehendes Mädchen so herzlich für
  Musik interessiert? Sie hat sogar in ihr Zimmer, das doch nur gemietet
  ist, ein gemietetes Klavier schaffen lassen. Man muss sich nur
  vorstellen: eine so umständliche Angelegenheit wie ein Klaviertransport
  (Fortepiano!), die selbst ganzen Familien Schwierigkeiten macht und das
  schwache Mädchen! Wie viel Selbständigkeit und Entschiedenheit gehört
  dazu!
  Ich frage sie nach ihrem Haushalt. Sie wohnt mit zwei Freundinnen,
  abends kauft eine von ihnen das Nachtmahl in einem Delikatessengeschäft,
  sie unterhalten sich sehr gut und lachen viel. Dass das alles bei
  Petroleumbeleuchtung geschieht, kommt mir, als ich es höre, merkwürdig
  vor, aber ich will es ihr nicht sagen. Offenbar liegt ihr auch an dieser
  schlechten Beleuchtung nichts, denn bei ihrer Energie könnte sie von
  ihrer Wirtin gewiss auch eine bessere erzwingen, wenn es ihr einmal
  einfiele.
  Da sie im Laufe des Gespräches alles vorzeigen muss, was sie in ihrem
  Täschchen hat, sehn wir auch eine Medizinflasche mit irgend etwas
  Abscheulichem Gelbem drin. Jetzt erst erfahren wir, dass sie nicht ganz
  gesund ist, sogar lange krank gelegen ist. Und nachher war sie noch sehr
  schwach. Damals hat ihr der Chef selbst geraten (so anständig ist man
  gegen sie), nur halbe Tage ins Bureau zu kommen. Jetzt geht es ihr
  besser, sie muss aber dieses Eisenpräparat nehmen. Ich rate ihr, es
  lieber zum Fenster hinauszuschütten. Sie stimmt zwar leicht zu (denn das
  Zeug schmeckt elend), ist aber nicht zum Ernst zu bringen, trotzdem ich,
  näher zu ihr vorgebeugt als jemals, meine gerade darin so klaren
  Ansichten über eine naturgemässe Behandlung des menschlichen Organismus
  darlegen will, und zwar in der aufrichtigen Absicht, ihr zu helfen oder
  zumindest dieses unberatene Mädchen vor Schaden zu bewahren, und mich so
  wenigstens für einen Augenblick lang als glücklichen Zufall dieses
  Mädchens fühle. -- Als sie nicht aufhört zu lachen, breche ich ab.
  Geschadet hat mir auch, dass Samuel während meiner ganzen Rede mit dem
  Kopf gewackelt hat. Ich kenne ihn ja. Er glaubt an die Ärzte und hält
  die Naturheilmethode für lächerlich. Ich verstehe das sehr gut: er hat
  nie einen Arzt gebraucht und daher nie ernstliche selbständige Gedanken
  über diese Sache gehabt, kann beispielsweise dieses ekelhafte Präparat
  gar nicht auf sich beziehn. -- Wäre ich mit dem Fräulein allein gewesen,
  so hätte ich sie schon überzeugt. Denn: wenn ich in dieser Sache nicht
  Recht habe, habe ich es in keiner!
  Die Ursache ihrer Blutarmut ist mir ja von allem Anfang an klar gewesen.
  Das Bureau. Man kann ja wie alles auch das Bureauleben als etwas
  Scherzhaftes empfinden (und dieses Mädchen empfindet es ehrlich so, ist
  ja vollständig getäuscht), aber im Wesen, in den unglücklichen Folgen!?
  -- Ich weiss ja, woran ich z. B. bin. Und jetzt soll gar ein Mädchen im
  Bureau sitzen, der Frauenrock ist gar nicht dazu gemacht, wie muss er
  sich überall spannen, um dauernd, stundenlang auf einem harten
  Holzsessel sich hin- und herzuschieben. Und so werden diese runden Popos
  gedrückt, und zugleich die Brust an der Schreibtischkante. --
  Übertrieben? -- Ein Mädchen im Bureau ist mir doch jedesmal ein
  trauriger Anblick.
  Samuel ist schon ziemlich intim mit ihr geworden. Er hat sie sogar, was
  ich eigentlich nie gedacht hätte dazu gebracht, mit uns in den
  Speisewagen zu gehn. In diesen Waggon zwischen fremde Passagiere treten
  wir schon mit einer geradezu unglaublichen Zusammengehörigkeit ein, alle
  drei. Das muss man sich merken, dass man zur Verstärkung der
  Freundschaft eine neue Umgebung aufsuchen soll. Ich sitze jetzt sogar
  neben ihr, wir trinken Wein, unsere Arme berühren einander, unsere
  gemeinsame Ferienfreude macht wirklich eine Familie aus uns.
  Dieser Samuel hat sie trotz ihres lebhaften und durch den Regenguss
  unterstützten Sträubens überredet, den halbstündigen Aufenthalt in
  München zu einer Autofahrt zu benützen. Während er ein Auto holt, sagt
  sie zu mir in der Bahnhofsarkade, und sie nimmt mich dabei beim Arm:
  »Bitte, verhindern Sie diese Fahrt. Ich darf nicht mit. Es ist ganz
  ausgeschlossen. Ich sage es Ihnen, weil ich zu Ihnen Vertrauen habe. Mit
  Ihrem Freund kann man ja nicht reden. Er ist so verrückt!« -- Wir
  steigen ein, mir ist das Ganze peinlich, es erinnert mich auch genau an
  das Kinematographenstück »Die weisse Sklavin«, in dem die unschuldige
  Heldin gleich am Bahnhofsausgang im Dunkel von fremden Männern in ein
  Automobil gedrängt und weggeführt wird. Samuel dagegen ist guter Laune.
  Da der grosse Schirm des Autos uns die Aussicht nimmt, sehn wir
  eigentlich von allen Gebäuden nur den ersten Stock zur Not. Es ist
  Nacht. Perspektiven einer Kellerwohnung. Samuel dagegen leitet daraus
  phantastische Vorstellungen über die Höhe der Schlösser und Kirchen ab.
  Da Dora in ihrem dunklen Rücksitz noch immer schweigt und ich schon fast
  einen Ausbruch fürchte, wird er endlich doch stützig und fragt sie, für
  mein Gefühl etwas zu konventionell: »Nun, Sie sind doch nicht bös auf
  mich, Fräulein? Habe ich Ihnen etwas getan u. s. f.?« Sie erwiedert: »Da
  ich einmal hier bin, will ich Ihnen das Vergnügen nicht stören. Sie
  hätten mich aber nicht zwingen sollen. Wenn ich »Nein« sage, so sage ich
  es nicht ohne Grund. Ich darf eben nicht fahren.« »Warum?« fragt er.
  »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie müssen doch selbst einsehn, dass es
  sich für ein Mädchen nicht schickt, Nachts mit Herren herumzufahren.
  Ausserdem ist noch etwas dabei. Nehmen Sie nur an, ich wäre schon
  gebunden ...« Wir erraten, jeder für uns, mit stillem Respekt, dass
  diese Sache irgendwie mit dem Wagner-Herren zusammenhängt. Nun, ich habe
  mir keine Vorwürfe zu machen, versuche sie aber trotzdem aufzuheitern.
  Auch Samuel, der sie bisher ein wenig von oben herab behandelt hat,
  scheint zu bereuen und will nur mehr von der Fahrt sprechen. Der
  Chauffeur, von uns aufgefordert, ruft die Namen der unsichtbaren
  Sehenswürdigkeiten aus. Die Pneumatics rauschen auf dem nassen Asphalt
  wie der Apparat im Kinematographen. Wieder diese »weisse Sklavin«. Diese
  leeren langen gewaschenen schwarzen Gassen. Das Deutlichste sind die
  unverhängten grossen Fenster des Restaurant »Vier Jahreszeiten«, dessen
  Name uns als des elegantesten irgendwie bekannt war. Verbeugung eines
  livrierten Kellners vor einer Tischgesellschaft. Bei einem Denkmal, das
  wir in einem glücklichen Einfall für das berühmte Wagnerdenkmal
  erklären, zeigt sie Teilnahme. Nur beim Freiheitsmonument mit seinen im
  Regen klatschenden Fontänen ist längerer Aufenthalt gegönnt. Brücke über
  die nur geahnte Isar. Schöne herrschaftliche Villen längs des Englischen
  Gartens. Ludwigsstrasse, Theatinerkirche, Feldherrnhalle, Pschorrbräu.
  Ich weiss nicht, wieso das kommt: ich erkenne nichts wieder, obwohl ich
  doch schon mehrmals in München war. Sendliger Tor. Bahnhof, den
  rechtzeitig zu erreichen ich (besonders Doras wegen) Sorge hatte. So
  sind wir wie eine daraufhin ausgerechnete Feder in genau zwanzig Minuten
  durch die Stadt geschnurrt, nach dem Taxameter.
  Wir bringen unsere Dora, als wären wir ihre Münchner Verwandten, in
  einem direkten Coupée nach Innsbruck unter, wo eine schwarzgekleidete
  Dame, die mehr zu fürchten ist als wir, ihr für die Nacht ihren Schutz
  anbietet. Da sehe ich erst, dass man uns zweien mit Beruhigung ein
  Mädchen anvertrauen kann.
  _Samuel_: Die Sache mit Dora ist gründlich misslungen. Je weiter es
  gieng, desto schlimmer. Ich hatte die Absicht, die Reise zu unterbrechen
  und in München zu übernachten. Bis zum Nachtmahl, etwa Station
  Regensburg, war ich überzeugt, dass es gehn würde. Ich versuchte mich
  mit Richard durch ein paar Worte auf einem Zettel zu verständigen. Er
  scheint ihn gar nicht gelesen zu haben, nur darauf bedacht, ihn zu
  verstecken. Schliesslich liegt ja nichts daran, ich hatte gar keine Lust
  auf das fade Frauenzimmer. Nur Richard machte so ein Wesen aus ihr, mit
  seinen umständlichen Ansprachen und Gefälligkeiten. Dadurch wurde sie
  auch in ihrer dummen Ziererei bekräftigt, die schliesslich im Automobil
  ganz unerträglich wurde. Beim Abschied wurde sie folgerecht ein
  sentimentales deutsches Gretchen, Richard, der ihr natürlich den Koffer
  trug, benahm sich, wie wenn sie ihn unverdient beglückt hätte, ich hatte
  nur ein peinliches Gefühl. Um es kurz zu formulieren: Frauen, die allein
  reisen oder sonst irgendwie als selbständig betrachtet sein wollen,
  dürfen dann nicht wieder in die übliche, vielleicht heute schon
  veraltete Koketterie verfallen, indem sie bald anziehn, bald abstossen
  und in der dadurch erzeugten Verwirrung ihren Vorteil suchen. Denn das
  durchschaut man und lässt sich bald mit Vergnügen stärker abstossen, als
  sie wahrscheinlich gewünscht haben. --
  Nach dieser nicht ganz saubern Reisebekanntschaft war es ein besonderes
  Vergnügen, eine eigens für Hände- und Gesichtwaschen eingerichtete
  Anstalt auf dem Bahnhof zu finden. Man öffnet uns eine »Kabine«;
  allerdings könnte man sich schönere Waschgelegenheiten denken, auch
  haben wir nur gerade noch Zeit, mit unseren Kleidern bepackt uns in der
  Enge zwischen den zwei Waschbecken hin und her zu drehn, trotzdem sind
  wir einig, dass Kultur in dieser reichsdeutschen Einrichtung liegt. In
  Prag könnte man lange auf den Bahnhöfen herumsuchen, ehe man so etwas
  fände.
  Wir steigen in das Coupée ein, in dem wir zu Richards Herzklopfen unser
  Gepäck gelassen hatten. Richard macht seine bekannten Schlafvorbereitungen,
  indem er sein Plaid als Kopfpolster unterlegt und den aufgehängten
  Havelock als Baldachin um sein Gesicht herabhängen lässt.
  Es gefällt mir, dass er, wenigstens wenn es sich um seinen Schlaf
  handelt, rücksichtslos ist, z. B. die Lampe verdunkelt, ohne zu fragen,
  trotzdem er weiss, dass ich in der Eisenbahn nicht schlafen kann. Er
  streckt sich auf seiner Bank aus, als ob er ein besonderes Recht vor den
  Mitreisenden hätte. Er schläft auch sofort friedlich ein. Und dabei hat
  der Mensch immerfort über Schlaflosigkeit zu klagen.
  Im Coupée sitzen noch zwei junge Franzosen. (Genfer Gymnasiasten.) Der
  eine, schwarzhaarige, lacht immerfort, sogar darüber, dass ihn Richard
  kaum sitzen lässt (so streckt er sich aus), dann darüber, dass er einen
  Augenblick, in dem sich Richard erhebt und die Gesellschaft bittet nicht
  soviel zu rauchen, benützt um einen Teil von Richards Lagerplatz zu
  besetzen. Solche kleine Kämpfe werden unter Fremdsprachigen stumm und
  daher mit grosser Leichtigkeit ausgefochten, ohne Entschuldigungen und
  ohne Vorwürfe. -- Die Franzosen verkürzen sich die Nacht, indem sie eine
  Blechbüchse mit Kakes einander hin- und herreichen oder Zigaretten drehn
  oder jeden Augenblick auf den Gang hinausgehn, einander rufen, wieder
  hereinkommen. In Lindau (sie sagen »Lendó«) lachen sie herzlich und für
  diese Nachtzeit überraschend hell über den österreichischen Kondukteur.
  Kondukteure eines fremden Staates wirken unwiderstehlich komisch, so
  auch auf uns der bayrische in Furth mit seiner grossen roten Tasche, die
  ihm tief unten um die Beine schlenkerte. -- Langdauernde Aussicht auf
  den von den Zugslichtern beleuchteten und geglätteten Bodensee bis
  hinüber zu den fernen Lichtern der jenseitigen Ufer, finster und
  dunstig. Mir fällt ein altes Schulgedicht ein »Der Reiter über den
  Bodensee«. Ich verbringe eine hübsche Zeit damit, es mir aus dem
  Gedächtnis wiederherzustellen. -- Eindringen dreier Schweizer. Einer
  raucht. Einer, der dann auch nach dem Aussteigen der zwei andern
  zurückbleibt, ist zuerst unwesentlich, klärt sich aber gegen Morgen auf.
  Er hat den Streitigkeiten zwischen Richard und dem schwarzen Franzosen
  ein Ende gemacht, indem er gleichsam beiden Unrecht gab und sich für den
  ganzen Rest der Nacht steif zwischen sie setzte, den Bergstock zwischen
  den Beinen. Richard zeigt, dass er auch sitzend schlafen kann.
  Die Schweiz überrascht durch die alleinstehenden, daher scheinbar
  besonders aufrechten selbstständigen Häuser in allen Städtchen, Dörfern
  längs der ganzen Eisenbahnstrecke. Keine Gassenbildung in St. Gallen.
  Vielleicht drückt sich darin der gut deutsche Partikularismus jedes
  Einzelnen aus, -- von Terrainschwierigkeiten unterstützt. Jedes Haus mit
  seinen dunkelgrünen Fensterläden und viel grüner Farbe in Fachwerk und
  Geländer hat einen villenähnlichen Charakter. Trägt trotzdem eine Firma,
  nur _eine_, Familie und Geschäft scheinen nicht unterschieden. Diese
  Einrichtung, Geschäftsunternehmungen in Villen zu betreiben, erinnert
  mich stark an R. Walsers Roman »Der Gehilfe«.
  Es ist Sonntag, fünf Uhr früh, 27. August. Alle Fenster noch
  geschlossen, alles schläft. Immer das Gefühl, dass wir, in diesen Zug
  gesperrt, die einzige schlechte Luft weit und breit atmen, während das
  Land draussen in natürlicher Weise, die man nur aus einem Nachtzug
  heraus, unter einer weiterbrennenden Lampe, richtig beobachten kann,
  sich entschleiert. Es ist zuerst von den dunklen Bergen als besonders
  schmales Tal zwischen ihnen und unserem Zug hergeschoben, dann durch den
  Morgendunst wie durch Oberlichtfenster weisslich aufgehellt, die Matten
  erscheinen allmählich frisch, wie nie zuvor berührt, saftig grün, was
  mich in diesem trockenen Jahr sehr in Erstaunen setzt, endlich erbleicht
  das Gras bei steigender Sonne in langsamer Verwandlung --. Bäume mit
  schweren grossen Nadelästen, die längs des ganzen Stammes bis zum Fusse
  wiederwallen.
  Solche Formen sieht man häufig in Bildern Schweizer Maler und ich hielt
  sie bis heute für nichts als stylisiert.
  Eine Mutter mit ihren Kindern beginnt auf der saubern Strasse den
  Sonntagspaziergang. Das erinnert mich an Gottfried Keller, der von
  seiner Mutter erzogen wurde.
  Im Wiesenland überall die sorgfältigsten Zäune; manche sind aus grauen
  wie Bleistifte zugespitzten Stämmen gebaut, oft aus halbierten solchen
  Stämmen. So teilten wir als Kinder Bleistifte, um den Graphit
  herauszubekommen. Derartige Zäune habe ich noch nie gesehn. So bietet
  jedes Land Neues im Alltäglichen und man muss sich hüten, der Freude
  über solche Eindrücke nachgebend das Seltene zu übersehn.
  _Richard_: Die Schweiz in den ersten Morgenstunden sich selbst
  überlassen. Samuel weckt mich angeblich beim Anblick einer sehenswerten
  Brücke, die aber schon vorbei ist, ehe ich aufschaue, und verschafft
  sich durch diesen Griff vielleicht den ersten starken Eindruck von der
  Schweiz. Ich sehe sie zuerst, viel zu lange Zeit, aus innerer in
  äusserer Dämmerung an.
  Ich habe in der Nacht ungewöhnlich gut geschlafen, wie in der Eisenbahn
  fast immer. Mein Schlaf in der Eisenbahn ist förmlich eine reinliche
  Arbeit. Ich lege mich hin, den Kopf zu allerletzt, probiere kurz zum
  Vorspiel einige Lagen, sondere mich von der ganzen Gesellschaft ab, wie
  sie mich auch von allen Seiten anschauen möge, indem ich mit dem
  Überzieher oder der Reisemütze mein Gesicht verdecke und werde von dem
  anfänglichen Behagen einer neu eingenommenen Körperlage in den Schlaf
  geweht. Am Anfang ist das Dunkel natürlich eine gute Hilfe, im weiteren
  Verlaufe ist es fast überflüssig. Auch die Unterhaltung könnte fortgehn
  wie früher, nur ist es schon so, dass der Mahnung, die ein ernsthaft
  Schlafender bildet, auch ein entfernt sitzender Schwätzer nicht
  widerstehen kann. Denn es gibt kaum einen Ort, wo die grössten
  Gegensätze in der Lebensführung so nah, unvermittelt und überraschend
  neben einander sitzen wie im Coupée und infolge der fortwährenden
  gegenseitigen Betrachtung in der kürzesten Zeit auf einander zu wirken
  anfangen. Und wenn auch ein Schlafender die andern nicht gleich wieder
  einschläfert, so macht er sie doch stiller oder steigert gar ganz gegen
  seinen Willen ihre Nachdenklichkeit zum Rauchen, so wie es leider bei
  dieser Fahrt geschehen ist, wo ich in der guten Luft unaufdringlicher
  Träume Wolken von Zigarettenrauch eingeatmet habe.
  Meinen guten Schlaf in der Eisenbahn erkläre ich damit, dass mich sonst
  meine aus Überarbeitung stammende Nervosität durch den Lärm nicht
  schlafen lässt, den sie in mir anrichtet und der in der Nacht von allen
  zufälligen Geräuschen des grossen Wohnhauses und der Gasse, von jedem
  aus der Ferne herannahenden Wagenrollen, jedem Zanken Betrunkener, jedem
  Schritt auf der Treppe angefeuert wird, dass ich oft ärgerlich alle
  Schuld auf diesen äusseren Lärm schiebe -- während in der Eisenbahn die
  Gleichmässigkeit der Fahrtgeräusche ob es nun gerade die arbeitende
  Federung des Waggons ist, oder das sich Reiben der Räder, das
  Aneinanderschlagen der Schienen, das Zittern des ganzen Holz-, Glas- und
  Eisenbaues ein Niveau wie von vollkommener Ruhe bilden, auf dem ich
  schlafen kann, scheinbar wie ein gesunder Mensch. Dieser Schein weicht
  natürlich sofort z. B. einem vordringenden Pfiff der Lokomotive oder
  einer Veränderung des Fahrttempos oder ganz bestimmt dem Eindruck in den
  Stationen, der sich genau wie durch den ganzen Zug auch durch meinen
  ganzen Schlaf fortsetzt bis zum Erwachen. Dann höre ich ohne Erstaunen
  die Namen von Orten ausrufen, die ich nie zu passieren erwartet habe,
  wie diesmal Lindau, Konstanz, ich glaube auch Romanshorn und habe von
  ihnen weniger Gewinn, als wenn ich von ihnen nur geträumt hätte, im
  Gegenteil nur Störung. Erwache ich während der Fahrt, dann ist das
  Erwachen stärker, weil es wie gegen die Natur des Eisenbahnschlafes ist.
  Ich öffne die Augen und wende mich einen Augenblick zum Fenster. Viel
  sehe ich da nicht, und was ich sehe, ist mit dem nachlässigen Gedächtnis
  des Träumenden erfasst. Doch möchte ich schwören, dass ich irgendwo im
  Würtembergischen, wie wenn ich auch dieses Würtembergische ausdrücklich
  erkannt hätte, um zwei Uhr in der Nacht einen Mann gesehen habe, der auf
  der Veranda seines Landhauses sich zum Geländer beugte. Hinter ihm war
  die Tür seines beleuchteten Schreibzimmers halb geöffnet, als sei er nur
  herausgekommen, um vor dem Schlaf noch den Kopf zu kühlen.... In Lindau
  war im Bahnhof, aber auch während der Einfahrt und der Ausfahrt viel
  Gesang in der Nacht und weil man überhaupt in einer solchen Fahrt in der
  Nacht von Samstag auf Sonntag viel nächtliches Leben auf weiten
  Strecken, nur leicht im Schlaf beirrt, zusammenkehrt, scheint einem der
  Schlaf besonders tief und die Unruhe draussen besonders laut zu sein.
  Auch die Schaffner, die ich öfters an meiner getrübten Fensterscheibe
  vorüberlaufen sah, und die niemanden wecken, sondern nur ihre Pflicht
  erfüllen wollten, riefen in der Leere der Bahnhofsräume überlaut eine
  Silbe des Stationsnamens zu uns herein und weiterhin die andern. Dann
  lockte es meine Reisegenossen sich den Namen zusammenzusetzen oder sie
  erhoben sich, um durch die immer wieder abgewischte Scheibe den Namen
  selbst zu lesen; mein Kopf aber fiel schon zurück aufs Holz.
  Wenn man aber schon einmal so gut im Fahren schlafen kann wie ich --
  Samuel durchsitzt die ganze Nacht mit offenen Augen, wie er behauptet --
  dann sollte man auch erst bei der Ankunft erwachen dürfen, um sich nicht
  im Augenblick des Aufwachens aus gesundem Schlaf mit fettigem Gesicht,
  nassem Körper, kreuz und quer gedrückten Haaren, in Wäsche und Kleidern,
  die 24 Stunden, ohne geputzt und gelüftet zu werden, im Eisenbahnstaub
  bestanden haben, in einen Winkel des Coupées gekrümmt zu finden und in
  diesem Zustand weiterfahren zu müssen. Hätte man jetzt die Kraft dazu,
  
Sez Alman ädäbiyättän 1 tekst ukıdıgız.