Zum wilden Mann - 5

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Gefreiter in dem Peloton, das als Executionskommando in den
Festungsgraben befehligt worden war. Der Lieutenant hob den Degen, und
-- wir gaben Feuer: ich ohne Umstände wie die anderen. Von dem
Augenblicke an war ich von meiner europäischen Lebensbürde vollständig
frei. Ich machte mir aus dem Tage, der gestern war, und dem, der
vielleicht morgen sein konnte, nicht das Geringste mehr; -- juchhe, wie
der Dichter stellte ich meine Sache auf nichts! So bin ich immer bei
mir, und zwar bei mir allein gewesen: auf dem Marsche, wie in der
Wachtstube, am Feuer in der Indianerhütte wie in den Salons der
Präsidialstädte. Ja, meine Herrschaften, habe ich da drüben manchen
Präsidenten in mancher Republik kommen und gehen sehen, habe selber
geholfen, den Excellenzen Stühle zuzurücken oder sie ihnen unterm Sitze
wegzuziehen, wie's sich gerade schickte. Venezuela machte mich zum
Luogotenente, Paraguay zum Major; aber Seine Majestät Dom Pedro von
Brasilien war am gnädigsten gegen mich, und so fand ich denn auch am
meisten Gefallen an ihm. Wir beide haben jetzt manch liebes Jahr das
vielfarbige Gesindel in Rio Janeiro zur Ordnung und Tugend angehalten:
er durch regelrecht richtige konstitutionelle Güte, ich durch flache
Säbelhiebe und im Notfall durch einen kurzen Galopp, drei Schwadronen
hinter einander, rund über das Pack weg. Meine Herren und Sie, liebes
Fräulein, Sie werden sicherlich noch einmal erschrecken und mich von der
Seite ansehen; aber es ist nicht anders, und bei der Wahrheit soll der
Mensch bleiben: wenn ich das Köpfen aufgegeben habe, so habe ich mich
desto energischer auf das Hängen gelegt und gefunden, daß es eine viel
reinlichere Arbeit ist und seinen Zweck ebenso gut erfüllt. Was aber das
Gehängtwerden anbetrifft, so habe ich selber die Schlinge mehr als
einmal um den Hals gefühlt, gottlob ihn aber stets noch glücklich
herausgezogen. Ei ja, ich komme jetzt ganz gut mit jedermann aus -- bin
hoffähig und reite bei feierlichen Aufzügen am Kutschenschlage Ihrer
kaiserlichen Majestäten. Komme ich nach Rio heim, so werde ich mich
verheiraten; denn für ein ferneres junggesellenhaftes Umherschweifen
wird's allmählich ein wenig spät. Doch davon morgen, und nun vor allen
Dingen das letzte Glas von diesem höchst vortrefflichen Getränk und dazu
ein Rat, Wunsch und Trinkspruch: Verehrte Freunde, da wir einmal da
sind, so leben wir, wie es eben gehen will; und da das, was uns endlich
aus dem Dasein hinausschiebt, immer am Werk ist, so schieben wir ohne
Skrupel gleichfalls; -- vor allen Dingen aber lebe e r hoch -- mein
Freund, mein lieber, alter, guter Freund Philipp Kristeller und mit ihm
wachse, blühe und gedeihe fort und fort seine Apotheke >zum wilden
Mann!<«
Das riefen sie alle nach und klangen die Gläser an einander, und dabei
erhoben sie sich und standen verwirrt, schwankend ob all des
Abenteuerlichen, das der Abend enthüllt und gebracht hatte. Wie die
Gäste Abschied von dem Hausherrn, seiner Schwester und dem Oberst
Agostin Agonista nahmen, wußten sie selbst nachher kaum anzugeben.
Der Oberst aber sagte:
»Philipp, einen Schlafrock und ein Paar Pantoffeln bitte ich mir aus.
Ich will es doch wenigstens einmal noch behaglich im deutschen
Vaterlande haben.«
Die beiden Freunde vom Blutstuhl umarmten sich noch einmal; wir aber
begleiten den Förster Ulebeule und den Pastor ein Endchen auf ihrem Wege
nach ihren Wohnungen.


Zehntes Kapitel.

Daß sie, der Förster, der Pastor und der Landphysikus _Dr._ Hanff, ihren
freundlichen Wirten gute Nacht oder vielmehr guten Morgen gesagt hatten,
stand fest.
Der Apotheker hatte sie mit dem Lichte an die Thür begleitet, und sie
standen auf der Landstraße, wo der Doktor seinen Einspänner bereits
wartend fand. Sie vernahmen noch, wie der Hausherr drinnen den Schlüssel
im Schloß umdrehte, und niemand hinderte sie jetzt mehr, ihren
Stimmungen, Gefühlen und Ansichten die Thüren weit aufzuwerfen.
Der Erste, der das Wort ergriff, war natürlich der Doktor, und er rief
von seinem Wagentritt aus:
»Nicht wahr, da hab' ich euch wieder mal einen tollen Gesellen ins Dorf
geschleift? He, ihr hattet wohl kaum eine Ahnung davon, daß es
dergleichen auf Erden geben könne, -- was? Mir gefällt der Kerl
ausnehmend wohl, und ich freue mich unbändig auf eine fernere und
genauere Bekanntschaft, -- zu Worte wird er einen im Laufe der Zeit ja
auch wohl einmal kommen lassen. Wir laden ihn natürlich rund herum der
Reihe nach zum Essen ein.«
»Natürlich, und er soll sich dann auch über uns wundern,« rief Ulebeule,
und der Doktor fuhr ab auf der Landstraße zur Rechten; er hatte ein gut
Stück Weges zu fahren, ehe er seine Behausung erreichte.
Die beiden anderen wendeten sich links, und der geistliche Herr trug
vorsichtig seine Taschenlaterne voran. Wo ihre Wege aber schieden,
standen sie noch einmal still und sahen nach der Apotheke »zum wilden
Mann« zurück. Das Haus lag dunkel da unter dem wieder dunkel und schnell
ziehenden Gewölk. Obgleich der Wind sich ein wenig gelegt hatte und die
Sterne sichtbar waren, trieb sich noch genug bedrohliches Gedünst am
Himmelsgewölbe um, und die Pappeln in der Nähe der Apotheke schwankten
wie betrunkene Gespenster.
»Mir wird jenes Haus dort nie wieder so aussehen, wie ich es bis zum
heutigen Abend gekannt habe,« sagte der Pastor. »Was sagen Sie, lieber
Freund?«
»Das weiß der Teufel!«
Der geistliche Herr zog ein wenig die Achseln zusammen.
»Sie sollten dieses böse Wort vorsichtiger gebrauchen, Bester,« meinte
er. »Freilich, freilich, nach dem, was wir eben vernommen haben -- wer
kann da sagen -- wer da seine Hand im Spiele gehabt hat? Ich lobe mir
Zustände, die auf besseren Grund und Boden gebaut sind als -- -- kurz,
was halten Sie vom heutigen Abend an von den Umständen unseres Freundes
Kristeller?«
»Der Alte ist mir lieber denn je geworden!« rief der Förster voll
Enthusiasmus. »Das nenn' ich einen braven Mann und einen guten Menschen!
Wenn einer es verdiente, diesem famosen Scharfrichter und
brasilianischen Generalfeldmarschall zur richtigen Stunde auf seinem
Wege zu begegnen, so war's unser Philipp. Die Welt oder nur ein Stück
davon würde er freilich nicht erobert haben, aber was man ihm giebt, das
nimmt er mit Bescheidenheit und Dankbarkeit, und für unsere Gegend ist
er doch wirklich diese dreißig Jahre durch ein Segen gewesen.«
»Und der andere -- dieser andere -- dieser Dom -- Dom -- Agonista?!«
»Hören Sie, Pastore, den muß man sich erst bei Tage besehen, ehe man ein
Urteil über ihn abgeben kann; bei Lampenlicht geht nichts in der ganzen
weiten Welt über ihn! das ist ein Prachtkerl; -- wahrhaftig, solch ein
Gesell aus Schmiedeeisen und Eichenholz rückt einem nicht alle Tage an
den Ellenbogen. Was wollen Sie -- ich glaube, ich glaube, mich hat lange
nichts so sehr geärgert, als daß er mir nicht auf der Stelle angetragen
hat, Brüderschaft mit ihm zu machen.«
»Da bin ich denn doch in der That ein wenig weichlicher als Sie, lieber
Ulebeule,« sagte der Pastor mit einem leisen Schauder. »Mir ist dieser
plötzlich wie aus dem Boden aufgestiegene Mensch entsetzlich! Die
Kaltblütigkeit, mit welcher er aus nichts in seinem Leben ein Hehl
machte, griff mir in alle Nerven. Wenn ich zu viel Punsch getrunken
haben sollte, so bin ich nicht schuld daran, sondern dieser -- dieser --
dieser ungewöhnliche Erzähler. Wehren Sie sich einmal gegen ein
fortwährend Einschänken, wenn es Sie fortwährend heiß und kalt
überläuft! Hatten Sie wirklich vorher eine Ahnung davon, daß es solche
Lebenswege und Fata in unseres Herrgotts Welt geben könne?«
»In Büchern habe ich Schnurrioseres gelesen; aber hier hatten wir
freilich einmal das Wirkliche und Wahrhaftige _in natura_. Heiß und kalt
hat mich seine Historie nicht gemacht, aber die Pfeife ist mir ziemlich
oft darüber ausgegangen. Käme einem jeden Abend ein solcher Kerl über
den Hals, so würde einem das Schmauchen auf die allernatürlichste Art
abgewöhnt. Außerdem daß ich einen brasilianischen Obersten noch niemals
mit eigenen Augen gesehen hatte, erzählte dieser Oberst mehr als
brasilianisch gut, und noch dazu ganz und gar nicht aus dem
Jäger-Lateinischen. Das muß ich kennen und hätte es ihm beim ersten
Flunkerwort abgespürt und es ihm merken lassen, nämlich moralisch mit
dem Hirschfänger übers Gesäß: Hoho, das ist für den gnädigsten Fürsten
und Herrn! Hoho, das ist für die Ritter und Knecht'! Dies ist das edle
Jägerrecht!«
»Ulebeule?!« rief der Pastor klagend-vorwurfsvoll.
»Ja, ja, es ist wahr, 's ist spät und es zieht hier arg,« rief der
Förster, »aber die Mohrenschiffgeschichte allein hätte doch auf jedem
Orgelbilde abgemalt werden können; -- bei allem in Grün, man kommt sich
ganz abgeschmackt und verrucht verledert und in seinem Loche versumpft
vor, wenn man es sich überlegt, was man seinerseits hier am Orte vor
sich brachte an Erfahrung, während der sein Gewölle um so viele Nester
herum ablegte.«
»Ich danke dem Himmel dafür, daß er mich hier im Frieden grau werden
ließ. Meine Natur hätte nicht für ein solches Dasein gepaßt.«
»Das brauchen Sie mir nicht schriftlich zu geben,« lachte der Förster;
»aber hat uns nicht gerade dieses kuriose, ins Kraut geschossene
Menschenkind bewiesen, daß niemand weiß, was in ihm steckt und was er
unter Umständen aus sich herausziehen kann? O je, wie oft hab' ich in
meinen jungen Jahren aus Angst oder Verdruß in die weite Welt
hinauslaufen wollen! Nach einem solchen Erzählungsabend begreift man
weniger als je, weshalb man es damals nicht ausführte und seinen
Schulmeistern, Eltern und sonstigen Vorgesetzten durch die Lappen ging.«
»Wir werden alle unsere Wege richtig geführt und sind in guten Händen,«
sprach der geistliche Hirte und trat leider gerade in diesem ganz
unpassenden Moment in eine etwas tiefere Pfütze, in der er ohne Gnade
hätte umkommen müssen, wenn sein handfester Begleiter nicht noch gerade
zu rechter Zeit zugegriffen hätte.
»Bitte ein andermal um denselben Dienst,« sprach Ulebeule gravitätisch;
sonst aber brachte dieser Zufall ihr jetziges Gespräch über das Haus
Kristeller und den Kaiserlich brasilianischen Gendarmerieobersten Dom
Agostin Agonista zu einem Abschluß.
Einiges wurde jedoch noch gesprochen, ehe der Pastor geradeaus seiner
Pfarre zuwanderte und der Förster sich links in den dunkeln Hohlweg
schlug, der zu seiner Försterei führte.
»Wir sehen uns doch morgen? Dieses alles kann doch gewiß nicht passiert
sein, ohne daß man ein weniges mehr davon sieht und hört und sich
darüber ausspricht!«
»Man fühlt freilich das Bedürfnis,« meinte der Pastor, »und ich meine,
wir treffen wohl irgendwo zusammen. Man ist es auch unserm guten
Apotheker schuldig, daß man sich nach seinem Befinden erkundige.«
»Und dem Oberst nicht weniger.«
»Gewiß, gewiß. Nun, wir werden ja sehen. Und nun gute Nacht, oder
vielmehr guten Morgen, mein teurer Freund. Wir sind selten so lange bei
einander geblieben als am heutigen Abend.«
»Und immer war's noch zu früh zum Aufbruch, und ich wäre sofort bereit,
diesen wilden Indianer mit der ersten Dämmerung thauschlägig zu spüren.
Aber der Kerl schnarcht -- ich bin fest überzeugt, er liegt im Bau und
schnarcht wie kein zweiter Mensch mit gutem Gewissen auf zwanzig Meilen
in die Runde. Sapperlot, so wie ich mich aufs Ohr gelegt habe, fange ich
an, vom Blutstuhl und diesem brasilianischen Landdragoner-General zu
träumen, und -- morgen -- morgen -- mache ich -- doch Brüderschaft mit
ihm!«
* * * * *
So sprach also die Welt! -- Wenn eine Million Zuhörer in dem
bildervollen Hinterstübchen der Apotheke »zum wilden Mann« dem alten
Philipp Kristeller und dem Obersten Agostin Agonista zugehört haben
würde, so würde diese Million denkender und redender Wesen kaum ein
mehreres und anderes als der Pastor Schönlank und der Förster Ulebeule
bemerkt haben. Der Seelenaustausch in diesen Wendungen genügte übrigens
auch vollkommen: wenden wir uns zu dem greisen Geschwisterpaar in der
Apotheke »zum wilden Mann« und zu seinem eigentümlichen Gaste zurück.


Elftes Kapitel.

Bruder und Schwester saßen allein im jetzt recht frostig werdenden
Hinterstübchen, im erkaltenden Qualm von spirituösem Getränk und
Tabaksdampf. Der Gast war zu Bett gegangen.
Der Hausherr hatte den Freund mit dem Lichte in das behagliche Gemach
die Treppe hinaufbegleitet und noch einmal all sein überquellendes
Gefühl in Wort und Empfindungslaut zusammenzufassen gesucht. Der Oberst
hatte ihn freundlich zu beruhigen bestrebt und dann, noch in Gegenwart
seines guten Philipp's, sehr gegähnt und den Rock ausgezogen. Liebevoll
aber hatte er ihn doch noch einmal von dem ersten Treppenabsatz
zurückgerufen und, ihm die Hand auf die Schulter legend, gesagt:
»Philipp, alter Kerl, lieber Junge, es ist mir in der That ein
herzliches Genügen, unter deinem Dache zu ruhen. Wahrhaftig, in mancher
unbehaglichen, unbequemen Stunde zu Lande und zu Wasser habe ich mir da,
d. h. unter diesem Dache, oft das vorzüglichste Quartier zurecht
gemacht, und jetzt hab' ich die Wirklichkeit, und sie ist wunderbar
wohlthuend!«
An diesen erfreulichen Ausbruch seiner Gefühle hatte er denn freilich
recht praktisch die Frage nach dem Stiefelknecht geknüpft.
Während der Bruder dem Gaste zu seinem Schlafzimmer leuchtete, war
Fräulein Dorette in der Bildergalerie sitzen geblieben, doch hatte sie
den Ehrensessel aufgegeben und sich auf ihrem gewohnten Stuhle
niedergesetzt. Da saß sie, beide Ellenbogen auf den Tisch stützend und
starr durch den Qualm, den die Herren hinterlassen hatten, und über die
leere Punschschale und die gleichfalls leeren Gläser weg auf die
buntbehängte Wand gegenüber sehend. Da saß sie und horchte auf die
Schritte über ihrem Kopfe und dann auf die Schritte des zurückkehrenden
Bruders auf der Treppe.
»Welch ein Erlebnis!« murmelte sie. »Wie fällt das jetzt in unsere Tage?
-- So spät im Leben! -- Und was werden die Folgen sein? -- o, o, o!«
Nun aber trat der Bruder wieder ein und zur Schwester heran. Nun legte
er seinerseits ihr die Hand auf die Schulter:
»Weißt du dich auch noch nicht in dem Glück, das uns dieser Abend
gebracht hat, zurecht zu finden? O Dorette, liebe Dorette, wie schön hat
sich nun alles ineinander gefunden und geschlossen, -- und gerade an
diesem Tage, an diesem Abend. Wer glaubt da an Zufall? Wer hat jemals
deutlicher als wir die Hand der Vorsehung, die alles gut macht, in
seinem Lebenslose erblickt?«
»O!« stöhnte die Schwester. »Ach, Bruder, Bruder, was wird nun aus
unserm Leben werden? -- O, wenn er doch nur früher gekommen wäre! Aber
so spät am Abend -- so spät am Abend -- was sollen wir anfangen?«
Herr Philipp Kristeller hatte sich auf seinem Stuhl niedergelassen und
blickte die Schwester groß und verwundert an.
»Was -- wie meinst du das, Dorothea?«
»Jetzt frage mich nur nicht weiter,« sagte das alte Fräulein scharf. »Es
wird sich ja alles finden -- morgen, übermorgen! Ja morgen ist ja auch
ein Tag! -- Aber man kann es ja nicht lassen. -- Bester Bruder, wenn er
nun bliebe? wenn er sich bei uns niederlassen wollte? Man muß sich ja da
alle möglichen Fragen stellen.«
»Wenn er bliebe? wenn er sich bei uns niederlassen wollte? Aber das wäre
ja herrlich!« rief der Apotheker, entzückt sich die Hände reibend. »Wie
weich und angenehm wollten wir ihm sein Leben machen!«
Verwundert sah er hin, als das Fräulein zweifelnd und melancholisch den
Kopf schüttelte.
»Du glaubst nicht, daß wir das vermöchten, Dorothea?«
»Nein,« erwiderte das Fräulein kurz und sprach unter einem schweren
Seufzer mehr zu sich als dem Bruder:
»Und dann der andere Fall, -- wenn er morgen wieder abreisen will, und
dazu --«
Sie brach ab und vollendete den Satz auch nicht, als der Bruder gespannt
eifrig fragte:
»Und dazu? -- was meinst du? was willst du sagen?«
»Wir müssen es eben abwarten,« sprach Fräulein Dorothea Kristeller
aufstehend. »Etwas anderes läßt sich in dieser Nacht doch nicht bereden;
und jetzt wollen auch wir zu Bett gehen und versuchen zu schlafen.«
Nach diesem saßen sie doch noch, aber stumm, eine gute halbe Stunde
beieinander. Als sie zu Bette gegangen waren, schlief weder Bruder noch
Schwester einen ruhigen Schlaf.
Den ruhigsten Schlaf von allen, deren Bekanntschaft wir diesmal machten,
schlief der brasilianische Oberst Dom Agostin Agonista.
Der lag friedlich auf dem Rücken und lächelte im Schlummer und sogar
beim Schnarchen. Man vernahm ihn so ziemlich durch das ganze Haus, und
wenn er träumte, so träumte er, ganz gegen alle soldatische Sitte und
Gewohnheit, weit in den jungen Tag hinein.
Dieser junge Tag kam frisch, reingewaschen, glänzend und sonnig -- ein
klarster, kalter Oktobertag. Die Berge in ihrem braunen Herbstgewande
hoben sich scharf von dem hellblauen Himmelsgewölbe ab; die leeren
Felder der Ebene lagen bis in die weiteste Ferne klar da; und die
Dörfer, die einzelnen Gehöfte, Anbauerhäuser und Hütten erschienen dem
Auge scharf umzogen, als ob sie dem Spiegel einer _Camera obscura_
entnommen worden und in die Morgenlandschaft hinein aufgestellt seien.
In dieser sonnigklaren Herbstmorgenlandschaft erschien aber die Apotheke
»zum wilden Mann« vor allem Übrigen wie hübsch auf- und abgeputzt. Die
Firma über der Thür glänzte in ihrer Goldschrift weit hin, die
Landstraße nach rechts und links entlang. Und alles, was sonst zu dem
Hause gehörte: Gartengegitter, Stallungen und Mauern, befand sich im
ordentlichsten Zustande. Man sah, daß um jegliches Zubehör dieses
Heimwesens ein sorglicher Geist walte, der seine Freude und sein Genügen
dran habe und sein Möglichstes von Tag zu Tage thue, alles im Hof, Haus
und Garten im guten Stande zu erhalten. Bis auf die vom Sturme der Nacht
zerzausten Sonnenblumen, die noch in ihren welken Resten über den
Gartenzaun hingen, war alles rings um die Apotheke »zum wilden Mann« im
vollsten Sinne des schönen Wortes -- präsentabel.
Und Bruder und Schwester warteten mit dem Kaffee auf den Gast. Eben
hatte er herunter sagen lassen: augenblicklich rasiere er sich und werde
in zehn Minuten erscheinen.
Die Dünste der Nacht waren verscheucht, das Hinterstübchen gekehrt und
mit weißem Sande bestreut. Die Hauskatze putzte sich unter dem Tische,
und der Zeisig zwitscherte lebendig in seinem Bauer; -- es war ein
Vergnügen, Herrn und Fräulein Kristeller an ihrem Kaffeetische sitzen zu
sehen, und -- eingeladen zu werden, gleichfalls daran Platz zu nehmen.
Der Oberst ließ nur wenig über die angegebenen zehn Minuten auf sich
warten. Schon vernahm man seinen martialisch schweren Schritt auf der
Treppe; -- der Apotheker Philipp Kristeller riß die Thür seines
Lieblingsgemaches auf.
»Schönen guten Morgen!« rief der Oberst Dom Agostin Agonista auf der
Schwelle, und Wirte und Gast faßten sich rasch zum erstenmal bei hellem
Tageslicht ins Auge: am schärfsten sah das Fräulein zu; etwas weniger
scharf sah sich der brasilianische Kriegsmann seine Leute an; -- der
Apotheker »zum wilden Mann« sah gar nichts, sein Gast und Freund
schwamm ihm vor den Augen -- wenigstens die ersten Minuten durch.
»Recht alt geworden,« meinte der Oberst bei sich, und er hatte recht.
»Unter anderen Verhältnissen würde ich gar nichts gegen ihn haben,«
sagte das Fräulein in der Tiefe der Seele, »ein anständiger, behäbiger
Herr!«
Der Apotheker Philipp Kristeller sagte gar nichts; er schüttelte von
neuem dem alten wiedergefundenen Freunde -- dem Wohlthäter und Gaste die
Hand und drückte ihn diesmal trotz alles Widerstrebens auf den
Ehrenplatz nieder. Erst als der Oberst saß, sagte Herr Philipp etwas,
und zwar nicht bei sich und in der Tiefe seiner Seele, sondern er rief
es fröhlich und laut:
»August, ich freue mich unendlich, -- du bist merkwürdig jung
geblieben!«
»Bei allen Göttern zu Wasser und zu Lande, ich hoffe das,« lachte der
Oberst Dom Agostin, und es war eine Wahrheit: trotz seiner schneeweißen
Haare und seiner wohlgezählten Jahre war er sehr jung geblieben; aber
das jüngste an ihm war doch seine Stimme.
Diese allein schon konnte als eine Merkwürdigkeit gelten. Mit einem
behaglichen Widerhall erfüllte sie das Haus, ging einem voll und rund
durch die Ohren ins Herz und paßte sich gemütlich, ja sozusagen,
tröstlich-fröhlich allem und jeglichem an, was die Stunde im Guten und
im Bösen bringen mochte. Wer sie von fern vernahm und vorzüglich in
Verbindung mit dem herzlichen Lachen ihres Besitzers, der sagte sich
unbedingt:
»Da freut sich ein braver Gesell seines Daseins.«
Der Oberst schüttelte nun noch einmal dem Fräulein die Hand und sprach
zum Apotheker:
»Ich habe euch heute morgen das Recht gegeben, mich für einen
Langschläfer zu halten, aber ihr werdet wahrscheinlich morgen früh schon
eines Besseren belehrt werden. Gewöhnlich pflege ich drei Stunden vor
Sonnenaufgang auf dem Marsche zu sein. Man lernt das, auch ohne Anlagen
dazu zu haben, unterm Äquator; und wenn ihr eines morgens das Nest ganz
leer finden solltet, so braucht ihr euch auch nicht allzu sehr zu
wundern.«
»O, Freund,« rief der Apotheker, »wir werden dich zu halten wissen! wir
werden dich sicherlich fürs erste nicht loslassen! Du bist unser! Du
darfst nicht gehen, wie du gekommen bist -- du würdest für lange Zeit
alle unsere Freude, unser Behagen mit dir wegführen!«
»Hm,« sagte der Oberst, und dann frühstückten sie gemächlich und der
alte Soldat mit besonders ausgezeichnetem Appetit. Er zeigte auch
beneidenswert wohl konservierte Zähne und wußte sie trefflich zu
gebrauchen.
Nach vollendetem Frühstück lehnte er sich behaglich seufzend zurück und
setzte seine Pfeife in Brand. Dorette ging ihren Hausgeschäften nach,
und die beiden Herren waren allein. Sie plauderten jetzt -- sie konnten
jetzt plaudern -- der Ernst in ihren gegenseitigen Verknüpfungen war
wenigstens für den Moment überwunden; sie hatten die nötige Ruhe zum
harmlosen Schwatzen gefunden, und sie schwatzten miteinander -- zwei
gemütliche ältliche Herren, deren einer etwas mehr von der Welt gesehen
und sich bedeutend besser erhalten hatte, als es dem anderen vergönnt
gewesen war.
Der Brasilianer freute sich über die deutschen Stubenfliegen, welche ihm
um die Nase summten; es war ihm auch durchaus nicht zu verdenken; aber
die Thatsache verdient, in einem eigenen Kapitel behandelt zu werden.


Zwölftes Kapitel.

»Ihr glücklichen Leute wißt es gar nicht, um wie vieles unsereiner euch
zu beneiden hat,« sprach der Oberst. »Da sitzt ihr in eurer täglichen
Behaglichkeit, und wenn ihr euch nicht dann und wann wirklich über die
Fliege an der Wand zu ärgern hättet, so ginge es euch eigentlich zu gut.
Nun guck einer, wie niedlich sich das Ding da auf der Zuckerdose die
Nase wischt und die Flügel putzt! Sollte man es nun für möglich halten,
daß der Gutmütigste von euch hier zu Lande vor Wut außer sich gerät,
wenn das ihm während des Mittagsschlafes über die Stirn spaziert? So ein
Bivouac am Rio Grande ohne Moskitonetz, das würde etwas für euch sein,
um euch Geduld in Anfechtungen zu lehren.«
Der Apotheker lächelte und sagte:
»Unsere Anfechtungen haben wir auch wohl ohne das, lieber August.«
»Lieber Agostin! wenn ich dich bitten darf,« rief der Gast. »Du hast
keine Ahnung davon, wie verhaßt mir dieser frühere August ist. Wenn
jemand seinen alten Adam so vollständig wie ich im Graben ablegt, dann
hält er auch etwas auf seinen neuen Rock. Mein jetziger paßt mir wie
angegossen, bemerke ich dir abermals; -- Dom Agostin Agonista,
Gendarmerie-Oberst in kaiserlich brasilianischen Diensten -- alles in
Ordnung, Patent wie Paß --«
»Ereifere dich doch nicht, Lieber,« sagte der alte Philipp begütigend.
»Ich ereifere mich nicht, ich ärgere mich nur!« rief der Oberst.
»Und zwar wie ein echter Deutscher über die Fliege an der Wand, bester
Augustin,« meinte der Apotheker »zum wilden Mann«; und dann gingen sie
zu etwas anderem über, das heißt, der Oberst fing an, sich sehr genau
nach den Umständen und Lebensläufen der Herren, deren Bekanntschaft er
am gestrigen Abend gemacht hatte, zu erkundigen. Dann erzählte er
seinerseits genauer, auf welche Weise er mit dem Doktor Hanff auf dem
Wege zusammengeraten sei, und dadurch kam er darauf, wie ihn doch nicht
allein der Zufall in diese Gegend geführt habe, sondern wie er in der
That mit der Absicht gekommen sei, sich nach dem alten botanischen Wald-
und Jugendgenossen, nach dem treuen Freunde vom Blutstuhl umzuschauen.
»Ich hatte keine Ahnung, wo du geblieben warst, und ob du überhaupt noch
am Leben seist, Filippo!« rief der Brasilianer. »Aber ich hatte mir
vorgenommen, dich tot oder lebendig zu finden, und es ist mir gelungen.
Eine Maronjagd war es durchaus nicht, Alter. Ich habe es wohl gelernt,
Spuren von Wild und Mensch im Urwalde, wie zwischen den Ackerfeldern und
in dem verworrensten Straßennetz über und unter der Erde zum Zwecke zu
verfolgen. Dich, oder deinen Namen, oder vielmehr einen Schnaps oder
Liqueur deines Namens spürte ich in den Zeitungen aus; -- dem
>Kristeller< ging ich nach, und da bin ich denn, und du wirst es mir
gewiß nicht verdenken, wenn ich im Laufe des Morgens das Getränk an der
Quelle zu erproben wünsche. Es war keineswegs notwendig, daß euer Doktor
mich auf den >Kristeller< aufmerksam machte.«
Der alte Philipp hatte sich während dieser Auseinandersetzung
fortwährend vergnüglichst die Hände gerieben, jetzt sprang er auf,
klopfte den Freund auf die Schulter und rief:
»Also mein >Kristeller< hat dich auf meine Spur gebracht! O, lieber
August--in, ich glaube da wirklich eine wohlthätige Erfindung gemacht zu
haben; ich werde sogleich --«
»Nachher,« sprach der Oberst Agonista. »Sieh, wie herrlich die Sonne
scheint, wie blau der Himmel ist! Philipp, jetzt zeigst du mir vor allen
Dingen dein Heimwesen im einzelnen: Herd und Hof -- ach, wie schade, daß
du mir nicht auch Weib und Kinder und Enkel zeigen kannst! -- und
Garten, die Offizin, das Laboratorium, die Materialkammer, Küche und
Keller, Stall und Viehstand -- alles interessiert mich!«
Da der Hausherr jetzt wieder neben seinem Gaste saß, so klopfte er ihn
nun auf das Knie:
»O Augustin, wie freundlich ist das von dir! Welch' eine Freude machst
du mir da. Sollen wir gleich gehen?«
»Gewiß,« sprach der Oberst Dom Agostin Agonista, sprang auf, drückte den
Tabak in der Pfeife fest und nahm den Arm des Freundes.
Beide Herren traten ihre Gänge an, durch Haus und Hof, durch Garten und
Ställe, und es war zugleich eine Merkwürdigkeit und ein Vergnügen, wie
verständig und sachkundig der Kriegsmann über alles zu reden wußte, und
-- wie genau er sich jegliches Ding ansah.
Der entzückte Hausherr sprach ihm mehrfach seine Verwunderung darob aus;
aber Dom Agostin lachte und meinte:
»Treibe du dich einmal wie ich ein Menschenalter da drüben um unter dem
Volk und den Völkerschaften, die Affen und sonstigen Bestien
eingeschlossen. Das heißt natürlich als ein von Haus und Anlage aus
überlegender und praktischer Mann, und dann sieh zu, ob du nicht
gleichfalls die Ordnungen der alten Heimat dir im Gedächtnis wachrufen
und täglich gern mit neuen Erfahrungen vermehren wirst. Wenn mich mein
Schicksal zu einem Abenteurer gemacht hat, Philipp, so bin ich doch ein
ganz solider geworden. Daß ich mich demnächst verheiraten werde, glaube
ich euch bereits gestern abend mitgeteilt zu haben.«
»Wenn es wirklich dein Ernst war, Augustin --«
»Mein bitterer Ernst. Ihr schient es alle für einen Scherz zu nehmen;
ich habe das wohl gemerkt. Eigentlich hätte ich das übel aufnehmen
sollen und begreife jetzt auch nicht, weshalb ich nicht sofort um
weitere Aufklärung über euer Lächeln hat; -- dieser Doktor -- Doktor
Hanff schien mir sogar die Schultern in die Höhe zu ziehen. Nun,
schieben wir das alles auf den trefflichen Punsch deiner Schwester; --
ich aber wiederhole es dir, ich bin bis über die Ohren verliebt und
trage das Bild meiner Geliebten in einem Medaillon unter der Weste auf
dem Busen. Du sollst das Porträt sehen, und deine Schwester soll's
nachher auch sehen, und dann will ich eure Meinung ruhig anhören. Es ist
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