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Waldwinkel - 1

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  WALDWINKEL
  von THEODOR STORM
  Novelle (1874)
  
  Über dem Dache des Rathauses, das zugleich die Wohnung des städtischen
  Bürgermeisters bildete, kreuzten die ersten Schwalben in der
  Frühjahrssonne; auf der Vorstraße standen die "Bürgermeistersbuben" und
  suchten vergebens die Königin der Luft mit den Lehmkugeln ihres Pustrohrs
  zu erreichen. Drinnen aber in seinem Geschäfts- und Arbeitszimmer saß der
  Gestrenge selbst, der außer dem genannten Amte auch das eines
  Gerichtsdieners und Polizeimeisters in seiner Person vereinigte, vertieft
  in ein dickes Aktenfaszikel, nicht achtend des heiteren Glanzes, der durch
  die Fenster zu ihm hereinströmte. Da wurde draußen flüchtig an die Tür
  gepocht, und auf das verdrossene "Herein!" des Beamten trat ein brauner
  stattlicher Mann über die Schwelle, der indes die erste Hälfte der
  Vierziger schon erreicht haben mochte.
  Der Bürgermeister erhob das rote behagliche Gesicht aus seinen Akten, warf
  einen flüchtigen Blick auf den Eintretenden und sagte, als er die feinere
  Kleidung desselben bemerkt hatte, mit einer runden Handbewegung: "Wollen
  Sie gefälligst Platz nehmen; ich werde gleich zu Ihren Diensten sein."
  Dann steckte er den Kopf wieder in die Akten.
  Der andere aber war einen Schritt näher getreten. "Bist du jetzt immer so
  fleißig, Fritz?" sagte er. "Du littest ehemals nicht an dieser Krankheit."
  Der Bürgermeister fuhr empor, hakte die Brille von der Nase und starrte
  den Sprecher aus seinen kleinen gutmütigen Augen an. "Richard, du bist es!"
  rief er. "Mein Gott, wie gut du mich noch kennst! Und doch, mein
  Scheitel ist kahl und der Rest des Haares grau geworden! Ja, ja, ein
  solches Bürgermeisteramt!"
  Die kleine beleibte Gestalt war hinter dem Aktentisch hervorgekommen.
  Voll Erstaunen blickte er in das Antlitz des ihn fast um Kopfeshöhe
  überragenden Freundes. "Das", sagte er und tätschelte mit seiner kurzen
  Hand über das noch glänzend braune Haar desselben, "das ist natürlich nur
  Perücke; aber die Augen, diese unnatürlich jungen Augen, das sind doch
  wohl noch die echten alten aus unseren lustigen Tagen!"
  Der Gast ließ lächelnd diesen Strom des Geplauders über sich ergehen,
  während der Bürgermeister ihn neben sich aufs Sofa niederzog. "Und nun",
  fuhr der letztere fort, "wo kommst du her, was bist du, was treibst du?"
  "Ich, Fritz?" erwiderte scherzend der andere, "ich suche einen Inhalt für
  das noch immer leere Gefäß meines Lebens; oder vielmehr", fügte er etwas
  ernster hinzu, "ich suche ihn nicht, ich leide nur ein wenig an dieser
  Leere."
  Der Bürgermeister sah ihm treuherzig in die Augen. "Du, Richard?" sagte
  er, "der auf der Universität alle Fakultäten abgeweidet hat! Will doch
  ein alter Kamerad unter einem gewissen Anonymus sogar deine Feder in einer
  botanischen Zeitschrift entdeckt haben!"
  "Wirklich, Fritz?--Er hat nicht fehlgesehen."
  Der kleine dicke Mann besann sich. "Du bist noch ledig?" fragte er. "Ja?
  Noch immer? Hm! Du warst ein Schwärmer, Richard! Weißt du noch, als
  wir Studenten auf der Dornburg tanzten? Du hattest derzeit die Braut zu
  Hause; du wolltest nicht tanzen; du saßest in der Ecke bei dem langen
  Wassermann, der wegen seiner großen Stiefel nicht tanzen konnte, und
  trankst nur Wein, sehr viel Wein, Richard! Du wolltest die seligen Tänze
  nicht entweihen, die du daheim mit ihr getanzt hattest!"
  Der andere war ein wenig still geworden, während der Bürgermeister in
  plötzlicher Unruhe seine goldene Uhr aus dem Abgrund seiner Tasche zog.
  "Sag mir, Liebster", begann er wieder, du schenkst mir doch den heutigen
  Tag?"
  "Ich muß am Nachmittag noch weiter."
  "Immer noch der alte Meister Unruh?"
  "Verzeih, die Extrapost ist schon bestellt! Ihr habt hier einige Meilen
  nördlich zwischen Heidesumpf und Wald noch eine wenig abgesuchte Flora!"
  "Aha!" rief der Bürgermeister, "bei Föhrenschwarzeck, wo die verrückten
  Junker wohnen, die weder einen Baum fällen noch ein Stück Heide aufbrechen
  wollen!"
  Der Gast nickte. "So sagte man mir. Es soll dort in heimlichen Gründen
  noch allerlei sonst Verschwundenes zu finden sein."
  "Nun, Richard, da könntest du dich ja im Narrenkasten einquartieren!"
  "Im Narrenkasten?"
  "Freilich! Der Vater der jetzigen Herren hatte noch seine Spezialtollheit!
  Da ihm sein Schloß zu groß wurde, so baute er sich hinaus zwischen Heide
  und Wald; ein Häuslein, alle Fenster nach einer Seite und drum herum eine
  Ringmauer, zwanzig Fuß hoch! Und das Kastellchen nannte er den "Waldwinkel"
  die Leute aber nennen's noch heut den "Narrenkasten". Dort hat er mitten
  zwischen all dem Unkraut seine letzten Jahre abgelebt."
  Der andere hatte aufmerksam zugehört. "Wer wohnt denn jetzt darin?"
  fragte er.
  "Jetzt? ich denke, niemand; oder doch nur Eulen und Iltisse."--Im
  Nebenzimmer schlug eine Uhr. Der Bürgermeister war aufgesprungen. "Schon
  elf!" sagte er. "Weißt du, Alter! Ich habe noch einen gerichtlichen
  Aktus vor mir; du warst ja in der Verbindung unser Schriftwart", und
  schmunzelnd fuhr er fort: "da du so eilig bist, wir würden noch ein
  Plauderstündchen mehr gewinnen, wenn du heute dieses Amt noch einmal im
  Dienste unserer hochnotpeinlichen Gerichtsbarkeit verrichten wolltest!"
  Richard lachte. "Hast du denn keinen Protokollführer?"
  "Nein, Liebster; da ich die Würde und das Salarium eines Stadtsekretarius
  ebenfalls in meiner Person vereinige, so muß ich auch die Lasten dieses
  Amtes tragen, wenn nicht der Zufall einen so fähigen und gefälligen Freund
  mir in das Haus bringt."--Einige Minuten später saßen beide am grünen
  Tisch in dem nebenan liegenden Gerichtszimmer. "Du wirst dich vielleicht
  noch des gelbhaarigen Theologen erinnern", sagte der Bürgermeister,
  während er sich mit behaglicher Würde in dem etwas erhöhten
  Präsidentensessel niederließ, "den wir seinerzeit wohl nicht mit Unrecht
  den Denunzianten nannten! Wir haben ihn seit Jahren hier am Ort; der Herr
  Magister betreibt ein einträgliches Pensionat und steht bei Adel und
  Honoratioren in hohem Ansehen; man wollte ihn eben auch noch mit dem
  Gottesdienst an unserem Landeszuchthaus hier betrauen."
  "Was ist mit ihm?" fragte der improvisierte Aktuarius, der schon seine
  Feder geschnitzt und den gebrochenen Bogen vor sich hingelegt hatte. "Ich
  entsinne mich eigentlich nur seines abgetragenen Frackes und seiner großen
  roten Hände."
  "Du wirst ihn gleich erscheinen sehen", sagte der Bürgermeister, mit der
  einen Hand den über dem grünen Tisch hängenden Glockenstrang erfassend;
  "er hatte die Vormundschaft über ein elternloses Mädchen; sie ist
  jahrelang in seinem Hause gewesen, und er hat sie teilweise mit durch
  seine Schule laufen lassen. Jetzt ist er eines versuchten Verbrechens
  gegen dieses Mädchen auf das kläglichste verdächtig; es handelt sich heut
  nur noch um eine Gegenüberstellung beider."
  Der Bürgermeister zog die Klingel, und der eintretende Gefangenwärter
  erhielt Befehl, den Magister vorzuführen.
  Es war eine widerwärtige Erscheinung, die sich jetzt, an dem an der Tür
  zurückbleibenden Gefängniswärter vorbei, mit einem geschmeidigen Bückling
  in das Zimmer hineinwand.
  "Sie brauchen nicht zu weit vorzutreten!" sagte der Bürgermeister, und der
  Magister zuckte sogleich um einige Fußbreit wieder rückwärts; gleich
  darauf erhob er seinen platten Kopf mit dem wie angeklebten Gelbhaar gegen
  die Zimmerdecke und begann sich zu den schwersten Eiden für seine Unschuld
  zu erbieten.
  Ohne darauf zu achten, zog der Bürgermeister aufs neue die Glocke, und
  "Franziska Fedders" trat herein.
  Es war die schmächtige Gestalt eines eben aufgeblühten Mädchens; sie war
  nicht grade hübsch zu nennen; den Kopf mit den aufgesteckten dunkelblonden
  Flechten trug sie etwas vorgebeugt, der Mund war vielleicht zu voll, die
  Nase ein wenig zu scharf gerissen; und als sie jetzt ihre tiefliegenden
  grauen Augen aufschlug, murmelte der Aktuarius unwillkürlich vor sich hin:
  "Scientes bonum et malum."
  Mit abgewandtem Kopf und mit Glut übergossen, aber mit unverrückter
  Sicherheit wiederholte sie jetzt die Hauptangaben ihrer früheren Aussagen
  gegen ihren einstigen Vormund, während dieser seine knochigen Hände rang
  und seufzende Beteuerungen ausstieß.
  Als sie geendet hatte, begann der Magister erst andeutungsweise, dann
  immer deutlicher, sie eines Verhältnisses mit seinem Gehülfen zu
  beschuldigen; sie seien verschworen, ihn zu stürzen, um dann selbst das
  einträgliche Pensionat zu übernehmen.
  Mit offenem Munde und vorgestrecktem Halse horchte das Mädchen diesen
  Beschuldigungen. Richard, der die Feder hingelegt hatte, glaubte zu sehen,
  wie von der Glut des Hasses ihre Augen dunkler wurden. Plötzlich warf
  sie den Kopf empor. "Sie lügen, Sie!" rief sie, und wie eine scharfe
  Schneide fuhr es aus dieser jungen Stimme. Aber wie über sich selbst
  erschrocken, flogen ihre Blicke unstet und hülfesuchend umher, bis sie in
  den ernsten Männeraugen haftenblieben, die so ruhig zu ihr hinüberblickten.
  Der Magister hatte beide Arme zum Himmel aufgereckt. "Sie! Du nennst
  mich Sie, Franziska! Du, die ich dich in der Liebe des Lammes--" Er brach
  in sentimentale Tränen aus; er hatte etwas vom winselnden Affen an sich.
  "Ich nenne Sie gar nicht mehr!" sagte Franziska ruhig, und ihre
  Augensterne ruhten noch immer in denen des ihr fremden Mannes, als habe
  sie hier einen Halt gefunden, den sie nicht mehr zu verlassen wage.--Über
  dessen Seele fuhr es wie ein Traum: das stille Haus am Waldesrand tauchte
  vor seinem innern Auge auf; ein einsamer Mann und ein verlassenes Mädchen
  wohnten dort. Sie waren nicht mehr einsam und verlassen; aber um sie her
  in der lauen Sommerluft war nur der schwimmende Duft der Kräuter, das
  Rufen der Vögel und fernab aus der stillen Lichtung der unablässige Gesang
  der Grillen.-Der Klang der Botenglocke schrillte durch das Zimmer. Als
  Richard aufblickte, sah er eben das Mädchen aus der Tür verschwinden, der
  Magister wurde vom Gefängniswärter abgeführt.--"Ein gescheutes Rackerchen,
  diese Franziska", sagte der Bürgermeister, indem er das sauber abgefaßte
  Protokoll durch seine Namensunterschrift vollzog. "Schade, daß sie nichts
  in bonis hat; wir wissen nicht recht, wohin mit ihr; für den gewöhnlichen
  Mägdedienst hat sie zuviel, für eine höhere Stellung zuwenig gelernt."
  Sein Gast war im Zimmer auf und ab gegangen. "Freilich, ein anziehendes
  Köpfchen!" sagte er; aber seine Worte klangen tonlos, als sei in der Tiefe
  die Seele noch mit anderem beschäftigt.
  "Hm, Richard", fuhr der Bürgermeister, seine Akten zusammenbindend, fort,
  "da stimmst du mit unserem Physikus, er meint--er hat mitunter solche
  Einfälle--, die Augen seien ein halbes Dutzend Jahre älter als das Mädchen
  selbst."
  "Und wer ist jetzt ihr Vormund, Fritz?"
  "Ihr Vormund?--Sie hat keinen Verwandten; wir hatten augenblicklich keinen
  andern, es ist der Schustermeister an der Hafenecke; seit Beginn der
  Untersuchung wohnt sie auch bei ihm."--Eine Stunde später sah man den
  Gast des Bürgermeisters aus einem kleinen Hause an der Hafenecke treten
  und durch eine gegenüberliegende Straße aus der Stadt hinausschreiten.
  Draußen vor den letzten Häusern hielt ein offener Wagen. Ein großer
  löwengelber Hund, den der auf dem Kutschersitze nickende Postillion an der
  Leine hatte, riß sich los und sprang, freudewinselnd und mit der mächtigen
  Rute den Staub der Straße peitschend, dem Kommenden entgegen.
  "Leo, mein Hund, bist du da? Ja, ich komme, ich komme schon!" Ein
  lebensfroher Ton klang aus diesen Worten, unter denen der Hund die
  Liebkosungen seines Herrn entgegennahm.
  Vor ihnen, im hellsten Sonnenscheine, breitete sich ein weites Tiefland
  aus, zu dem in Wellenlinien sich der Weg hinuntersenkte. Bald saß der
  Wanderer auf dem Wagen, und während der Hund in großen Sätzen
  nebenhersprang, rollte das Gefährt in den jungen Frühling hinaus, der
  blauen Waldferne zu, die in kaum erkennbaren Zügen den Horizont begrenzte.
  Oben in den Eichbäumen, die vor dem Kruge des Dorfes Föhrenschwarzeck
  standen, lärmten die Elstern, welche ihr Nest gegen zwei rotbrustige
  Turmfalken zu verteidigen suchten; die Gäste in der Schenkstube konnten
  kaum ihr eigenes Wort verstehen.
  "Weiß der Henker!" rief der Krämer aus dem Nachbarstädtchen, der eben mit
  dem gegenübersitzenden Wirte sein Quartalgeschäft gemacht hatte, "was Euch
  hier alles für Raubzeug um die Ohren fliegt! Dürfen auch die Falken nicht
  geschossen werden, Inspekter?"
  Der alte graubärtige Mann in brauner Joppe, an den diese Worte gerichtet
  waren, nahm mit der kleinen Messingzange eine Kohle aus dem auf dem Tische
  stehenden Becken, legte sie auf seine eben gestopfte kurze Pfeife und
  sagte dann, während er inmittelst die ersten Dampfwolken stoßweise über
  den Tisch blies: "Ich weiß nicht, Pfeffers, ich bin nicht für die Falken;
  da müßt Ihr den neuen Förster fragen." Er schien, obschon es noch in der
  Morgenfrühe war, schon weit im Feld umher gewesen und nur zu kurzer Rast
  hier eingekehrt zu sein; denn die hellen Schweißperlen standen noch auf
  seiner Stirn, und seinen Strohhut hatte er vor sich auf dem Schoße liegen.
  "Ein neuer Förster?" fragte der Krämer. "Wo habt Ihr den denn
  herbekommen?"
  "Weiß nicht genau", erwiderte der Alte; "da droben aus dem Reich, mein ich;
  aber schießen kann er wie gehext, und auf die Dirnen ist er wie der
  Teufel!"
  "Oho, Kasper-Ohm! Da nehmt Eure Ann-Margreth in Obacht!"
  "Wird sich schon von selber wehren, Pfeffers", meinte der Wirt.
  Aber der Krämer hatte noch mehr zu fragen. "Hm, Inspekter!" sagte er,
  "Ihr bekommt ja allerlei Neues in Eueren Wald; Euere Herren müssen auf
  einmal ganz umgängliche Leute geworden sein! Habt Ihr denn wirklich den
  alten "Narrenkasten" an einen Fremden, an einen ganz landfremden Mann
  vermietet?"
  "Diesmal trefft Ihr ins Schwarze, Pfeffers", sagte der Alte, indem er
  einen ungeheueren, roh gearbeiteten Schlüssel aus der Seitentasche seiner
  Joppe hervorzog "ein paar Wagen mit Ingut sind schon gestern aus- und
  eingepackt worden; hab des Teufels Arbeit damit gehabt und muß auch jetzt
  wieder hin, um Fenster aufzusperren und nach dem Rechten zu sehen; meinen
  Phylax hab ich gestern abend hinter die hohe Hofmauer gesperrt, damit doch
  eine vernünftige Kreaturseele bei all den Siebensachen über Nacht bliebe."
  "Und woher ist dieser Mietsmann denn gekommen?" fragte der Krämer wieder.
  "Weiß nicht, Pfeffers; kümmert mich auch nicht", erwiderte der Alte,
  "kann's selbst nicht kleinkriegen. Aber der Herr soll ein Botanikus sein;
  dergleichen Schlages liebt ja auch alles, was wild zusammenwächst."
  Der Wirt, der inzwischen seine mit Kreide auf die Tischplatte geschriebene
  Abrechnung mit dem Krämer noch einmal revidiert hatte, beugte sich jetzt
  vor und sagte, seine Stimme zu vertrautem Flüstern dämpfend, obgleich
  niemand außer den dreien im Zimmer war: "Wißt Ihr noch, vor Jahren, als in
  den Blättern soviel von der großen Studentenverschwörung geschrieben wurde,
  als sie die Könige all vom Leben bringen wollten--da soll er mit
  dabeigewesen sein!"
  Der Krämer ließ einen langgezogenen Pfiff ertönen. "Da liegt's, Inspekter!"
  sagte er. "Ich weiß, Ihr hört's nicht gern; aber die Junker, wenn sie
  jung sind, haben schon mitunter solche Mucken; Euer Junker Wolf ist ja
  derzumalen auch bei dem Wartburgstanze mit gewesen."
  Der Alte sagte nichts darauf; aber der Wirt wußte noch Weiteres zu
  erzählen, als wenn seine klugen Elstern ihm's von allen Seiten zugetragen
  hätten.--Hier aus der Gegend sollte der Fremde sein; aber drüben bei den
  Preußen hatte man ihn jahrelang in einem dunkeln Kerkerloch gehalten;
  weder die Sonne noch die Sterne der Nacht hatte er dort gesehen; nur der
  qualmige Schein einer Tranlampe war ihm vergönnt gewesen; dabei hatte er
  ohne Kunde, ob Morgen oder Mitternacht, tagaus, tagein gesessen und viele
  dicke Bücher durchstudiert.
  "Aber Kasper-Ohm", sagte der Krämer und hielt dem Wirte seine offene
  Tabaksdose hin, "Ihr seid doch nicht etwa wieder in einen Grenzprozeß
  verzwirnet?"
  "Ich? Wie meint Ihr das, Pfeffers?"
  "Nun, ich dachte, Ihr wärt wieder einmal in der Stadt bei dem
  Winkeladvokaten, dem Aktuariatsschreiber, gewesen, bei dem man für die
  Kosten die Lügen scheffelweis draufzubekommt."
  Kasper-Ohm nahm die dargebotene Prise. "Ja, ja, Pfeffers", sagte er,
  einen Blick durchs Fenster werfend, "wenn sie einen nicht in Frieden leben
  lassen! Hört einmal, wie die armen Heisters schreien!"
  "Freilich, Kasper-Ohm. Aber wie ging's denn weiter mit dem Herrn
  Botanikus?"
  "Mit dem?--Nun, glaubt es oder nicht! Eines Tages ist er plötzlich zu
  Hause angekommen; aber es ist für ihn doch immer noch zu früh gewesen;
  denn als er mit seinen blinden Augen über die Straße stolpert, wird er von
  einer Karriole zu Boden gefahren, die eben lustig über das Pflaster
  rasselt."
  "Das verdammte Gejage!" rief der Krämer.
  "Ja, ja, Pfeffers; Ihr kennt das nicht, Ihr seid ein lediger Mensch; aber
  der Herr und die feine Dame, die darin saßen, konnten nicht zwischen die
  Pferdeohren hindurchsehen; sie hatten zuviel an ihren eigenen Augen zu
  beobachten."
  "Und hatte er Schaden genommen, der arme Herr?"
  "Nein, Pfeffers, nein, das nicht! Aber es ist seine eigene Frau gewesen,
  die Dame, die mit dem Baron in der Karriole saß."
  Der Krämer ließ wieder seinen langen Pfiff ertönen. "Das ist 'ne Sache;
  so ist er verheiratet gewesen, als die Preußen ihn gefangen haben! Nun,
  die Frau wird er wohl nicht mit sich bringen!"
  "Sollte man nicht glauben", meinte Kasper-Ohm; "denn er soll sich's noch
  einen meilenlangen Prozeß haben kosten lassen, um nur den Kopf aus diesem
  Eheknoten freizukriegen."
  "Und der Baron, was ist mit dem geworden?"
  "Den Baron, Pfeffers? Den hat er togeschossen, und dann ist er in die
  weite Welt gegangen, um sich all den Verdruß an den Füßen wieder
  abzulaufen. Nein, Freundchen, die feine Dame wird er wohl nicht mit
  herbringen, aber die alte taube Wieb Lewerenz aus Euerer Stadt, und das
  ist auch eine gute Frau. Sie hat ihren Dienst als Waisenmutter quittiert
  und kommt nun auf ihre alten Tage in den Narrenkasten."
  Der Inspektor war inzwischen aufgestanden.--"Schwatzt Ihr und der Teufel!"
  sagte er, indem er lachend auf die beiden andern herabsah; dann trank er
  sein Glas aus und schritt, den schweren Schlüssel in der Hand, zur Tür
  hinaus.--Unter dem Eichbaum durch, auf welchem der Falke von dem indes
  eroberten Neste auf ihn herabsah, ging er aus dem Gehöfte auf den Weg
  hinaus, welcher hier, vom Nordende des Dorfes, zwischen dicht mit
  Haselnußbäumen bewachsenen Wällen auf die Hauptlandstraße hinausführte.
  Schon auf der Mitte desselben aber bog er durch eine Lücke des Walles nach
  links in einen Fußweg ein; in der schon drückenden Sonne schritt er auf
  diesem über einige grüne, wellenförmig sich erhebende Saatfelder einer mit
  Eichenbusch besetzten Moorstrecke zu, hinter welcher in breitem Zuge und
  noch in dem bläulichen Duft des Morgens ein aus Eichen und stattlichen
  Buchen gemischter Laubwald seine weichen Linien gegen den blauen Himmel
  abzeichnete. Der Alte trocknete mit seinem Tuch den Schweiß sich von der
  Stirn, als er endlich in diese kühlen Schatten eintrat; über ihm aus einer
  hohen Baumkrone schmetterte eine Singdrossel ihren Gesang ins weite Land
  hinaus.
  Ein Viertelstündchen mochte er so gewandert sein, und der ihn umgebende
  Laubwald hatte inzwischen einem Tannenforste Platz gemacht, als sich, aus
  einem Seitensteige kommend, zwei andere Wanderer zu ihm gesellten.
  "Geht's denn recht hier nach dem Narrenkasten?"
  Ein Bauerbursche fragte es, der einem zwar einfach, aber städtisch
  gekleideten Mädchen ihren Koffer nachtrug.
  Der Alte nickte. "Ihr könnt nur mit mir gehen."
  "Aber ich will zum Waldwinkel", sagte das Mädchen.
  "Wird wohl auf eins hinauslaufen. Wenn Sie im Waldwinkel was zu bestellen
  haben, so ist's schon richtig hier."
  "Ich gehöre dort zum Hause", erwiderte sie.
  Der Alte, der bisher seinen Weg ruhig fortgesetzt hatte, wandte sich nach
  ihr zurück, und seine Augen blickten immer munterer, während er sich das
  junge Wesen ansah. "Nun", sagte er, "die Frau Lewerenz hätte ich mir, so
  zu verstehen, um ein paar Jährchen älter vorgestellt."
  Aber das Mädchen schien für solche Späße wenig eingenommen. Sie sah ihn
  mit ihren grauen Augen an und sagte: "Ich heiße Franziska Fedders. Die
  Frau Lewerenz wird wohl mit dem Herrn schon dort sein."
  "Da irren Sie denn doch, Mamsellchen", meinte der Alte, indem er mit der
  einen Hand vor ihr den Hut zog und mit der andern ihr den großen Schlüssel
  zeigte; "die Herrschaft kommt erst heute abend; aber Einlaß sollen Sie
  drum doch schon bekommen."
  Sie stutzte; aber nur einen Augenblick ruhte der Zeigefinger an der Lippe.
  "Es ist gut", sagte sie, "es paßte nicht anders mit dem Fuhrmann; lassen
  Sie uns gehen, Herr Inspektor!"
  Und so wanderten sie auf dem schattigen, mit trockenen Tannennadeln
  bestreuten Steige miteinander fort; immer riesiger wurden die Föhren, die
  zu beiden Seiten aufstiegen und ihre Zweige über sie hinstreckten.
  Plötzlich öffnete sich das Dickicht; eine mit Wiesenkräutern bewachsene,
  muldenartige Vertiefung, gleich dem Bette eines verlassenen Flusses, zog
  sich quer zu ihren Füßen hin, während jenseits auf der Höhe wiederum ein
  Eichen- und Buchenwald seine Laubmassen ausbreitete. Nur ihnen gegenüber
  zeigte sich eine Lücke, durch welche man bis zum Horizont auf ein braunes
  Heideland hinausblickte. Zur Linken dieser Durchsicht aber, mit der
  andern Seite sich hart an den Wald hinandrängend, ragte ein altes
  Backsteingebäude, das durch sein hohes Dach ein fast turmartiges Aussehen
  erhielt; eine Mauer, über welcher nur die vier Fenster des oberen
  Stockwerks sichtbar waren, trat, von den beiden Ecken der Front auslaufend,
  in ovaler Rundung fast an den Rand der Wiesenmulde hinaus.
  Der Alte, der während des Gehens Franziska von seinen Einzugsmühen
  unterhalten hatte, war stehengeblieben und wies schweigend nach dem mit
  schwerem Metallbeschlag bedeckten Tore, das sich gegenüber in der Mitte
  der Mauer zeigte. Oberhalb desselben in einer Sandsteinverzierung befand
  sich eine Inschrift, deren einst vergoldete Buchstaben bei dem scharfen
  Sonnenlichte auch aus der Ferne noch erkennbar waren. "Waldwinkel"
  buchstabierte Franziska.
  "Oho, Phylax!" rief der Inspektor. "Hören Sie ihn, Mamsellchen; er hat
  schon meinen Schritt erkannt!"
  Aus dem verschlossenen Hofe drüben hatte sich das Bellen eines Hundes
  hören lassen; zugleich erhob sich von einem Eichenaste, der aus dem Walde
  auf das Dach hinüberlangte, ein großer Raubvogel und kreiste jetzt, seinen
  wilden Schrei ausstoßend, hoch über dem einsamen Bauwerk.
  Sie waren indes auf der kaum noch sichtbaren Fortsetzung des Waldsteiges
  in die Wiesenmulde hinabgegangen. Die nach Süden gelegene Frontseite des
  immer näher vor ihnen aufsteigenden Gebäudes war von der Sonne hell
  beleuchtet, sogar an den Drachenköpfen der Wasserrinnen, welche unterhalb
  des Daches gegen den Wald hinausragten, sah man die Reste einstiger
  Vergoldung schimmern. Von den beiden Wetterfahnen, mit welchen an den
  Endpunkten die kurze First des Daches geziert war, hatte die eine sich
  fast ganz im grünen Laub versteckt, während die andere sich regungslos am
  blauen Himmel abzeichnete.
  Und jetzt war das jenseitige Ufer erstiegen, und der Inspektor hatte den
  Schlüssel in dem Bohlentore umgedreht.
  Ein schattiger, mit Steinplatten ausgelegter Hof empfing sie, während der
  Pudel mit Freudensprüngen an seinem Herrn emporstrebte.--Zur Linken des
  Eingangs war ein steinerner Brunnen, neben dem ein augenscheinlich neu
  angefertigter, mit Wasser gefüllter Eimer stand; an der Mauer des Hauses,
  an welcher eben der Sonnenschein hinabrückte, wucherten hohe, mit Knospen
  übersäte Rosenbüsche; die zu beiden Seiten der Haustür auf den Hof
  gehenden Fenster wurden fast davon bedeckt. "Der alte Herr", sagte der
  Inspektor, "hat sie selber noch gepflanzt."
  Dann traten sie über ein paar Stufen in das Haus.--Zur Linken des Flurs
  lag die Küche; zur Rechten ein einfenstriges Zimmer, dessen Ausrüstung
  schon die künftige Bewohnerin erkennen ließ. Zwar das hohe Bettgerüst
  dort entbehrte noch des Umhanges wie des schwellenden Inhalts; aber in der
  Ecke standen Spinnrad und Haspel, und über der altfränkischen Kommode hing
  ein desgleichen Spiegelchen, hinter welchem nur noch die kreuzweis
  aufgesteckten Pfauenfedern fehlten. "Also, das ist nicht Ihr Zimmer,
  Mamsellchen!" sagte der Alte, noch einmal einen Scherz versuchend.
  Als er keine Antwort erhielt, deutete er auf seinen Pudel, der lustig die
  zum oberen Stockwerk führende Treppe hinaufsprang. "Folgen wir ihm!"
  sagte er, "dort hinten sind nur noch die Vorratskammern."
  Oben angekommen, schloß er die Tür zu einem mäßig großen Zimmer auf, das
  bis auf die Vorhänge völlig eingerichtet schien. Die beiden Fenster, mit
  denen es über die Wiesenmulde auf den Tannenwald hinaussah, waren die
  mittleren von den vieren, welche sie von drüben aus erblickt hatten. Vor
  dem zur Linken stand ein weichgepolsterter Ohrenlehnstuhl, an der
  Seitenwand des andern ein Schreibtisch mit vielen Fächern und Schiebladen;
  neben diesem, bereits im Tick-tack ihren Pendel schwingend, hing eine
  kleine Kuckucksuhr, wie sie so zierlich weit droben im Schwarzwalde
  verfertigt werden. Eine altmodische, aber noch wohlerhaltene Tapete, mit
  rot und violett blühendem Mohn auf dunkelbraunem Grund, bekleidete die
  Wände.
  Schweigend, aber aufmerksam betrachtete Franziska alles, während sie dem
  Alten die Fensterflügel öffnen half.
  Zu jeder Seite dieses Blumenzimmers, und durch eine Tür damit verbunden,
  lag ein schmaleres; beide nur mit einem Fenster auf den Tannenwald
  hinausgehend. In dem zur Linken befanden sich außer einigen Stühlen nur
  noch ein eisernes Feldbett und ein paar hohe Reisekoffer. Franziska warf
  nur einen flüchtigen Blick hinein, während ihr Führer schon die Tür des
  gegenüberliegenden geöffnet hatte,
  "Und nun gibt's was zu lesen!" rief dieser. "Der Herr Doktor ist selbst
  hier außen gewesen und hat einen ganzen Tag da drin gesessen."
  Und wirklich, es war eine stattliche Hausbibliothek, die hier in sauberem
  Einband auf offenen Regalen an den Wänden aufgestellt war. Aber während
  das Mädchen einen Band von Okens "Isis" herauszog, der ihr aus des
  Magisters Pensionat bekannt war, hatte der Alte dem Fenster gegenüber
  schon eine weitere Tür erschlossen.
  Das Zimmer, in welches sie hineinführte, lag gegen Westen und im Gegensatz
  zu den sonnigen Räumen der Vorderseite noch in der Schattendämmerung des
  unmittelbar daran grenzenden Waldes.
  "Sie müssen nicht erschrecken, Mamsellchen", sagte der Alte, indem er auf
  ein Eisengitter zeigte, womit das einzige Fenster nach außen hin versehen
  war. "Es ist kein Gefängnis, sondern auch nur so eine Liebhaberei vom
  alten Herrn gewesen."
  "Ich erschrecke nicht so leicht", sagte das Mädchen, indem sie, ihm nach,
  über die Schwelle trat.
  "Nun, so wollen wir den Burschen Ihr Gepäck heraufbringen lassen; denn
  dort das Bettchen und das Jungfernspiegelchen hier auf der Kommode werden
  doch wohl für Sie dahin beordert sein."
  Als Franziska ihre Sachen in Empfang genommen und den Burschen abgelohnt
  hatte, meinte der Alte: "Und jetzt, Mamsellchen, werd ich Sie ins Dorf
  zurückbegleiten; es ist zwar ein Stündchen Wandern, aber einen guten
  Eierkuchen wird Ihnen Kaspers Margret schon zu Mittag backen, und gegen
  Abend wird der Herr Doktor dort zu Wagen einkehren, um von mir den
  Schlüssel in Empfang zu nehmen."
  Allein das Mädchen schüttelte den Kopf. "Ich bin nun einmal hier; zu
  essen hab ich noch in meiner Reisetasche."
  Der Alte rieb sich das bärtige Kinn mit seiner Hand. "Aber ich werde Sie
  einschließen müssen; ich muß dem Herrn Doktor selbst den Schlüssel
  überliefern."
  "Schließen Sie nur, Herr Inspektor!"
  "Hm!--Soll ich Ihnen auch den Phylax hierlassen?"
  "Den Phylax? Weshalb das? Da könnt's am Ende doch noch auf eine
  Hungersnot hinauslaufen."
  "Nun, nun; ich dachte nur; er ist so unterhaltsam."
  "Aber ich habe keine Langeweile."
  "Ja, ja; Sie haben recht."
  "Also, Herr Inspektor!"
  "Also, Mamsellchen, soll ich schließen?"
  
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