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Die Leute von Seldwyla — Band 1 - 01

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  GOTTFRIED KELLER
  DIE LEUTE VON SELDWYLA
  Erster Band
  
  
  INHALT
  Einleitung von Felix Rosenberg
  Pankraz, der Schmoller
  Romeo und Julia auf dem Dorfe
  Frau Regel Amrain und ihr Jüngster
  Die drei gerechten Kammacher
  Spiegel, das Kätzchen. Ein Märchen
  
  
  EINLEITUNG
  Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen
  Ort, und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses Namens gelegen
  irgendwo in der Schweiz. Sie steckt noch in den gleichen alten
  Ringmauern und Türmen, wie vor dreihundert Jahren, und ist also immer
  das gleiche Nest; die ursprüngliche tiefe Absicht dieser Anlage wird
  durch den Umstand erhärtet, daß die Gründer der Stadt dieselbe eine
  gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum
  deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden solle. Aber schön ist sie
  gelegen mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagseite zu offen
  sind, so daß wohl die Sonne herein kann, aber kein rauhes Lüftchen.
  Deswegen gedeiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die alte
  Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen unabsehbare Waldungen
  sich hinziehen, welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies ist
  das Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben, daß die Gemeinde
  reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, daß kein Mensch zu
  Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wovon sie seit Jahrhunderten
  eigentlich leben. Und sie leben sehr lustig und guter Dinge, halten
  die Gemütlichkeit für ihre besondere Kunst und, wenn sie irgendwo
  hinkommen, wo man anderes Holz brennt, so kritisieren sie zuerst die
  dortige Gemütlichkeit und meinen, ihnen tue es doch niemand zuvor in
  dieser Hantierung.
  Der Kern und der Glanz des Volkes besteht aus den jungen Leuten von
  etwa zwanzig bis fünf-, sechsunddreißig Jahren, und diese sind es,
  welche den Ton angeben, die Stange halten und die Herrlichkeit von
  Seldwyla darstellen. Denn während dieses Alters üben sie das Geschäft,
  das Handwerk, den Vorteil oder was sie sonst gelernt haben, d. h. sie
  lassen, solange es geht, fremde Leute für sich arbeiten und benutzen
  ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehres,
  der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemütlichkeit der
  Herren von Seldwyla bildet und mit einer ausgezeichneten
  Gegenseitigkeit und Verständnisinnigkeit gewahrt wird; aber
  wohlgemerkt, nur unter dieser Aristokratie der Jugend. Denn sowie
  einer die Grenze der besagten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer
  anderer Städtlein etwa anfangen, erst recht in sich zu gehen und zu
  erstarken, so ist er in Seldwyla fertig; er muß fallen lassen und hält
  sich, wenn er ein ganz gewöhnlicher Seldwyler ist, ferner am Orte auf,
  als ein Entkräfteter und aus dem Paradies des Kredites Verstoßener,
  oder wenn noch etwas in ihm steckt, das noch nicht verbraucht ist, so
  geht er in fremde Kriegsdienste und lernt dort für einen fremden
  Tyrannen, was er für sich selbst zu üben verschmäht hat, sich
  einzuknöpfen und steif aufrechtzuhalten. Diese kehren als tüchtige
  Kriegsmänner nach einer Reihe von Jahren zurück und gehören dann zu
  den besten Exerziermeistern der Schweiz, welche die junge Mannschaft
  zu erziehen wissen, daß es eine Lust ist. Andere ziehen noch
  anderwärts auf Abenteuer aus gegen das vierzigste Jahr hin, und in den
  verschiedensten Weltteilen kann man Seldwyler treffen, die sich alle
  dadurch auszeichnen, daß sie sehr geschickt Fische zu essen verstehen,
  in Australien, in Kalifornien, in Texas, wie in Paris oder
  Konstantinopel.
  Was aber zurückbleibt und am Orte alt wird, das lernt dann
  nachträglich arbeiten, und zwar jene krabbelige Arbeit von tausend
  kleinen Dingen, die man eigentlich nicht gelernt, für den täglichen
  Kreuzer, und die alternden verarmten Seldwyler mit ihren Weibern und
  Kindern sind die emsigsten Leutchen von der Welt, nachdem sie das
  erlernte Handwerk aufgegeben, und es ist rührend anzusehen, wie tätig
  sie dahinter her sind, sich die Mittelchen zu einem guten Stückchen
  Fleisch von ehedem zu erwerben. Holz haben alle Bürger die Fülle und
  die Gemeinde verkauft jährlich noch einen guten Teil, woraus die große
  Armut unterstützt und genährt wird, und so steht das alte Städtchen in
  unveränderlichem Kreislauf der Dinge bis heute. Aber immer sind sie im
  ganzen zufrieden und munter, und wenn je ein Schatten ihre Seele
  trübt, wenn etwa eine allzu hartnäckige Geldklemme über der Stadt
  weilt, so vertreiben sie sich die Zeit und ermuntern sich durch ihre
  große politische Beweglichkeit, welche ein weiterer Charakterzug der
  Seldwyler ist. Sie sind nämlich leidenschaftliche Parteileute,
  Verfassungsrevisoren und Antragsteller, und wenn sie eine recht
  verrückte Motion ausgeheckt haben und durch ihr Großratsmitglied
  stellen lassen, oder wenn der Ruf nach Verfassungsänderung in Seldwyla
  ausgeht, so weiß man im Lande, daß im Augenblicke dort kein Geld
  zirkuliert. Dabei lieben sie die Abwechselung der Meinungen und
  Grundsätze und sind stets den Tag darauf, nachdem eine Regierung
  gewählt ist, in der Opposition gegen dieselbe. Ist es ein radikales
  Regiment, so scharen sie sich, um es zu ärgern, um den konservativen
  frömmlichen Stadtpfarrer, den sie noch gestern gehänselt, und machen
  ihm den Hof, indem sie sich mit verstellter Begeisterung in seine
  Kirche drängen, seine Predigten preisen und mit großem Geräusch seine
  gedruckten Traktätchen und Berichte der Baseler Missionsgesellschaft
  umherbieten, natürlich ohne ihm einen Pfennig beizusteuern. Ist aber
  ein Regiment am Ruder, welches nur halbwegs konservativ aussieht,
  stracks drängen sie sich um die Schullehrer der Stadt und der Pfarrer
  hat genug an den Glaser zu zahlen für eingeworfene Scheiben. Besteht
  hingegen die Regierung aus liberalen Juristen, die viel auf die Form
  halten, und aus häcklichen Geldmännern, so laufen sie flugs dem
  nächstwohnenden Sozialisten zu und ärgern die Regierung, indem sie
  denselben in den Rat wählen mit dem Feldgeschrei: Es sei nun genug des
  politischen Formenwesens und die materiellen Interessen seien es,
  welche allein das Volk noch kümmern könnten. Heute wollen sie das Veto
  haben und sogar die unmittelbarste Selbstregierung mit permanenter
  Volksversammlung, wozu freilich die Seldwyler am meisten Zeit hätten,
  morgen stellen sie sich übermüdet und blasiert in öffentlichen Dingen
  und lassen ein halbes Dutzend alte Stillständer, die vor dreißig
  Jahren falliert und sich seither stillschweigend rehabilitiert haben,
  die Wahlen besorgen; alsdann sehen sie behaglich hinter den
  Wirtshausfenstern hervor die Stillständer in die Kirche schleichen und
  lachen sich in die Faust, wie jener Knabe, welcher sagte: Es geschieht
  meinem Vater schon recht, wenn ich mir die Hände verfriere, warum
  kauft er mir keine Handschuhe! Gestern schwärmten sie allein für das
  eidgenössische Bundesleben und waren höchlich empört, daß man Anno
  achtundvierzig nicht gänzliche Einheit hergestellt habe; heute sind
  sie ganz versessen auf die Kantonalsouveränität und haben nicht mehr
  in den Nationalrat gewählt.
  Wenn aber eine ihrer Aufregungen und Motionen der Landesmehrheit
  störend und unbequem wird, so schickt ihnen die Regierung gewöhnlich
  als Beruhigungsmittel eine Untersuchungskommission auf den Hals,
  welche die Verwaltung des Seldwyler Gemeindegutes regulieren soll;
  dann haben sie vollauf mit sich selbst zu tun und die Gefahr ist
  abgeleitet.
  Alles dies macht ihnen großen Spaß, der nur überboten wird, wenn sie
  allherbstlich ihren jungen Wein trinken, den gärenden Most, den sie
  Sauser nennen; wenn er gut ist, so ist man des Lebens nicht sicher
  unter ihnen, und sie machen einen Höllenlärm; die ganze Stadt duftet
  nach jungem Wein und die Seldwyler taugen dann auch gar nichts. Je
  weniger aber ein Seldwyler zu Hause was taugt, um so besser hält er
  sich sonderbarerweise, wenn er ausrückt, und ob sie einzeln oder in
  Kompanie ausziehen, wie z.B. in früheren Kriegen, so haben sie sich
  doch immer gut gehalten. Auch als Spekulant und Geschäftsmann hat
  schon mancher sich rüstig umgetan, wenn er nur erst aus dem warmen
  sonnigen Tale herauskam, wo er nicht gedieh.
  In einer so lustigen und seltsamen Stadt kann es an allerhand
  seltsamen Geschichten und Lebensläufen nicht fehlen, da Müßiggang
  aller Laster Anfang ist. Doch nicht solche Geschichten, wie sie in dem
  beschriebenen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich in
  diesem Büchlein erzählen, sondern einige sonderbare Abfällsel, die so
  zwischendurch passierten, gewissermaßen ausnahmsweise, und doch auch
  gerade nur zu Seldwyla vor sich gehen konnten.
  * * * * *
  
  
  PANKRAZ, DER SCHMOLLER
  Auf einem stillen Seitenplätzchen, nahe an der Stadtmauer, lebte die
  Witwe eines Seldwylers, der schon lange fertig geworden und unter dem
  Boden lag. Dieser war keiner von den schlimmsten gewesen, vielmehr
  fühlte er eine so starke Sehnsucht, ein ordentlicher und fester Mann
  zu sein, daß ihn der herrschende Ton, dem er als junger Mensch nicht
  entgehen konnte, angriff; und als seine Glanzzeit vorübergegangen und
  er der Sitte gemäß abtreten mußte von dem Schauplatz der Taten, da
  erschien ihm alles wie ein wüster Traum und wie ein Betrug um das
  Leben, und er bekam davon die Auszehrung und starb unverweilt.
  Er hinterließ seiner Witwe ein kleines baufälliges Häuschen, einen
  Kartoffelacker vor dem Tore und zwei Kinder, einen Sohn und eine
  Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente sie Milch und Butter, um die
  Kartoffeln zu kochen, die sie pflanzte, und ein kleiner Witwengehalt,
  den der Armenpfleger jährlich auszahlte, nachdem er ihn jedesmal
  einige Wochen über den Termin hinaus in seinem Geschäfte benutzt,
  reichte gerade zu dem Kleiderbedarf und einigen anderen kleinen
  Ausgaben hin. Dieses Geld wurde immer mit Schmerzen erwartet, indem
  die ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene verlängerten Wochen
  zu früh gänzlich schadhaft waren und der Buttertopf überall seinen
  Grund durchblicken ließ. Dieses Durchblicken des grünen Topfbodens war
  eine so regelmäßige jährliche Erscheinung, wie irgendeine am Himmel,
  und verwandelte ebenso regelmäßig eine Zeitlang die kühle, kümmerlich-
  stille Zufriedenheit der Familie in eine wirkliche Unzufriedenheit.
  Die Kinder plagten die Mutter um besseres und reichlicheres Essen;
  denn sie hielten sie in ihrem Unverstande für mächtig genug dazu, weil
  sie ihr ein und alles, ihr einziger Schutz und ihre einzige
  Oberbehörde war. Die Mutter war unzufrieden, daß die Kinder nicht
  entweder mehr Verstand, oder mehr zu essen, oder beides zusammen
  erhielten.
  Besagte Kinder aber zeigten verschiedene Eigenschaften. Der Sohn war
  ein unansehnlicher Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen und
  ernsthaften Gesichtszügen, welcher des Morgens lang im Bette lag, dann
  ein wenig in einem zerrissenen Geschichts- und Geographiebuche las,
  und alle Abend, Sommers wie Winters, auf den Berg lief, um dem
  Sonnenuntergang beizuwohnen, welches die einzige glänzende und
  pomphafte Begebenheit war, welche sich für ihn zutrug. Sie schien für
  ihn etwa das zu sein, was für die Kaufleute der Mittag auf der Börse;
  wenigstens kam er mit ebenso abwechselnder Stimmung von diesem Vorgang
  zurück, und wenn es recht rotes und gelbes Gewölk gegeben, welches
  gleich großen Schlachtheeren in Blut und Feuer gestanden und
  majestätisch manövriert hatte, so war er eigentlich vergnügt zu
  nennen.
  Dann und wann, jedoch nur selten, beschrieb er ein Blatt Papier mit
  seltsamen Listen und Zahlen, welches er dann zu einem kleinen Bündel
  legte, das durch ein Endchen alte Goldtresse zusammengehalten wurde.
  In diesem Bündelchen stak hauptsächlich ein kleines Heft, aus einem
  zusammengefalteten Bogen Goldpapier gefertigt, dessen weiße Rückseiten
  mit allerlei Linien, Figuren und aufgereihten Punkten, dazwischen
  Rauchwolken und fliegende Bomben, gefüllt und beschrieben waren. Dies
  Büchlein betrachtete er oft mit großer Befriedigung und brachte neue
  Zeichnungen darin an, meistens um die Zeit, wenn das Kartoffelfeld in
  voller Blüte stand. Er lag dann im blühenden Kraut unter dem blauen
  Himmel, und wenn er eine weiße beschriebene Seite betrachtet hatte, so
  schaute er dreimal so lange in das gegenüberstehende glänzende
  Goldblatt, in welchem sich die Sonne brach. Im übrigen war es ein
  eigensinniger und zum Schmollen geneigter Junge, welcher nie lachte
  und auf Gottes lieber Welt nichts tat oder lernte.
  Seine Schwester war zwölf Jahre alt und ein bildschönes Kind mit
  langem und dickem braunen Haar, großen braunen Augen und der
  allerweißesten Hautfarbe. Dies Mädchen war sanft und still, ließ sich
  vieles gefallen und murrte weit seltener als sein Bruder. Es besaß
  eine helle Stimme und sang gleich einer Nachtigall; doch obgleich es
  mit alle diesem freundlicher und lieblicher war, als der Knabe, so gab
  die Mutter doch diesem scheinbar den Vorzug und begünstigte ihn in
  seinem Wesen, weil sie Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen und
  es ihm wahrscheinlicherweise einmal recht schlecht ergehen konnte,
  während nach ihrer Ansicht das Mädchen nicht viel brauchte und schon
  deshalb unterkommen würde.
  Dieses mußte daher unaufhörlich spinnen, damit das Söhnlein desto mehr
  zu essen bekäme und recht mit Muße sein einstiges Unheil erwarten
  könne. Der Junge nahm dies ohne weiteres an und gebärdete sich wie ein
  kleiner Indianer, der die Weiber arbeiten läßt, und auch seine
  Schwester empfand hiervon keinen Verdruß und glaubte, das müsse so
  sein.
  Die einzige Entschädigung und Rache nahm sie sich durch eine
  allerdings arge Unzukömmlichkeit, welche sie sich beim Essen mit List
  oder Gewalt immer wieder erlaubte. Die Mutter kochte nämlich jeden
  Mittag einen dicken Kartoffelbrei, über welchen sie eine fette Milch
  oder eine Brühe von schöner brauner Butter goß. Diesen Kartoffelbrei
  aßen sie alle zusammen aus der Schüssel mit ihren Blechlöffeln, indem
  jeder vor sich eine Vertiefung in das feste Kartoffelgebirge
  heineingrub. Das Söhnlein, welches bei aller Seltsamkeit in
  Eßangelegenheiten einen strengen Sinn für militärische Regelmäßigkeit
  beurkundete und streng daraufhielt, daß jeder nicht mehr noch weniger
  nahm, als was ihm zukomme, sah stets darauf, daß die Milch oder die
  gelbe Butter, welche am Rande der Schüssel umherfloß, gleichmäßig in
  die abgeteilten Gruben laufe; das Schwesterchen hingegen, welches viel
  harmloser war, suchte, sobald ihre Quellen versiegt waren, durch
  allerhand künstliche Stollen und Abzugsgräben die wohlschmeckenden
  Bächlein auf ihre Seite zu leiten, und wie sehr sich auch der Bruder
  dem widersetzte und ebenso künstliche Dämme aufbaute und überall
  verstopfte, wo sich ein verdächtiges Loch zeigen wollte, so wußte sie
  doch immer wieder eine geheime Ader des Breies zu eröffnen oder langte
  kurzweg in offenem Friedensbruch mit ihrem Löffel und mit lachenden
  Augen in des Bruders gefüllte Grube. Alsdann warf er den Löffel weg,
  lamentierte und schmollte, bis die gute Mutter die Schüssel zur Seite
  neigte und ihre eigene Brühe voll in das Labyrinth der Kanäle und
  Dämme ihrer Kinder strömen ließ. So lebte die kleine Familie einen Tag
  wie den andern, und indem dies immer so blieb, während doch die Kinder
  sich auswuchsen, ohne daß sich eine günstige Gelegenheit zeigte, die
  Welt zu erfassen und irgend etwas zu werden, fühlten sich alle immer
  unbehaglicher und kümmerlicher in ihrem Zusammensein. Pankraz, der
  Sohn, tat und lernte fortwährend nichts, als eine sehr ausgebildete
  und künstliche Art zu schmollen, mit welcher er seine Mutter, seine
  Schwester und sich selbst quälte. Es ward dies eine ordentliche und
  interessante Beschäftigung für ihn, bei welcher er die müßigen
  Seelenkräfte fleißig übte im Erfinden von hundert kleinen häuslichen
  Trauerspielen, die er veranlaßte und in welchen er behende und
  meisterlich den steten Unrechtleider zu spielen wußte. Estherchen, die
  Schwester, wurde dadurch zu reichlichem Weinen gebracht, durch welches
  aber die Sonne ihrer Heiterkeit schnell wieder hervorstrahlte. Diese
  Oberflächlichkeit ärgerte und kränkte dann den Pankraz so, daß er
  immer längere Zeiträume hindurch schmollte und aus selbstgeschaffenem
  Ärger selbst heimlich weinte.
  Doch nahm er bei dieser Lebensart merklich zu an Gesundheit und
  Kräften, und als er diese in seinen Gliedern anwachsen fühlte,
  erweiterte er seinen Wirkungskreis und strich mit einer tüchtigen
  Baumwurzel oder einem Besenstiel in der Hand durch Feld und Wald, um
  zu sehen, wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht auftreiben und
  erleiden könne. Sobald sich ein solches zur Not dargestellt und
  entwickelt, prügelte er unverweilt seine Widersacher auf das
  jämmerlichste durch, und er erwarb sich und bewies in dieser seltsamen
  Tätigkeit eine solche Gewandtheit, Energie und feine Taktik, sowohl im
  Ausspüren und Aufbringen des Feindes, als im Kampfe, daß er sowohl
  einzelne ihm an Stärke weit überlegene Jünglinge als ganze Trupps
  derselben entweder besiegte, oder wenigstens einen ungestraften
  Rückzug ausführte.
  War er von einem solchen wohlgelungenen Abenteuer zurückgekommen, so
  schmeckte ihm das Essen doppelt gut und die Seinigen erfreuten sich
  dann einer heitern Stimmung. Eines Tages aber war es ihm doch
  begegnet, daß er, statt welche auszuteilen, beträchtliche Schläge
  selbst geerntet hatte, und als er voll Scham, Verdruß und Wut nach
  Hause kam, hatte Estherchen, welche den ganzen Tag gesponnen, dem
  Gelüste nicht widerstehen können und sich noch einmal über das für
  Pankraz aufgehobene Essen hergemacht und davon einen Teil gegessen,
  und zwar, wie es ihm vorkam, den besten. Traurig und wehmütig, mit
  kaum verhaltenen Tränen in den Augen, besah er das unansehnliche,
  kaltgewordene Restchen, während die schlimme Schwester, welche schon
  wieder am Spinnrädchen saß, unmäßig lachte. Das war zu viel und nun
  mußte etwas Gründliches geschehen. Ohne zu essen, ging Pankraz hungrig
  in seine Kammer, und als ihn am Morgen seine Mutter wecken wollte, daß
  er doch zum Frühstück käme, war er verschwunden und nirgends zu
  finden. Der Tag verging, ohne daß er kam, und ebenso der zweite und
  dritte Tag. Die Mutter und Estherchen gerieten in große Angst und Not;
  sie sahen wohl, daß er vorsätzlich davongegangen, indem er seine
  Habseligkeiten mitgenommen. Sie weinten und klagten unaufhörlich, wenn
  alle Bemühungen fruchtlos blieben, eine Spur von ihm zu entdecken, und
  als nach Verlauf eines halben Jahres Pankrazius verschwunden war und
  blieb, ergaben sie sich mit trauriger Seele in ihr Schicksal, das
  ihnen nun doppelt einsam und arm erschien.
  Wie lang wird nicht eine Woche, ja nur ein Tag, wenn man nicht weiß,
  wo diejenigen, die man liebt, jetzt stehn und gehn, wenn eine solche
  Stille darüber durch die Welt herrscht, hab allnirgends auch nur der
  leiseste Hauch von ihrem Namen ergeht, und man weiß doch, sie sind da
  und atmen irgendwo.
  So erging es der Mutter und dem Estherlein fünf Jahre, zehn Jahre und
  fünfzehn Jahre, einen Tag wie den andern, und sie wußten nicht, ob ihr
  Pankrazius tot oder lebendig sei. Das war ein langes und gründliches
  Schmollen, und Estherchen, welches eine schöne Jungfrau geworden,
  wurde darüber zu einer hübschen und feinen alten Jungfer, welche nicht
  nur aus Kindestreue bei der alternden Mutter blieb, sondern ebensowohl
  aus Neugierde, um ja in dem Augenblicke da zu sein, wo der Bruder sich
  endlich zeigen würde, und zu sehen, wie die Sache eigentlich verlaufe.
  Denn sie war guter Dinge und glaubte fest, daß er eines Tages
  wiederkäme und daß es dann etwas Rechtes auszulachen gäbe. Übrigens
  fiel es ihr nicht schwer, ledig zu bleiben, da sie klug war und wohl
  sah, wie bei den Seldwylern nicht viel dahintersteckte an dauerhaftem
  Lebensglücke und sie dagegen mit ihrer Mutter unveränderlich in einem
  kleinen Wohlständchen lebte, ruhig und ohne Sorgen; denn sie hatten ja
  einen tüchtigen Esser weniger und brauchten für sich fast gar nichts.
  Da war es einst ein heller schöner Sommernachmittag, mitten in der
  Woche, wo man so an gar nichts denkt und die Leute in den kleinen
  Städten fleißig arbeiten. Der Glanz von Seldwyla befand sich sämtlich
  mit dem Sonnenschein auf den übergrünten Kegelbahnen vor dem Tore oder
  auch in kühlen Schenkstuben in der Stadt. Die Falliten und Alten aber
  hämmerten, näheten, schusterten, klebten, schnitzelten und bastelten
  gar emsig darauf los, um den langen Tag zu benutzen und einen
  vergnügten Abend zu erwerben, den sie nunmehr zu würdigen verstanden.
  Auf dem kleinen Platze, wo die Witwe wohnte, war nichts als die stille
  Sommersonne auf dem begrasten Pflaster zu sehen; an den offenen
  Fenstern aber arbeiteten ringsum die alten Leute und spielten die
  Kinder. Hinter einem blühenden Rosmaringärtchen auf einem Brette saß
  die Witwe und spann, und ihr gegenüber Estherchen und nähete. Es waren
  schon einige Stunden seit dem Essen verflossen und noch hatte niemand
  eine Zwiesprache gehalten von der ganzen Nachbarschaft. Da fand der
  Schuhmacher wahrscheinlich, daß es Zeit sei, eine kleine
  Erholungspause zu eröffnen, und nieste so laut und mutwillig: Hupschi!
  daß alle Fenster zitterten und der Buchbinder gegenüber, der
  eigentlich kein Buchbinder war, sondern nur so aus dem Stegreif
  allerhand Pappkästchen zusammenleimte und an der Türe ein verwittertes
  Glaskästchen hängen hatte, in welchem eine Stange Siegellack an der
  Sonne krumm wurde, dieser Buchbinder rief: Zur Gesundheit! und alle
  Nachbarsleute lachten. Einer nach dem andern steckte den Kopf durch
  das Fenster, einige traten sogar vor die Türe und gaben sich Prisen,
  und so war das Zeichen gegeben zu einer kleinen Nachmittagsunterhaltung
  und zu einem fröhlichen Gelächter während des Vesperkaffees, der schon
  aus allen Häusern duftete und zichorierte. Diese hatten endlich gelernt,
  sich aus wenigem einen Spaß zu machen. Da kam in dies Vergnügen
  herein ein fremder Leiermann mit einem schönpolierten Orgelkasten, was
  in der Schweiz eine ziemliche Seltenheit ist, da sie keine eingeborenen
  Leiermänner besitzt. Er spielte ein sehnsüchtiges Lied von der Ferne und
  ihren Dingen, welches die Leute über die Maßen schön dünkte und
  besonders der Witwe Tränen entlockte, da sie ihres Pankräzchens
  gedachte, das nun schon viele Jahre verschwunden war. Der
  Schuhmacher gab dem Manne einen Kreuzer, er zog ab und das Plätzchen
  wurde wieder still. Aber nicht lange nachher kam ein anderer Herumtreiber
   mit einem großen fremden Vogel in einem Käfig, den er unaufhörlich
  zwischen dem Gitter durch mit einem Stäbchen anstach und erklärte, so daß
  der traurige Vogel keine Ruhe hatte. Es war ein Adler aus Amerika; und die
  fernen blauesten Länder, über denen er in seiner Freiheit geschwebt, kamen
  der Witwe in den Sinn und machten sie um so trauriger, als sie gar nicht
  wußte, was das für Länder wären, noch wo ihr Söhnchen sei. Um den
  Vogel zu sehen, hatten die Nachbarn auf das Plätzchen hinaustreten
  müssen, und als er nun fort war, bildeten sie eine Gruppe, steckten die
  Nasen in die Luft und lauerten auf noch mehr Merkwürdigkeiten, da sie nun
  doch die Lust ankam, den übrigen Tag zu vertrödeln.
  Diese Lust wurde denn auch erfüllt und es dauerte nicht lange, bis das
  allergrößte Spektakel sich mit großem Lärm näherte unter dem Zulauf
  aller Kinder des Städtchens. Denn ein mächtiges Kamel schwankte auf
  den Platz, von mehreren Affen bewohnt; ein großer Bär wurde an seinem
  Nasenringe herbeigeführt; zwei oder drei Männer waren dabei, kurz ein
  ganzer Bärentanz führte sich auf und der Bär tanzte und machte seine
  possierlichen Künste, indem er von Zeit zu Zeit unwirsch brummte, daß
  die friedlichen Leute sich fürchteten und in scheuer Entfernung dem
  wilden Wesen zuschauten. Estherchen lachte und freute sich unbändig
  über den Bären, wie er so zierlich umherwatschelte mit seinem Stecken,
  über das Kamel mit seinem selbstvergnügten Gesicht und über die Affen.
  Die Mutter dagegen mußte fortwährend weinen; denn der böse Bär
  erbarmte sie, und sie mußte wiederum ihres verschollenen Sohnes
  gedenken.
  Als endlich auch dieser Aufzug wieder verschwunden und es wieder still
  geworden, indem die aufgeregten Nachbarn sich mit seinem Gefolge
  ebenfalls aus dem Staube gemacht, um da oder dort zu einem
  Abendschöppchen unterzukommen, sagte Estherchen: „Mir ist es nun
  zumute, als ob der Pankraz ganz gewiß heute noch kommen würde, da
  schon so viele unerwartete Dinge geschehen und solche Kamele, Affen
  und Bären dagewesen sind!" Die Mutter ward böse darüber, daß sie den
  armen Pankraz mit diesen Bestien sozusagen zusammenzählte und
  auslachte, und hieß sie schweigen, nicht innewerdend, daß sie ja
  selbst das gleiche getan in ihren Gedanken. Dann sagte sie seufzend:
  „Ich werde es nicht erleben, daß er wiederkommt!"
  Indem sie dies sagte, begab sich die größte Merkwürdigkeit dieses
  Tages und ein offener Reisewagen mit einem Extrapostillion fuhr mit
  Macht auf das stille Plätzchen, das von der Abendsonne noch halb
  bestreift war. In dem Wagen saß ein Mann, der eine Mütze trug wie die
  französischen Offiziere sie tragen, und ebenso trug er einen Schnurr-
  und Kinnbart und ein gänzlich gebräuntes und ausgedörrtes Gesicht zur
  Schau, das überdies einige Spuren von Kugeln und Säbelhieben zeigte.
  Auch war er in einen Burnus gehüllt, alles dies, wie es französische
  Militärs aus Afrika mitzubringen pflegen, und die Füße stemmte er
  gegen eine kolossale Löwenhaut, welche auf dem Boden des Wagens lag;
  auf dem Rücksitze vor ihm lag ein Säbel und eine halblange arabische
  Pfeife neben anderen fremdartigen Gegenständen.
  Dieser Mann sperrte ungeachtet des ernsten Gesichtes, das er machte,
  die Augen weit auf und suchte mit denselben rings auf dem Platze ein
  Haus, wie einer, der aus einem schweren Traume erwacht. Beinahe
  taumelnd, sprang er aus dem Wagen, der von ungefähr auf der Mitte des
  Plätzchens stillhielt; doch ergriff er die Löwenhaut und seinen Säbel
  und ging sogleich sicheren Schrittes in das Häuschen der Witwe, als ob
  er erst vor einer Stunde aus demselben gegangen wäre. Die Mutter und
  Estherchen sahen dies voll Verwunderung und Neugierde und horchten
  auf, ob der Fremde die Treppe heraufkäme; denn obgleich sie kaum noch
  von Pankrazius gesprochen, hatten sie in diesem Augenblick keine
  Ahnung, daß er es sein könnte, und ihre Gedanken waren von der
  überraschten Neugierde himmelweit von ihm weggeführt. Doch urplötzlich
  erkannten sie ihn an der Art, wie er die obersten Stufen übersprang
  und über den kurzen Flur weg fast gleichzeitig die Klinke der
  Stubentür ergriff, nachdem er wie der Blitz vorher den lose steckenden
  Stubenschlüssel fester ins Schloß gestoßen, was sonst immer die Art
  des Verschwundenen gewesen, der in seinem Müßiggange eine seltsame
  Ordnungsliebe bewährt hatte. Sie schrien laut auf und standen
  festgebannt vor ihren Stühlen, mit offenem Munde nach der aufgehenden
  Türe sehend. Unter dieser stand der fremde Pankrazius mit dem dürren
  und harten Ernste eines fremden Kriegsmannes, nur zuckte es ihm
  seltsam um die Augen, indessen die Mutter erzitterte bei seinem
  Anblick und sich nicht zu helfen wußte und selbst Estherchen zum
  erstenmal gänzlich verblüfft war und sich nicht zu regen wagte. Doch
  alles dies dauerte nur einen Augenblick; der Herr Oberst, denn nichts
  Geringeres war der verlorene Sohn, nahm mit der Höflichkeit und
  Achtung, welche ihn die wilde Not des Lebens gelehrt, sogleich die
  Mütze ab, was er nie getan, wenn er früher in die Stube getreten; eine
  unaussprechliche Freundlichkeit, wenigstens wie es den Frauen vorkam,
  die ihn nie freundlich gesehen noch also denken konnten, verbreitete
  sich über das gefurchte und doch noch nicht alte Soldatengesicht und
  ließ schneeweiße Zähne sehen, als er auf sie zueilte und beide mit
  ausbrechendem Herzensweh in die Arme schloß.
  Hatte die Mutter erst vor dem martialischen und vermeintlich immer
  noch bösen Sohne sonderbar gezittert, so zitterte sie jetzt erst recht
  in scheuer Seligkeit, da sie sich in den Armen dieses wiedergekehrten
  Sohnes fühlte, dessen achtungsvolles Mützenabnehmen und dessen
  aufleuchtende nie gesehene Anmut, wie sie nur die Rührung und die Reue
  gibt, sie schon wie mit einem Zauberschlage berührt hatten. Denn noch
  ehe das Bürschchen sieben Jahre alt gewesen, hatte es schon
  angefangen, sich ihren Liebkosungen zu entziehen und seither hatte
  Pankraz in bitterer Sprödigkeit und Verstockung sich gehütet, seine
  
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