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Tonio Kröger - 1
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THOMAS MANN
TONIO KRÖGER
1964
S. FISCHER VERLAG
S. FISCHER SCHULAUSGABEN
TEXTE MODERNER AUTOREN
255.--284. Tausend dieser Ausgabe
Copyright 1922 by S. Fischer Verlag AG, Berlin
Druck: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg
Printed in Germany
I
Die Wintersonne stand nur als armer Schein, milchig und matt hinter
Wolkenschichten über der engen Stadt. Naß und zugig war's in den
giebeligen Gassen, und manchmal fiel eine Art von weichem Hagel, nicht
Eis, nicht Schnee.
Die Schule war aus. Über den gepflasterten Hof und heraus aus der
Gatterpforte strömten die Scharen der Befreiten, teilten sich und
enteilten nach rechts und links. Große Schüler hielten mit Würde ihr
Bücherpäckchen hoch gegen die linke Schulter gedrückt, indem sie mit dem
rechten Arm wider den Wind dem Mittagessen entgegen ruderten; kleines
Volk setzte sich lustig in Trab, daß der Eisbrei umherspritzte und die
Siebensachen der Wissenschaft in den Seehundsränzeln klapperten. Aber
hie und da riß alles mit frommen Augen die Mützen herunter vor dem
Wotanshut und dem Jupiterbart eines gemessen hinschreitenden
Oberlehrers...
»Kommst du endlich, Hans?« sagte Tonio Kröger, der lange auf dem
Fahrdamm gewartet hatte; lächelnd trat er dem Freunde entgegen, der im
Gespräch mit anderen Kameraden aus der Pforte kam und schon im Begriffe
war, mit ihnen davonzugehen... »Wieso?« fragte er und sah Tonio an...
»Ja, das ist wahr! Nun gehen wir noch ein bißchen.«
Tonio verstummte, und seine Augen trübten sich. Hatte Hans es vergessen,
fiel es ihm erst jetzt wieder ein, daß sie heute mittag ein wenig
zusammen spazierengehen wollten? Und er selbst hatte sich seit der
Verabredung beinahe unausgesetzt darauf gefreut!
»Ja, adieu, ihr!« sagte Hans Hansen zu den Kameraden. »Dann gehe ich
noch ein bißchen mit Kröger.« -- Und die beiden wandten sich nach links,
indes die anderen nach rechts schlenderten.
Hans und Tonio hatten Zeit, nach der Schule spazierenzugehen, weil sie
beide Häusern angehörten, in denen erst um vier Uhr zu Mittag gegessen
wurde. Ihre Väter waren große Kaufleute, die öffentliche Ämter
bekleideten und mächtig waren in der Stadt. Den Hansens gehörten schon
seit manchem Menschenalter die weitläufigen Holzlagerplätze drunten am
Fluß, wo gewaltige Sägemaschinen unter Fauchen und Zischen die Stämme
zerlegten. Aber Tonio war Konsul Krögers Sohn, dessen Getreidesäcke mit
dem breiten schwarzen Firmendruck man Tag für Tag durch die Straßen
kutschieren sah; und seiner Vorfahren großes altes Haus war das
herrschaftlichste der ganzen Stadt... Beständig mußten die Freunde, der
vielen Bekannten wegen, die Mützen herunternehmen, ja, von manchen
Leuten wurden die Vierzehnjährigen zuerst gegrüßt...
Beide hatten die Schulmappen über die Schultern gehängt, und beide
waren sie gut und warm gekleidet; Hans in eine kurze Seemanns-Überjacke,
über welcher auf Schultern und Rücken der breite, blaue Kragen seines
Marineanzuges lag, und Tonio in einen grauen Gurtpaletot. Hans trug eine
dänische Matrosenmütze mit kurzen Bändern, unter der ein Schopf seines
bastblonden Haares hervorquoll. Er war außerordentlich hübsch und
wohlgestaltet, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, mit
freiliegenden und scharf blickenden stahlblauen Augen. Aber unter Tonios
runder Pelzmütze blickten aus einem brünetten und ganz südlich
scharfgeschnittenen Gesicht dunkle und zart umschattete Augen mit zu
schweren Lidern träumerisch und ein wenig zaghaft hervor... Mund und
Kinn waren ihm ungewöhnlich weich gebildet. Er ging nachlässig und
ungleichmäßig, während Hansens schlanke Beine in den schwarzen Strümpfen
so elastisch und taktfest einherschritten...
Tonio sprach nicht. Er empfand Schmerz. Indem er seine etwas schräg
stehenden Brauen zusammenzog und die Lippen zum Pfeifen gerundet hielt,
blickte er seitwärts geneigten Kopfes ins Weite. Diese Haltung und Miene
war ihm eigentümlich.
Plötzlich schob Hans seinen Arm unter den Tonios und sah ihn dabei von
der Seite an, denn er begriff sehr wohl, um was es sich handelte. Und
obgleich Tonio auch bei den nächsten Schritten noch schwieg, so ward er
doch auf einmal sehr weich gestimmt.
»Ich hatte es nämlich nicht vergessen, Tonio«, sagte Hans und blickte
vor sich nieder auf das Trottoir, »sondern ich dachte nur, daß heute
doch wohl nichts daraus werden könnte, weil es ja so naß und windig ist.
Aber mir macht das gar nichts, und ich finde es famos, daß du trotzdem
auf mich gewartet hast. Ich glaubte schon, du seist nach Hause gegangen,
und ärgerte mich...«
Alles in Tonio geriet in eine hüpfende und jubelnde Bewegung bei diesen
Worten.
»Ja, wir gehen nun also über die Wälle!« sagte er mit bewegter Stimme.
»Über den Mühlenwall und den Holstenwall, und so bringe ich dich nach
Hause, Hans... Bewahre, das schadet gar nichts, daß ich dann meinen
Heimweg allein mache; das nächste Mal begleitest du mich.«
Im Grunde glaubte er nicht sehr fest an das, was Hans gesagt hatte, und
fühlte genau, daß jener nur halb soviel Gewicht auf diesen Spaziergang
zu zweien legte wie er. Aber er sah doch, daß Hans seine Vergeßlichkeit
bereute und es sich angelegen sein ließ, ihn zu versöhnen. Und er war
weit von der Absicht entfernt, die Versöhnung hintanzuhalten...
Die Sache war die, daß Tonio Hans Hansen liebte und schon vieles um ihn
gelitten hatte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muß
leiden, -- diese schlichte und harte Lehre hatte seine vierzehnjährige
Seele bereits vom Leben entgegengenommen; und er war so geartet, daß er
solche Erfahrungen wohl vermerkte, sie gleichsam innerlich aufschrieb
und gewissermaßen seine Freude daran hatte, ohne sich freilich für seine
Person danach zu richten und praktischen Nutzen daraus zu ziehen. Auch
war es so mit ihm bestellt, daß er solche Lehren weit wichtiger und
interessanter achtete als die Kenntnisse, die man ihm in der Schule
aufnötigte, ja, daß er sich während der Unterrichtsstunden in den
gotischen Klassengewölben meistens damit abgab, solche Einsichten bis
auf den Grund zu empfinden und völlig auszudenken. Und diese
Beschäftigung bereitete ihm eine ganz ähnliche Genugtuung, wie wenn er
mit seiner Geige (denn er spielte die Geige) in seinem Zimmer umherging
und die Töne, so weich, wie er sie nur hervorzubringen vermochte, in das
Plätschern des Springstrahles hinein erklingen ließ, der drunten im
Garten unter den Zweigen des alten Walnußbaumes tänzelnd emporstieg...
Der Springbrunnen, der alte Walnußbaum, seine Geige und in der Ferne das
Meer, die Ostsee, deren sommerliche Träume er in den Ferien belauschen
durfte, diese Dinge waren es, die er liebte, mit denen er sich gleichsam
umstellte und zwischen denen sich sein inneres Leben abspielte, Dinge,
deren Namen mit guter Wirkung in Versen zu verwenden sind und auch
wirklich in den Versen, die Tonio Kröger zuweilen verfertigte, immer
wieder erklangen.
Dieses, daß er ein Heft mit selbstgeschriebenen Versen besaß, war durch
sein eigenes Verschulden bekanntgeworden und schadete ihm sehr, bei
seinen Mitschülern sowohl wie bei den Lehrern. Dem Sohne Konsul Krögers
schien es einerseits, als sei es dumm und gemein, daran Anstoß zu
nehmen, und er verachtete dafür sowohl die Mitschüler wie die Lehrer,
deren schlechte Manieren ihn obendrein abstießen, und deren persönliche
Schwächen er seltsam eindringlich durchschaute. Andererseits aber
empfand er selbst es als ausschweifend und eigentlich ungehörig, Verse
zu machen, und mußte all denen gewissermaßen recht geben, die es für
eine befremdende Beschäftigung hielten. Allein das vermochte ihn nicht,
davon abzulassen...
Da er daheim seine Zeit vertat, beim Unterricht langsamen und
abgewandten Geistes war und bei den Lehrern schlecht angeschrieben
stand, so brachte er beständig die erbärmlichsten Zensuren nach Hause,
worüber sein Vater, ein langer, sorgfältig gekleideter Herr mit
sinnenden blauen Augen, der immer eine Feldblume im Knopfloch trug, sich
sehr erzürnt und bekümmert zeigte. Der Mutter Tonios jedoch, seiner
schönen, schwarzhaarigen Mutter, die Consuelo mit Vornamen hieß und
überhaupt so anders war als die übrigen Damen der Stadt, weil der Vater
sie sich einstmals von ganz unten auf der Landkarte heraufgeholt hatte,
-- seiner Mutter waren die Zeugnisse grundeinerlei...
Tonio liebte seine dunkle und feurige Mutter, die so wunderbar den
Flügel und die Mandoline spielte, und er war froh, daß sie sich ob
seiner zweifelhaften Stellung unter den Menschen nicht grämte.
Andererseits aber empfand er, daß der Zorn des Vaters weit würdiger und
respektabler sei, und war, obgleich er von ihm gescholten wurde, im
Grunde ganz einverstanden mit ihm, während er die heitere
Gleichgültigkeit der Mutter ein wenig liederlich fand. Manchmal dachte
er ungefähr: Es ist gerade genug, daß ich bin, wie ich bin, und mich
nicht ändern will und kann, fahrlässig, widerspenstig und auf Dinge
bedacht, an die sonst niemand denkt. Wenigstens gehört es sich, daß man
mich ernstlich schilt und straft dafür, und nicht mit Küssen und Musik
darüber hinweggeht. Wir sind doch keine Zigeuner im grünen Wagen,
sondern anständige Leute, Konsul Krögers, die Familie der Kröger...
Nicht selten dachte er auch: Warum bin ich doch so sonderlich und in
Widerstreit mit allem, zerfallen mit den Lehrern und fremd unter den
anderen Jungen? Siehe sie an, die guten Schüler und die von solider
Mittelmäßigkeit. Sie finden die Lehrer nicht komisch, sie machen keine
Verse und denken nur Dinge, die man eben denkt und die man laut
aussprechen kann. Wie ordentlich und einverstanden mit allem und
jedermann sie sich fühlen müssen! Das muß gut sein... Was aber ist mit
mir, und wie wird dies alles ablaufen?
Diese Art und Weise, sich selbst und sein Verhältnis zum Leben zu
betrachten, spielte eine wichtige Rolle in Tonios Liebe zu Hans Hansen.
Er liebte ihn zunächst, weil er schön war; dann aber, weil er in allen
Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erschien. Hans Hansen
war ein vortrefflicher Schüler und außerdem ein frischer Gesell, der
ritt, turnte, schwamm wie ein Held und sich der allgemeinen Beliebtheit
erfreute. Die Lehrer waren ihm beinahe mit Zärtlichkeit zugetan, nannten
ihn mit Vornamen und förderten ihn auf alle Weise, die Kameraden waren
auf seine Gunst bedacht, und auf der Straße hielten ihn Herren und Damen
an, faßten ihn an dem Schopfe bastblonden Haares, der unter seiner
dänischen Schiffermütze hervorquoll, und sagten: »Guten Tag, Hans
Hansen, mit deinem netten Schopf! Bist du noch Primus? Grüß Papa und
Mama, mein prächtiger Junge...«
So war Hans Hansen, und seit Tonio Kröger ihn kannte, empfand er
Sehnsucht, sobald er ihn erblickte, eine neidische Sehnsucht, die
oberhalb der Brust saß und brannte. Wer so blaue Augen hätte, dachte er,
und so in Ordnung und glücklicher Gemeinschaft mit aller Welt lebte wie
du! Stets bist du auf eine wohlanständige und allgemein respektierte
Weise beschäftigt. Wenn du die Schulaufgaben erledigt hast, so nimmst du
Reitstunden oder arbeitest mit der Laubsäge, und selbst in den Ferien,
an der See, bist du vom Rudern, Segeln und Schwimmen in Anspruch
genommen, indes ich müßiggängerisch und verloren im Sande liege und auf
die geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele starre, die über des Meeres
Antlitz huschen. Aber darum sind deine Augen so klar. Zu sein wie du...
Er machte nicht den Versuch, zu werden wie Hans Hansen, und vielleicht
war es ihm nicht einmal sehr ernst mit diesem Wunsche. Aber er begehrte
schmerzlich, so wie er war, von ihm geliebt zu werden, und er warb um
seine Liebe auf seine Art, eine langsame und innige, hingebungsvolle,
leidende und wehmütige Art, aber von einer Wehmut, die tiefer und
zehrender brennen kann als alle jähe Leidenschaftlichkeit, die man von
seinem fremden Äußeren hätte erwarten können.
Und er warb nicht ganz vergebens, denn Hans, der übrigens eine gewisse
Überlegenheit an ihm achtete, eine Gewandtheit des Mundes, die Tonio
befähigte, schwierige Dinge auszusprechen, begriff ganz wohl, daß hier
eine ungewöhnlich starke und zarte Empfindung für ihn lebendig sei,
erwies sich dankbar und bereitete ihm manches Glück durch sein
Entgegenkommen -- aber auch manche Pein der Eifersucht, der Enttäuschung
und der vergeblichen Mühe, eine geistige Gemeinschaft herzustellen. Denn
es war das Merkwürdige, daß Tonio, der Hans Hansen doch um seine
Daseinsart beneidete, beständig trachtete, ihn zu seiner eigenen
herüberzuziehen, was höchstens auf Augenblicke und auch dann nur
scheinbar gelingen konnte...
»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles...«,
sagte er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Tüte Fruchtbonbons,
die sie beim Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennige
erstanden hatten. »Du mußt es lesen, Hans, es ist nämlich >Don Carlos<
von Schiller... Ich leihe es dir, wenn du willst...«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »das laß nur, Tonio, das paßt nicht für
mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose Abbildungen
sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige ich sie dir.
Es sind Augenblicksphotographien, und man sieht die Gäule im Trab und im
Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar
nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht...«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber
>Don Carlos< betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen
darin, du sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck gibt,
daß es gleichsam knallt...«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen... »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von
dem Marquis betrogen ist... aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen
zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt
aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König geweint
hat. >Geweint?< >Der König geweint?< Alle Hofmänner sind fürchterlich
betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich
starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint
hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis
zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun
glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn...«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonios Gesicht, und irgend etwas in
diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er schob
plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonios und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
»Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und
Flandern...«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.
Tonio verstummte. Möchte ihn doch, dachte er, die Erde verschlingen,
diesen Jimmerthal! Warum muß er kommen und uns stören! Wenn er nur nicht
mit uns geht und den ganzen Weg von der Reitstunde spricht... Denn Erwin
Jimmerthal hatte ebenfalls Reitstunde. Er war der Sohn des Bankdirektors
und wohnte hier draußen vorm Tore. Mit seinen krummen Beinen und
Schlitzaugen kam er ihnen, schon ohne Schulmappe, durch die Allee
entgegen.
»Tag, Jimmerthal«, sagte Hans. »Ich gehe ein bißchen mit Kröger...«
»Ich muß zur Stadt«, sagte Jimmerthal, »und etwas besorgen. Aber ich
gehe noch ein Stück mit euch... Das sind wohl Fruchtbonbons, die ihr da
habt? Ja, danke, ein paar esse ich. Morgen haben wir wieder Stunde,
Hans.« -- Es war die Reitstunde gemeint.
»Famos!« sagte Hans. »Ich bekomme jetzt die ledernen Gamaschen, du, weil
ich neulich die Eins im Exerzitium hatte...«
»Du hast wohl keine Reitstunde, Kröger?« fragte Jimmerthal, und seine
Augen waren nur ein Paar blanker Ritzen...
»Nein«, antwortete Tonio mit ganz ungewisser Betonung.
»Du solltest«, bemerkte Hans Hansen, »deinen Vater bitten, daß du auch
Stunde bekommst, Kröger.«
»Ja...«, sagte Tonio zugleich hastig und gleichgültig. Einen Augenblick
schnürte sich ihm die Kehle zusammen, weil Hans ihn mit Nachnamen
angeredet hatte; und Hans schien dies zu fühlen, denn er sagte
erläuternd:
»Ich nenne dich Kröger, weil dein Vorname so verrückt ist, du,
entschuldige, aber ich mag ihn nicht leiden, Tonio... Das ist doch
überhaupt kein Name. Übrigens kannst du ja nichts dafür, bewahre!«
»Nein, du heißt wohl hauptsächlich so, weil es so ausländisch klingt und
etwas Besonderes ist...«, sagte Jimmerthal und tat, als ob er zum Guten
reden wollte.
Tonios Mund zuckte. Er nahm sich zusammen und sagte:
»Ja, es ist ein alberner Name, ich möchte, weiß Gott, lieber Heinrich
oder Wilhelm heißen, das könnt ihr mir glauben. Aber es kommt daher, daß
ein Bruder meiner Mutter, nach dem ich getauft worden bin, Antonio
heißt; denn meine Mutter ist doch von drüben...«
Dann schwieg er und ließ die beiden von Pferden und Lederzeug sprechen.
Hans hatte Jimmerthal untergefaßt und redete mit einer geläufigen
Teilnahme, die für >Don Carlos< niemals in ihm zu erwecken gewesen
wäre... Von Zeit zu Zeit fühlte Tonio, wie der Drang zu weinen ihm
prickelnd in die Nase stieg; auch hatte er Mühe, sein Kinn in der Gewalt
zu behalten, das beständig ins Zittern geriet...
Hans mochte seinen Namen nicht leiden, -- was war dabei zu tun? Er
selbst hieß Hans, und Jimmerthal hieß Erwin, gut, das waren allgemein
anerkannte Namen, die niemand befremdeten. Aber >Tonio< war etwas
Ausländisches und Besonderes. Ja, es war in allen Stücken etwas
Besonderes mit ihm, ob er wollte oder nicht, und er war allein und
ausgeschlossen von den Ordentlichen und Gewöhnlichen, obgleich er doch
kein Zigeuner im grünen Wagen war, sondern ein Sohn Konsul Krögers, aus
der Familie der Kröger... Aber warum nannte Hans ihn Tonio, solange sie
allein waren, wenn er, kam ein dritter hinzu, anfing, sich seiner zu
schämen? Zuweilen war er ihm nahe und gewonnen, ja. Auf welche Weise
verrät er ihn denn, Tonio? hatte er gefragt und ihn untergefaßt. Aber
als dann Jimmerthal gekommen war, hatte er dennoch erleichtert
aufgeatmet, hatte ihn verlassen und ihm ohne Not seinen fremden Rufnamen
vorgeworfen. Wie weh es tat, dies alles durchschauen zu müssen!... Hans
Hansen hatte ihn im Grunde ein wenig gern, wenn sie unter sich waren, er
wußte es. Aber kam ein dritter, so schämte er sich dessen und opferte
ihn auf. Und er war wieder allein. Er dachte an König Philipp. Der König
hat geweint...
»Gott bewahre«, sagte Erwin Jimmerthal, »nun muß ich aber wirklich zur
Stadt! Adieu, ihr, und Dank für die Fruchtbonbons!« Darauf sprang er auf
eine Bank, die am Wege stand, lief mit seinen krummen Beinen darauf
entlang und trabte davon.
»Jimmerthal mag ich leiden!« sagte Hans mit Nachdruck. Er hatte eine
verwöhnte und selbstbewußte Art, seine Sympathien und Abneigungen
kundzugeben, sie gleichsam gnädigst zu verteilen... Und dann fuhr er
fort, von der Reitstunde zu sprechen, weil er einmal im Zuge war. Es war
auch nicht mehr so weit bis zum Hansenschen Wohnhause; der Weg über die
Wälle nahm nicht so viel Zeit in Anspruch. Sie hielten ihre Mützen fest
und beugten die Köpfe vor dem starken, feuchten Wind, der in dem kahlen
Geäst der Bäume knarrte und stöhnte. Und Hans Hansen sprach, während
Tonio nur dann und wann ein künstliches Ach und Jaja einfließen ließ,
ohne Freude darüber, daß Hans ihn im Eifer der Rede wieder untergefaßt
hatte, denn das war nur eine scheinbare Annäherung, ohne Bedeutung.
Dann verließen sie die Wallanlagen unfern des Bahnhofes, sahen einen Zug
mit plumper Eilfertigkeit vorüberpuffen, zählten zum Zeitvertreib die
Wagen und winkten dem Manne zu, der in seinen Pelz vermummt zuhöchst auf
dem allerletzten saß. Und am Lindenplatze, vor Großhändler Hansens
Villa, blieben sie stehen, und Hans zeigte ausführlich, wie amüsant es
sei, sich unten auf die Gartenpforte zu stellen und sich in den Angeln
hin und her zu schlenkern, daß es nur so kreischte. Aber hierauf
verabschiedete er sich.
»Ja, nun muß ich hinein«, sagte er. »Adieu, Tonio. Das nächste Mal
begleite ich dich nach Hause, sei sicher.«
»Adieu, Hans«, sagte Tonio, »es war nett, spazierenzugehen.«
Ihre Hände, die sich drückten, waren ganz naß und rostig von der
Gartenpforte. Als aber Hans in Tonios Augen sah, entstand etwas wie
reuiges Besinnen in seinem hübschen Gesicht.
»Übrigens werde ich nächstens >Don Carlos< lesen!« sagte er rasch. »Das
mit dem König im Kabinett muß famos sein!« Dann nahm er seine Mappe
unter den Arm und lief durch den Vorgarten. Bevor er im Hause
verschwand, nickte er noch einmal zurück.
Und Tonio Kröger ging ganz verklärt und beschwingt von dannen. Der Wind
trug ihn von hinten, aber es war nicht darum allein, daß er so leicht
von der Stelle kam.
Hans würde >Don Carlos< lesen, und dann würden sie etwas miteinander
haben, worüber weder Jimmerthal noch irgendein anderer mitreden konnte!
Wie gut sie einander verstanden! Wer wußte, -- vielleicht brachte er ihn
noch dazu, ebenfalls Verse zu schreiben?... Nein, nein, das wollte er
nicht! Hans sollte nicht werden wie Tonio, sondern bleiben, wie er war,
so hell und stark, wie alle ihn liebten und Tonio am meisten! Aber daß
er >Don Carlos< las, würde trotzdem nicht schaden... Und Tonio ging
durch das alte, untersetzte Tor, ging am Hafen entlang und die steile,
zugige und nasse Giebelgasse hinauf zum Haus seiner Eltern. Damals lebte
sein Herz; Sehnsucht war darin und schwermütiger Neid und ein klein
wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.
II
Die blonde Inge, Ingeborg Holm, Doktor Holms Tochter, der am Markte
wohnte, dort, wo hoch, spitzig und vielfach der gotische Brunnen stand,
sie war's, die Tonio Kröger liebte, als er sechzehn Jahre alt war.
Wie geschah das? Er hatte sie tausendmal gesehen; an einem Abend jedoch
sah er sie in einer gewissen Beleuchtung, sah, wie sie im Gespräch mit
einer Freundin auf eine gewisse übermütige Art lachend den Kopf zur
Seite warf, auf eine gewisse Art ihre Hand, eine gar nicht besonders
schmale, gar nicht besonders feine Kleinmädchenhand zum Hinterkopfe
führte, wobei der weiße Gazeärmel von ihrem Ellenbogen zurückglitt,
hörte, wie sie ein Wort, ein gleichgültiges Wort, auf eine gewisse Art
betonte, wobei ein warmes Klingen in ihrer Stimme war, und ein Entzücken
ergriff sein Herz, weit stärker als jenes, das er früher zuweilen
empfunden hatte, wenn er Hans Hansen betrachtete, damals, als er noch
ein kleiner, dummer Junge war.
An diesem Abend nahm er ihr Bild mit fort, mit dem dicken, blonden
Zopf, den länglich geschnittenen, lachenden, blauen Augen und dem zart
angedeuteten Sattel von Sommersprossen über der Nase, konnte nicht
einschlafen, weil er das Klingen in ihrer Stimme hörte, versuchte leise,
die Betonung nachzuahmen, mit der sie das gleichgültige Wort
ausgesprochen hatte, und erschauerte dabei. Die Erfahrung lehrte ihn,
daß dies die Liebe sei. Aber obgleich er genau wußte, daß die Liebe ihm
viel Schmerz, Drangsal und Demütigung bringen müsse, daß sie überdies
den Frieden zerstöre und das Herz mit Melodien überfülle, ohne daß man
Ruhe fand, eine Sache rund zu formen und in Gelassenheit etwas Ganzes
daraus zu schmieden, so nahm er sie doch mit Freuden auf, überließ sich
ihr ganz und pflegte sie mit den Kräften seines Gemütes, denn er wußte,
daß sie reich und lebendig mache, und er sehnte sich, reich und lebendig
zu sein, statt in Gelassenheit etwas Ganzes zu schmieden...
Dies, daß Tonio Kröger sich an die lustige Inge Holm verlor, ereignete
sich in dem ausgeräumten Salon der Konsulin Husteede, die es an jenem
Abend traf, die Tanzstunde zu geben; denn es war ein Privatkursus, an
dem nur Angehörige von ersten Familien teilnahmen, und man versammelte
sich reihum in den elterlichen Häusern, um sich Unterricht in Tanz und
Anstand erteilen zu lassen. Aber zu diesem Behufe kam allwöchentlich
Ballettmeister Knaak eigens von Hamburg herbei.
François Knaak war sein Name, und was für ein Mann war das! »J'ai
l'honneur de me vous représenter«, sagte er, »mon nom est Knaak... Und
dies spricht man nicht aus, während man sich verbeugt, sondern wenn man
wieder aufrecht steht, -- gedämpft und dennoch deutlich. Man ist nicht
täglich in der Lage, sich auf französisch vorstellen zu müssen, aber
kann man es in dieser Sprache korrekt und tadellos, so wird es einem auf
deutsch erst recht nicht fehlen.« Wie wunderbar der seidig schwarze
Gehrock sich an seine fetten Hüften schmiegte! In weichen Falten fiel
sein Beinkleid auf seine Lackschuhe hinab, die mit breiten
Atlasschleifen geschmückt waren, und seine braunen Augen blickten mit
einem müden Glück über ihre eigene Schönheit umher...
Jedermann ward erdrückt durch das Übermaß seiner Sicherheit und
Wohlanständigkeit. Er schritt -- und niemand schritt wie er, elastisch,
wogend, wiegend, königlich -- auf die Herrin des Hauses zu, verbeugte
sich und wartete, daß man ihm die Hand reiche. Erhielt er sie, so dankte
er mit leiser Stimme dafür, trat federnd zurück, wandte sich auf dem
linken Fuße, schnellte den rechten mit niedergedrückter Spitze seitwärts
vom Boden ab und schritt mit bebenden Hüften davon...
Man ging rückwärts und unter Verbeugungen zur Tür hinaus, wenn man eine
Gesellschaft verließ, man schleppte einen Stuhl nicht herbei, indem man
ihn an einem Bein ergriff oder am Boden entlang schleifte, sondern man
trug ihn leicht an der Lehne herzu und setzte ihn geräuschlos nieder.
Man stand nicht da, indem man die Hände auf dem Bauch faltete und die
Zunge in den Mundwinkel schob; tat man es dennoch, so hatte Herr Knaak
eine Art, es ebenso zu machen, daß man für den Rest seines Lebens einen
Ekel vor dieser Haltung bewahrte...
Dies war der Anstand. Was aber den Tanz betraf, so meisterte Herr Knaak
ihn womöglich in noch höherem Grade. In dem ausgeräumten Salon brannten
die Gasflammen des Kronleuchters und die Kerzen auf dem Kamin. Der Boden
war mit Talkum bestreut, und in stummem Halbkreise standen die Eleven
umher. Aber jenseits der Portieren, in der anstoßenden Stube, saßen auf
Plüschstühlen die Mütter und Tanten und betrachteten durch ihre
Lorgnetten Herrn Knaak, wie er, in gebückter Haltung, den Saum seines
Gehrockes mit je zwei Fingern erfaßt hielt und mit federnden Beinen die
einzelnen Teile der Mazurka demonstrierte. Beabsichtigte er aber, sein
Publikum gänzlich zu verblüffen, so schnellte er sich plötzlich und ohne
zwingenden Grund vom Boden empor, indem er seine Beine mit verwirrender
Schnelligkeit in der Luft umeinander wirbelte, gleichsam mit denselben
trillerte, worauf er mit einem gedämpften, aber alles in seinen Festen
erschütternden Plumps zu dieser Erde zurückkehrte...
Was für ein unbegreiflicher Affe, dachte Antonio Kröger in seinem Sinn.
Aber er sah wohl, daß Inge Holm, die lustige Inge, oft mit einem
selbstvergessenen Lächeln Herrn Knaaks Bewegungen verfolgte, und nicht
dies allein war es, weshalb alle diese wundervoll beherrschte
Körperlichkeit ihm im Grunde etwas wie Bewunderung abgewann. Wie
ruhevoll und unverwirrbar Herrn Knaaks Augen blickten! Sie sahen nicht
in die Dinge hinein, bis dorthin, wo sie kompliziert und traurig werden;
sie wußten nichts, als daß sie braun und schön seien. Aber deshalb war
seine Haltung so stolz! Ja, man mußte dumm sein, um so schreiten zu
können wie er; und dann wurde man geliebt, denn man war liebenswürdig.
Er verstand es so gut, daß Inge, die blonde, süße Inge, auf Herrn Knaak
blickte, wie sie es tat. Aber würde denn niemals ein Mädchen so auf ihn
selbst blicken?
O doch, das kam vor. Da war Magdalena Vermehren, Rechtsanwalt
Vermehrens Tochter, mit dem sanften Mund und den großen, dunklen,
blanken Augen voll Ernst und Schwärmerei. Sie fiel oft hin beim Tanzen;
aber sie kam zu ihm bei der Damenwahl, sie wußte, daß er Verse dichtete,
sie hatte ihn zweimal gebeten, sie ihr zu zeigen, und oftmals schaute
sie ihn von weitem mit gesenktem Kopfe an. Aber was sollte ihm das? Er,
er liebte Inge Holm, die blonde, lustige Inge, die ihn sicher darum
verachtete, daß er poetische Sachen schrieb... er sah sie an, sah ihre
TONIO KRÖGER
1964
S. FISCHER VERLAG
S. FISCHER SCHULAUSGABEN
TEXTE MODERNER AUTOREN
255.--284. Tausend dieser Ausgabe
Copyright 1922 by S. Fischer Verlag AG, Berlin
Druck: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg
Printed in Germany
I
Die Wintersonne stand nur als armer Schein, milchig und matt hinter
Wolkenschichten über der engen Stadt. Naß und zugig war's in den
giebeligen Gassen, und manchmal fiel eine Art von weichem Hagel, nicht
Eis, nicht Schnee.
Die Schule war aus. Über den gepflasterten Hof und heraus aus der
Gatterpforte strömten die Scharen der Befreiten, teilten sich und
enteilten nach rechts und links. Große Schüler hielten mit Würde ihr
Bücherpäckchen hoch gegen die linke Schulter gedrückt, indem sie mit dem
rechten Arm wider den Wind dem Mittagessen entgegen ruderten; kleines
Volk setzte sich lustig in Trab, daß der Eisbrei umherspritzte und die
Siebensachen der Wissenschaft in den Seehundsränzeln klapperten. Aber
hie und da riß alles mit frommen Augen die Mützen herunter vor dem
Wotanshut und dem Jupiterbart eines gemessen hinschreitenden
Oberlehrers...
»Kommst du endlich, Hans?« sagte Tonio Kröger, der lange auf dem
Fahrdamm gewartet hatte; lächelnd trat er dem Freunde entgegen, der im
Gespräch mit anderen Kameraden aus der Pforte kam und schon im Begriffe
war, mit ihnen davonzugehen... »Wieso?« fragte er und sah Tonio an...
»Ja, das ist wahr! Nun gehen wir noch ein bißchen.«
Tonio verstummte, und seine Augen trübten sich. Hatte Hans es vergessen,
fiel es ihm erst jetzt wieder ein, daß sie heute mittag ein wenig
zusammen spazierengehen wollten? Und er selbst hatte sich seit der
Verabredung beinahe unausgesetzt darauf gefreut!
»Ja, adieu, ihr!« sagte Hans Hansen zu den Kameraden. »Dann gehe ich
noch ein bißchen mit Kröger.« -- Und die beiden wandten sich nach links,
indes die anderen nach rechts schlenderten.
Hans und Tonio hatten Zeit, nach der Schule spazierenzugehen, weil sie
beide Häusern angehörten, in denen erst um vier Uhr zu Mittag gegessen
wurde. Ihre Väter waren große Kaufleute, die öffentliche Ämter
bekleideten und mächtig waren in der Stadt. Den Hansens gehörten schon
seit manchem Menschenalter die weitläufigen Holzlagerplätze drunten am
Fluß, wo gewaltige Sägemaschinen unter Fauchen und Zischen die Stämme
zerlegten. Aber Tonio war Konsul Krögers Sohn, dessen Getreidesäcke mit
dem breiten schwarzen Firmendruck man Tag für Tag durch die Straßen
kutschieren sah; und seiner Vorfahren großes altes Haus war das
herrschaftlichste der ganzen Stadt... Beständig mußten die Freunde, der
vielen Bekannten wegen, die Mützen herunternehmen, ja, von manchen
Leuten wurden die Vierzehnjährigen zuerst gegrüßt...
Beide hatten die Schulmappen über die Schultern gehängt, und beide
waren sie gut und warm gekleidet; Hans in eine kurze Seemanns-Überjacke,
über welcher auf Schultern und Rücken der breite, blaue Kragen seines
Marineanzuges lag, und Tonio in einen grauen Gurtpaletot. Hans trug eine
dänische Matrosenmütze mit kurzen Bändern, unter der ein Schopf seines
bastblonden Haares hervorquoll. Er war außerordentlich hübsch und
wohlgestaltet, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, mit
freiliegenden und scharf blickenden stahlblauen Augen. Aber unter Tonios
runder Pelzmütze blickten aus einem brünetten und ganz südlich
scharfgeschnittenen Gesicht dunkle und zart umschattete Augen mit zu
schweren Lidern träumerisch und ein wenig zaghaft hervor... Mund und
Kinn waren ihm ungewöhnlich weich gebildet. Er ging nachlässig und
ungleichmäßig, während Hansens schlanke Beine in den schwarzen Strümpfen
so elastisch und taktfest einherschritten...
Tonio sprach nicht. Er empfand Schmerz. Indem er seine etwas schräg
stehenden Brauen zusammenzog und die Lippen zum Pfeifen gerundet hielt,
blickte er seitwärts geneigten Kopfes ins Weite. Diese Haltung und Miene
war ihm eigentümlich.
Plötzlich schob Hans seinen Arm unter den Tonios und sah ihn dabei von
der Seite an, denn er begriff sehr wohl, um was es sich handelte. Und
obgleich Tonio auch bei den nächsten Schritten noch schwieg, so ward er
doch auf einmal sehr weich gestimmt.
»Ich hatte es nämlich nicht vergessen, Tonio«, sagte Hans und blickte
vor sich nieder auf das Trottoir, »sondern ich dachte nur, daß heute
doch wohl nichts daraus werden könnte, weil es ja so naß und windig ist.
Aber mir macht das gar nichts, und ich finde es famos, daß du trotzdem
auf mich gewartet hast. Ich glaubte schon, du seist nach Hause gegangen,
und ärgerte mich...«
Alles in Tonio geriet in eine hüpfende und jubelnde Bewegung bei diesen
Worten.
»Ja, wir gehen nun also über die Wälle!« sagte er mit bewegter Stimme.
»Über den Mühlenwall und den Holstenwall, und so bringe ich dich nach
Hause, Hans... Bewahre, das schadet gar nichts, daß ich dann meinen
Heimweg allein mache; das nächste Mal begleitest du mich.«
Im Grunde glaubte er nicht sehr fest an das, was Hans gesagt hatte, und
fühlte genau, daß jener nur halb soviel Gewicht auf diesen Spaziergang
zu zweien legte wie er. Aber er sah doch, daß Hans seine Vergeßlichkeit
bereute und es sich angelegen sein ließ, ihn zu versöhnen. Und er war
weit von der Absicht entfernt, die Versöhnung hintanzuhalten...
Die Sache war die, daß Tonio Hans Hansen liebte und schon vieles um ihn
gelitten hatte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muß
leiden, -- diese schlichte und harte Lehre hatte seine vierzehnjährige
Seele bereits vom Leben entgegengenommen; und er war so geartet, daß er
solche Erfahrungen wohl vermerkte, sie gleichsam innerlich aufschrieb
und gewissermaßen seine Freude daran hatte, ohne sich freilich für seine
Person danach zu richten und praktischen Nutzen daraus zu ziehen. Auch
war es so mit ihm bestellt, daß er solche Lehren weit wichtiger und
interessanter achtete als die Kenntnisse, die man ihm in der Schule
aufnötigte, ja, daß er sich während der Unterrichtsstunden in den
gotischen Klassengewölben meistens damit abgab, solche Einsichten bis
auf den Grund zu empfinden und völlig auszudenken. Und diese
Beschäftigung bereitete ihm eine ganz ähnliche Genugtuung, wie wenn er
mit seiner Geige (denn er spielte die Geige) in seinem Zimmer umherging
und die Töne, so weich, wie er sie nur hervorzubringen vermochte, in das
Plätschern des Springstrahles hinein erklingen ließ, der drunten im
Garten unter den Zweigen des alten Walnußbaumes tänzelnd emporstieg...
Der Springbrunnen, der alte Walnußbaum, seine Geige und in der Ferne das
Meer, die Ostsee, deren sommerliche Träume er in den Ferien belauschen
durfte, diese Dinge waren es, die er liebte, mit denen er sich gleichsam
umstellte und zwischen denen sich sein inneres Leben abspielte, Dinge,
deren Namen mit guter Wirkung in Versen zu verwenden sind und auch
wirklich in den Versen, die Tonio Kröger zuweilen verfertigte, immer
wieder erklangen.
Dieses, daß er ein Heft mit selbstgeschriebenen Versen besaß, war durch
sein eigenes Verschulden bekanntgeworden und schadete ihm sehr, bei
seinen Mitschülern sowohl wie bei den Lehrern. Dem Sohne Konsul Krögers
schien es einerseits, als sei es dumm und gemein, daran Anstoß zu
nehmen, und er verachtete dafür sowohl die Mitschüler wie die Lehrer,
deren schlechte Manieren ihn obendrein abstießen, und deren persönliche
Schwächen er seltsam eindringlich durchschaute. Andererseits aber
empfand er selbst es als ausschweifend und eigentlich ungehörig, Verse
zu machen, und mußte all denen gewissermaßen recht geben, die es für
eine befremdende Beschäftigung hielten. Allein das vermochte ihn nicht,
davon abzulassen...
Da er daheim seine Zeit vertat, beim Unterricht langsamen und
abgewandten Geistes war und bei den Lehrern schlecht angeschrieben
stand, so brachte er beständig die erbärmlichsten Zensuren nach Hause,
worüber sein Vater, ein langer, sorgfältig gekleideter Herr mit
sinnenden blauen Augen, der immer eine Feldblume im Knopfloch trug, sich
sehr erzürnt und bekümmert zeigte. Der Mutter Tonios jedoch, seiner
schönen, schwarzhaarigen Mutter, die Consuelo mit Vornamen hieß und
überhaupt so anders war als die übrigen Damen der Stadt, weil der Vater
sie sich einstmals von ganz unten auf der Landkarte heraufgeholt hatte,
-- seiner Mutter waren die Zeugnisse grundeinerlei...
Tonio liebte seine dunkle und feurige Mutter, die so wunderbar den
Flügel und die Mandoline spielte, und er war froh, daß sie sich ob
seiner zweifelhaften Stellung unter den Menschen nicht grämte.
Andererseits aber empfand er, daß der Zorn des Vaters weit würdiger und
respektabler sei, und war, obgleich er von ihm gescholten wurde, im
Grunde ganz einverstanden mit ihm, während er die heitere
Gleichgültigkeit der Mutter ein wenig liederlich fand. Manchmal dachte
er ungefähr: Es ist gerade genug, daß ich bin, wie ich bin, und mich
nicht ändern will und kann, fahrlässig, widerspenstig und auf Dinge
bedacht, an die sonst niemand denkt. Wenigstens gehört es sich, daß man
mich ernstlich schilt und straft dafür, und nicht mit Küssen und Musik
darüber hinweggeht. Wir sind doch keine Zigeuner im grünen Wagen,
sondern anständige Leute, Konsul Krögers, die Familie der Kröger...
Nicht selten dachte er auch: Warum bin ich doch so sonderlich und in
Widerstreit mit allem, zerfallen mit den Lehrern und fremd unter den
anderen Jungen? Siehe sie an, die guten Schüler und die von solider
Mittelmäßigkeit. Sie finden die Lehrer nicht komisch, sie machen keine
Verse und denken nur Dinge, die man eben denkt und die man laut
aussprechen kann. Wie ordentlich und einverstanden mit allem und
jedermann sie sich fühlen müssen! Das muß gut sein... Was aber ist mit
mir, und wie wird dies alles ablaufen?
Diese Art und Weise, sich selbst und sein Verhältnis zum Leben zu
betrachten, spielte eine wichtige Rolle in Tonios Liebe zu Hans Hansen.
Er liebte ihn zunächst, weil er schön war; dann aber, weil er in allen
Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erschien. Hans Hansen
war ein vortrefflicher Schüler und außerdem ein frischer Gesell, der
ritt, turnte, schwamm wie ein Held und sich der allgemeinen Beliebtheit
erfreute. Die Lehrer waren ihm beinahe mit Zärtlichkeit zugetan, nannten
ihn mit Vornamen und förderten ihn auf alle Weise, die Kameraden waren
auf seine Gunst bedacht, und auf der Straße hielten ihn Herren und Damen
an, faßten ihn an dem Schopfe bastblonden Haares, der unter seiner
dänischen Schiffermütze hervorquoll, und sagten: »Guten Tag, Hans
Hansen, mit deinem netten Schopf! Bist du noch Primus? Grüß Papa und
Mama, mein prächtiger Junge...«
So war Hans Hansen, und seit Tonio Kröger ihn kannte, empfand er
Sehnsucht, sobald er ihn erblickte, eine neidische Sehnsucht, die
oberhalb der Brust saß und brannte. Wer so blaue Augen hätte, dachte er,
und so in Ordnung und glücklicher Gemeinschaft mit aller Welt lebte wie
du! Stets bist du auf eine wohlanständige und allgemein respektierte
Weise beschäftigt. Wenn du die Schulaufgaben erledigt hast, so nimmst du
Reitstunden oder arbeitest mit der Laubsäge, und selbst in den Ferien,
an der See, bist du vom Rudern, Segeln und Schwimmen in Anspruch
genommen, indes ich müßiggängerisch und verloren im Sande liege und auf
die geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele starre, die über des Meeres
Antlitz huschen. Aber darum sind deine Augen so klar. Zu sein wie du...
Er machte nicht den Versuch, zu werden wie Hans Hansen, und vielleicht
war es ihm nicht einmal sehr ernst mit diesem Wunsche. Aber er begehrte
schmerzlich, so wie er war, von ihm geliebt zu werden, und er warb um
seine Liebe auf seine Art, eine langsame und innige, hingebungsvolle,
leidende und wehmütige Art, aber von einer Wehmut, die tiefer und
zehrender brennen kann als alle jähe Leidenschaftlichkeit, die man von
seinem fremden Äußeren hätte erwarten können.
Und er warb nicht ganz vergebens, denn Hans, der übrigens eine gewisse
Überlegenheit an ihm achtete, eine Gewandtheit des Mundes, die Tonio
befähigte, schwierige Dinge auszusprechen, begriff ganz wohl, daß hier
eine ungewöhnlich starke und zarte Empfindung für ihn lebendig sei,
erwies sich dankbar und bereitete ihm manches Glück durch sein
Entgegenkommen -- aber auch manche Pein der Eifersucht, der Enttäuschung
und der vergeblichen Mühe, eine geistige Gemeinschaft herzustellen. Denn
es war das Merkwürdige, daß Tonio, der Hans Hansen doch um seine
Daseinsart beneidete, beständig trachtete, ihn zu seiner eigenen
herüberzuziehen, was höchstens auf Augenblicke und auch dann nur
scheinbar gelingen konnte...
»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles...«,
sagte er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Tüte Fruchtbonbons,
die sie beim Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennige
erstanden hatten. »Du mußt es lesen, Hans, es ist nämlich >Don Carlos<
von Schiller... Ich leihe es dir, wenn du willst...«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »das laß nur, Tonio, das paßt nicht für
mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose Abbildungen
sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige ich sie dir.
Es sind Augenblicksphotographien, und man sieht die Gäule im Trab und im
Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar
nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht...«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber
>Don Carlos< betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen
darin, du sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck gibt,
daß es gleichsam knallt...«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen... »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von
dem Marquis betrogen ist... aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen
zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt
aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König geweint
hat. >Geweint?< >Der König geweint?< Alle Hofmänner sind fürchterlich
betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich
starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint
hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis
zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun
glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn...«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonios Gesicht, und irgend etwas in
diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er schob
plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonios und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
»Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und
Flandern...«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.
Tonio verstummte. Möchte ihn doch, dachte er, die Erde verschlingen,
diesen Jimmerthal! Warum muß er kommen und uns stören! Wenn er nur nicht
mit uns geht und den ganzen Weg von der Reitstunde spricht... Denn Erwin
Jimmerthal hatte ebenfalls Reitstunde. Er war der Sohn des Bankdirektors
und wohnte hier draußen vorm Tore. Mit seinen krummen Beinen und
Schlitzaugen kam er ihnen, schon ohne Schulmappe, durch die Allee
entgegen.
»Tag, Jimmerthal«, sagte Hans. »Ich gehe ein bißchen mit Kröger...«
»Ich muß zur Stadt«, sagte Jimmerthal, »und etwas besorgen. Aber ich
gehe noch ein Stück mit euch... Das sind wohl Fruchtbonbons, die ihr da
habt? Ja, danke, ein paar esse ich. Morgen haben wir wieder Stunde,
Hans.« -- Es war die Reitstunde gemeint.
»Famos!« sagte Hans. »Ich bekomme jetzt die ledernen Gamaschen, du, weil
ich neulich die Eins im Exerzitium hatte...«
»Du hast wohl keine Reitstunde, Kröger?« fragte Jimmerthal, und seine
Augen waren nur ein Paar blanker Ritzen...
»Nein«, antwortete Tonio mit ganz ungewisser Betonung.
»Du solltest«, bemerkte Hans Hansen, »deinen Vater bitten, daß du auch
Stunde bekommst, Kröger.«
»Ja...«, sagte Tonio zugleich hastig und gleichgültig. Einen Augenblick
schnürte sich ihm die Kehle zusammen, weil Hans ihn mit Nachnamen
angeredet hatte; und Hans schien dies zu fühlen, denn er sagte
erläuternd:
»Ich nenne dich Kröger, weil dein Vorname so verrückt ist, du,
entschuldige, aber ich mag ihn nicht leiden, Tonio... Das ist doch
überhaupt kein Name. Übrigens kannst du ja nichts dafür, bewahre!«
»Nein, du heißt wohl hauptsächlich so, weil es so ausländisch klingt und
etwas Besonderes ist...«, sagte Jimmerthal und tat, als ob er zum Guten
reden wollte.
Tonios Mund zuckte. Er nahm sich zusammen und sagte:
»Ja, es ist ein alberner Name, ich möchte, weiß Gott, lieber Heinrich
oder Wilhelm heißen, das könnt ihr mir glauben. Aber es kommt daher, daß
ein Bruder meiner Mutter, nach dem ich getauft worden bin, Antonio
heißt; denn meine Mutter ist doch von drüben...«
Dann schwieg er und ließ die beiden von Pferden und Lederzeug sprechen.
Hans hatte Jimmerthal untergefaßt und redete mit einer geläufigen
Teilnahme, die für >Don Carlos< niemals in ihm zu erwecken gewesen
wäre... Von Zeit zu Zeit fühlte Tonio, wie der Drang zu weinen ihm
prickelnd in die Nase stieg; auch hatte er Mühe, sein Kinn in der Gewalt
zu behalten, das beständig ins Zittern geriet...
Hans mochte seinen Namen nicht leiden, -- was war dabei zu tun? Er
selbst hieß Hans, und Jimmerthal hieß Erwin, gut, das waren allgemein
anerkannte Namen, die niemand befremdeten. Aber >Tonio< war etwas
Ausländisches und Besonderes. Ja, es war in allen Stücken etwas
Besonderes mit ihm, ob er wollte oder nicht, und er war allein und
ausgeschlossen von den Ordentlichen und Gewöhnlichen, obgleich er doch
kein Zigeuner im grünen Wagen war, sondern ein Sohn Konsul Krögers, aus
der Familie der Kröger... Aber warum nannte Hans ihn Tonio, solange sie
allein waren, wenn er, kam ein dritter hinzu, anfing, sich seiner zu
schämen? Zuweilen war er ihm nahe und gewonnen, ja. Auf welche Weise
verrät er ihn denn, Tonio? hatte er gefragt und ihn untergefaßt. Aber
als dann Jimmerthal gekommen war, hatte er dennoch erleichtert
aufgeatmet, hatte ihn verlassen und ihm ohne Not seinen fremden Rufnamen
vorgeworfen. Wie weh es tat, dies alles durchschauen zu müssen!... Hans
Hansen hatte ihn im Grunde ein wenig gern, wenn sie unter sich waren, er
wußte es. Aber kam ein dritter, so schämte er sich dessen und opferte
ihn auf. Und er war wieder allein. Er dachte an König Philipp. Der König
hat geweint...
»Gott bewahre«, sagte Erwin Jimmerthal, »nun muß ich aber wirklich zur
Stadt! Adieu, ihr, und Dank für die Fruchtbonbons!« Darauf sprang er auf
eine Bank, die am Wege stand, lief mit seinen krummen Beinen darauf
entlang und trabte davon.
»Jimmerthal mag ich leiden!« sagte Hans mit Nachdruck. Er hatte eine
verwöhnte und selbstbewußte Art, seine Sympathien und Abneigungen
kundzugeben, sie gleichsam gnädigst zu verteilen... Und dann fuhr er
fort, von der Reitstunde zu sprechen, weil er einmal im Zuge war. Es war
auch nicht mehr so weit bis zum Hansenschen Wohnhause; der Weg über die
Wälle nahm nicht so viel Zeit in Anspruch. Sie hielten ihre Mützen fest
und beugten die Köpfe vor dem starken, feuchten Wind, der in dem kahlen
Geäst der Bäume knarrte und stöhnte. Und Hans Hansen sprach, während
Tonio nur dann und wann ein künstliches Ach und Jaja einfließen ließ,
ohne Freude darüber, daß Hans ihn im Eifer der Rede wieder untergefaßt
hatte, denn das war nur eine scheinbare Annäherung, ohne Bedeutung.
Dann verließen sie die Wallanlagen unfern des Bahnhofes, sahen einen Zug
mit plumper Eilfertigkeit vorüberpuffen, zählten zum Zeitvertreib die
Wagen und winkten dem Manne zu, der in seinen Pelz vermummt zuhöchst auf
dem allerletzten saß. Und am Lindenplatze, vor Großhändler Hansens
Villa, blieben sie stehen, und Hans zeigte ausführlich, wie amüsant es
sei, sich unten auf die Gartenpforte zu stellen und sich in den Angeln
hin und her zu schlenkern, daß es nur so kreischte. Aber hierauf
verabschiedete er sich.
»Ja, nun muß ich hinein«, sagte er. »Adieu, Tonio. Das nächste Mal
begleite ich dich nach Hause, sei sicher.«
»Adieu, Hans«, sagte Tonio, »es war nett, spazierenzugehen.«
Ihre Hände, die sich drückten, waren ganz naß und rostig von der
Gartenpforte. Als aber Hans in Tonios Augen sah, entstand etwas wie
reuiges Besinnen in seinem hübschen Gesicht.
»Übrigens werde ich nächstens >Don Carlos< lesen!« sagte er rasch. »Das
mit dem König im Kabinett muß famos sein!« Dann nahm er seine Mappe
unter den Arm und lief durch den Vorgarten. Bevor er im Hause
verschwand, nickte er noch einmal zurück.
Und Tonio Kröger ging ganz verklärt und beschwingt von dannen. Der Wind
trug ihn von hinten, aber es war nicht darum allein, daß er so leicht
von der Stelle kam.
Hans würde >Don Carlos< lesen, und dann würden sie etwas miteinander
haben, worüber weder Jimmerthal noch irgendein anderer mitreden konnte!
Wie gut sie einander verstanden! Wer wußte, -- vielleicht brachte er ihn
noch dazu, ebenfalls Verse zu schreiben?... Nein, nein, das wollte er
nicht! Hans sollte nicht werden wie Tonio, sondern bleiben, wie er war,
so hell und stark, wie alle ihn liebten und Tonio am meisten! Aber daß
er >Don Carlos< las, würde trotzdem nicht schaden... Und Tonio ging
durch das alte, untersetzte Tor, ging am Hafen entlang und die steile,
zugige und nasse Giebelgasse hinauf zum Haus seiner Eltern. Damals lebte
sein Herz; Sehnsucht war darin und schwermütiger Neid und ein klein
wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.
II
Die blonde Inge, Ingeborg Holm, Doktor Holms Tochter, der am Markte
wohnte, dort, wo hoch, spitzig und vielfach der gotische Brunnen stand,
sie war's, die Tonio Kröger liebte, als er sechzehn Jahre alt war.
Wie geschah das? Er hatte sie tausendmal gesehen; an einem Abend jedoch
sah er sie in einer gewissen Beleuchtung, sah, wie sie im Gespräch mit
einer Freundin auf eine gewisse übermütige Art lachend den Kopf zur
Seite warf, auf eine gewisse Art ihre Hand, eine gar nicht besonders
schmale, gar nicht besonders feine Kleinmädchenhand zum Hinterkopfe
führte, wobei der weiße Gazeärmel von ihrem Ellenbogen zurückglitt,
hörte, wie sie ein Wort, ein gleichgültiges Wort, auf eine gewisse Art
betonte, wobei ein warmes Klingen in ihrer Stimme war, und ein Entzücken
ergriff sein Herz, weit stärker als jenes, das er früher zuweilen
empfunden hatte, wenn er Hans Hansen betrachtete, damals, als er noch
ein kleiner, dummer Junge war.
An diesem Abend nahm er ihr Bild mit fort, mit dem dicken, blonden
Zopf, den länglich geschnittenen, lachenden, blauen Augen und dem zart
angedeuteten Sattel von Sommersprossen über der Nase, konnte nicht
einschlafen, weil er das Klingen in ihrer Stimme hörte, versuchte leise,
die Betonung nachzuahmen, mit der sie das gleichgültige Wort
ausgesprochen hatte, und erschauerte dabei. Die Erfahrung lehrte ihn,
daß dies die Liebe sei. Aber obgleich er genau wußte, daß die Liebe ihm
viel Schmerz, Drangsal und Demütigung bringen müsse, daß sie überdies
den Frieden zerstöre und das Herz mit Melodien überfülle, ohne daß man
Ruhe fand, eine Sache rund zu formen und in Gelassenheit etwas Ganzes
daraus zu schmieden, so nahm er sie doch mit Freuden auf, überließ sich
ihr ganz und pflegte sie mit den Kräften seines Gemütes, denn er wußte,
daß sie reich und lebendig mache, und er sehnte sich, reich und lebendig
zu sein, statt in Gelassenheit etwas Ganzes zu schmieden...
Dies, daß Tonio Kröger sich an die lustige Inge Holm verlor, ereignete
sich in dem ausgeräumten Salon der Konsulin Husteede, die es an jenem
Abend traf, die Tanzstunde zu geben; denn es war ein Privatkursus, an
dem nur Angehörige von ersten Familien teilnahmen, und man versammelte
sich reihum in den elterlichen Häusern, um sich Unterricht in Tanz und
Anstand erteilen zu lassen. Aber zu diesem Behufe kam allwöchentlich
Ballettmeister Knaak eigens von Hamburg herbei.
François Knaak war sein Name, und was für ein Mann war das! »J'ai
l'honneur de me vous représenter«, sagte er, »mon nom est Knaak... Und
dies spricht man nicht aus, während man sich verbeugt, sondern wenn man
wieder aufrecht steht, -- gedämpft und dennoch deutlich. Man ist nicht
täglich in der Lage, sich auf französisch vorstellen zu müssen, aber
kann man es in dieser Sprache korrekt und tadellos, so wird es einem auf
deutsch erst recht nicht fehlen.« Wie wunderbar der seidig schwarze
Gehrock sich an seine fetten Hüften schmiegte! In weichen Falten fiel
sein Beinkleid auf seine Lackschuhe hinab, die mit breiten
Atlasschleifen geschmückt waren, und seine braunen Augen blickten mit
einem müden Glück über ihre eigene Schönheit umher...
Jedermann ward erdrückt durch das Übermaß seiner Sicherheit und
Wohlanständigkeit. Er schritt -- und niemand schritt wie er, elastisch,
wogend, wiegend, königlich -- auf die Herrin des Hauses zu, verbeugte
sich und wartete, daß man ihm die Hand reiche. Erhielt er sie, so dankte
er mit leiser Stimme dafür, trat federnd zurück, wandte sich auf dem
linken Fuße, schnellte den rechten mit niedergedrückter Spitze seitwärts
vom Boden ab und schritt mit bebenden Hüften davon...
Man ging rückwärts und unter Verbeugungen zur Tür hinaus, wenn man eine
Gesellschaft verließ, man schleppte einen Stuhl nicht herbei, indem man
ihn an einem Bein ergriff oder am Boden entlang schleifte, sondern man
trug ihn leicht an der Lehne herzu und setzte ihn geräuschlos nieder.
Man stand nicht da, indem man die Hände auf dem Bauch faltete und die
Zunge in den Mundwinkel schob; tat man es dennoch, so hatte Herr Knaak
eine Art, es ebenso zu machen, daß man für den Rest seines Lebens einen
Ekel vor dieser Haltung bewahrte...
Dies war der Anstand. Was aber den Tanz betraf, so meisterte Herr Knaak
ihn womöglich in noch höherem Grade. In dem ausgeräumten Salon brannten
die Gasflammen des Kronleuchters und die Kerzen auf dem Kamin. Der Boden
war mit Talkum bestreut, und in stummem Halbkreise standen die Eleven
umher. Aber jenseits der Portieren, in der anstoßenden Stube, saßen auf
Plüschstühlen die Mütter und Tanten und betrachteten durch ihre
Lorgnetten Herrn Knaak, wie er, in gebückter Haltung, den Saum seines
Gehrockes mit je zwei Fingern erfaßt hielt und mit federnden Beinen die
einzelnen Teile der Mazurka demonstrierte. Beabsichtigte er aber, sein
Publikum gänzlich zu verblüffen, so schnellte er sich plötzlich und ohne
zwingenden Grund vom Boden empor, indem er seine Beine mit verwirrender
Schnelligkeit in der Luft umeinander wirbelte, gleichsam mit denselben
trillerte, worauf er mit einem gedämpften, aber alles in seinen Festen
erschütternden Plumps zu dieser Erde zurückkehrte...
Was für ein unbegreiflicher Affe, dachte Antonio Kröger in seinem Sinn.
Aber er sah wohl, daß Inge Holm, die lustige Inge, oft mit einem
selbstvergessenen Lächeln Herrn Knaaks Bewegungen verfolgte, und nicht
dies allein war es, weshalb alle diese wundervoll beherrschte
Körperlichkeit ihm im Grunde etwas wie Bewunderung abgewann. Wie
ruhevoll und unverwirrbar Herrn Knaaks Augen blickten! Sie sahen nicht
in die Dinge hinein, bis dorthin, wo sie kompliziert und traurig werden;
sie wußten nichts, als daß sie braun und schön seien. Aber deshalb war
seine Haltung so stolz! Ja, man mußte dumm sein, um so schreiten zu
können wie er; und dann wurde man geliebt, denn man war liebenswürdig.
Er verstand es so gut, daß Inge, die blonde, süße Inge, auf Herrn Knaak
blickte, wie sie es tat. Aber würde denn niemals ein Mädchen so auf ihn
selbst blicken?
O doch, das kam vor. Da war Magdalena Vermehren, Rechtsanwalt
Vermehrens Tochter, mit dem sanften Mund und den großen, dunklen,
blanken Augen voll Ernst und Schwärmerei. Sie fiel oft hin beim Tanzen;
aber sie kam zu ihm bei der Damenwahl, sie wußte, daß er Verse dichtete,
sie hatte ihn zweimal gebeten, sie ihr zu zeigen, und oftmals schaute
sie ihn von weitem mit gesenktem Kopfe an. Aber was sollte ihm das? Er,
er liebte Inge Holm, die blonde, lustige Inge, die ihn sicher darum
verachtete, daß er poetische Sachen schrieb... er sah sie an, sah ihre
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