Zum wilden Mann - 2

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hatten mit großer Schnelligkeit in diesem Hause Bankerott gemacht; Ihr
aber hattet Glück --«
»Und Verstand,« fiel der Förster Ulebeule ein, »den richtigen Verstand
von der Sache; denn in einer so gesunden Gegend, wie die hiesige zum
Exempel, legt sich der richtige Apotheker eben auf etwas anderes, zum
Beispiel auf einen neuen Magenbitter, wie der >Kristeller< einer ist,
auf die Fruchtsäfte im Großen, auf den Weinhandel und, nicht zu
vergessen, auf den Kräuterhandel durch ganz Deutschland ins
Unermeßliche. Heute Abend ist denn im natürlichen Verlaufe der Dinge
der Alte da in seinem Schlafrocke der allereinzige von uns, welcher es
zu etwas gebracht hat. Der Doktor wird es nie zu etwas bringen.«
Der geistliche Herr seufzte; aber der Apotheker »zum wilden Mann«, Herr
Philipp Kristeller, seufzte ebenfalls, und als gerade jetzt Wind und
Sturm stärker und böser mit Regen und Schloßen durchs Land fuhren, sah
er wie erschreckt von dem behaglichen Tisch auf das gepeitschte,
klirrende Fenster. Die alte, gute Schwester rückte dichter an ihn heran,
indem sie flüsterte:
»Liebe Herren, man muß niemandem sein Glück vorrücken, es nützt nichts
und hat schon häufig geschadet; das ist meine Meinung. Und ob meines
Bruders Glück gerade so groß gewesen ist, das steht wirklich noch dahin.
Wir haben unser Los und Leben genommen, wie es uns gegeben wurde, das
ist aber auch alles. Auf das Jubiläum aber trinke ich doch, und jetzt
will ich den Spruch ausbringen und sagen: Es lebe die Apotheke >zum
wilden Mann!<«
Sie hatte, während sie redete, die Gläser im Kreise gefüllt, und alle
stießen an, doch mit Nachdenken und Ernst, wie es sich gehörte. Herr
Philipp aber, unruhig auf seinem Stuhle hin- und herrückend, sprach
leise und mehr zu sich selber als zu den andern:
»Es ist eine Nacht dazu -- die rechte Nacht. Es ist mehr als ein
Menschenalter hingegangen, seit das, was ich mein Hauptglück nennen
sollte, an mich kam. Hört nur den Sturm da draußen, wie er sich unbändig
hat, ihr solltet kaum glauben, daß sich morgen vielleicht kein Lüftchen
regen wird, um das letzte Blatt vom Baume zu nehmen. Man sagt, es
verjähre alles; aber es ist nicht wahr. Es kommt alles wieder an einen,
der Sturmwind wie die alte Zeit. Ihr lieben Freunde, wollt ihr mich
anhören, so will ich euch eine Geschichte erzählen, eine kuriose, eine
recht, recht kuriose Geschichte. Ich will euch erzählen, wie ich vor
mehr als dreißig Jahren der Besitzer der Apotheke >zum wilden Mann<
wurde.«
Der Pastor sagte gar nichts; aber auch er rückte näher an Herrn Philipp
heran, berührte ermunternd seinen Ellbogen und bot ihm zu noch größerer
Ermunterung die blank abgegriffene silberne Dose.
»Geschichten höre ich für mein Leben gern, selbst Jagdgeschichten im
Notfall!« rief der Förster eifrig. »Endlich ist das Wild los! hin nach
der Fährt --«
»Einen Augenblick!« bat Fräulein Dorette, »jetzt muß ich noch für eine
Minute in die Küche, nachher bin ich wieder ganz und gar bei dir,
Philipp. Die beiden Nachbarn entschuldigen wohl.«
Sie entschuldigten gern und warteten und machten noch einige Bemerkungen
über die Jahreszeit und die Witterung. Nachdem aber die Schwester
zurückgekommen war, erzählte der Bruder wirklich seine Geschichte --
eine kuriose Geschichte!


Viertes Kapitel.

»Liebe, gute, treue Freunde und Nachbarn,« begann der Mann, der nach der
Meinung des Försters Ulebeule es zu etwas im Leben gebracht, d. h. etwas
vor sich gebracht hatte im Dorfe, »ich habe, ehe ihr kamet, von der
alten Zeit verlockt, schon zweimal meinen Archivkasten da in der Offizin
geöffnet und habe den Staub von der Vergangenheit geblasen; jetzt werde
ich wohl noch ein Dokument daraus hervorholen müssen. Trotz aller
wunderlichen Geheimnisse liegt mein Geschick vollständig klar auf dem
Papiere da; nicht etwa daß ich ein Tagebuch oder dergleichen geführt
hätte, sondern in wirklichen authentischen Schriftstücken, die ich euch
dann auch nachher zu eigener Begutachtung in die Hände geben werde.
»Mein Vater hatte mir einige Tausend Thaler hinterlassen; aber mein
Vormund, ein gutmütiger, wohlmeinender, doch höchst zerfahrener und
leichtsinniger Mann, hatte wenig auf dieselben Achtung gegeben. Als ich
das Geld gebrauchen konnte, war es bis auf ein Minimum verschwunden, und
der Vormund legte mir schluchzend das Bekenntnis ab: er wisse am
allerwenigsten, wo es geblieben sei. Übrigens fügte er zu meinem Troste
hinzu: mit seinem eigenen Vermögen sei es ihm gerade so ergangen. Er war
ein ältlicher Herr mit drei unverheirateten ältlichen Töchtern, und alle
waren meine besten Freunde; -- was blieb mir also übrig, als mit ihnen
zu weinen und so auch meinerseits das trockene Faktum in gegenseitiger
Liebe und Zuneigung feucht zu erhalten. Die drei guten Mädchen sorgten
für meine Wäsche und sonstige Ausstattung, packten mir meinen Koffer,
und so zog ich nach abgethaner Lehrzeit als voraussichtlich ewiges
Subjekt ins Laborantentum hinein und trieb mich fünf oder sechs Jahre
lang so umher durch Süß und Sauer, von einer Epidemie in die andere, von
einem nächtlichen Aufgeklingeltwerden zum andern, von einer Doktorpfote
zur andern, bis ich nach * * * kam, wo ich meine Johanne kennen lernte.
Da, Freund Ulebeule, habe ich wirklich etwas vor mich gebracht, nämlich
die einzigen guten, glücklichen Tage meines Lebens!«
»Gratuliere auch dazu,« brummte der Förster.
»Ja, in die glückliche Zeit meines Daseins war ich hineingeraten, und es
stimmte alles zusammen -- ein ganzes Jahr lang!
»Ich hatte es in jeder Beziehung gut. Mein damaliger Prinzipal war ein
drolliger alter Kauz, über den ich etwas mehr sagen muß; denn er
verdient das, meinet- wie seinethalben in jeder Beziehung. Er war
Apotheker mit Liebe; aber mit einem gewissen Wahnsinn ein Enthusiast für
die hohe Wissenschaft Botanik, und er war in der That ein bedeutender
Pflanzenkundiger. So lange es anging, hatte er seine Provisoren und
Gehilfen die Offizin versorgen lassen und war selber in Wald und Feld
seinem Lieblingsstudium nachgegangen. Als ich aber in sein Haus eintrat,
hatte sich das eben geändert. Er war über sechzig Jahre alt, seine Augen
waren allmählich schwach geworden, sein Rücken steif; und wenn er sich
zwischen Berg und Thal nach einem Gewächs bückte, so kam er nur mit
Stöhnen und einem verdrießlichen Griff nach dem Kreuz wieder in die
Höhe. Ich kam, und er stellte ein botanisches Examen mit mir an, das an
Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ, gottlob aber ziemlich gut
ausfiel, und von dem all' mein späteres Wohlsein in seinem Hause den
Ausgang nahm. Nach dem Examen überreichte er mir als Zeichen seiner
Zufriedenheit ein Exemplar von Stöver's Leben des Ritters Karl von Linné
und hielt mir eine Rede über die Märtyrer unserer >Göttin<, und empfahl
mir vorzüglich zur Nachahmung das größte botanische Genie des
sechzehnten Jahrhunderts, den Meister Charles de l'Ecluse, -- Carolus
Clusius aus Arras in den Niederlanden, der im Dienste der Wissenschaft
im vierundzwanzigsten Jahre die Wassersucht bekam, im neununddreißigsten
Jahre in Spanien mit dem Pferde stürzte und den Arm brach und gleich
nach der Heilung den rechten Schenkel; -- der im fünfundfünfzigsten
Jahre in Wien den linken Fuß brach und acht Jahre später sich die rechte
Hüfte verrenkte, -- der fortan an Krücken gehen mußte, einen Bruch und
Steinschmerzen bekam und doch das wundervolle Buch: _Variarum plantarum
historia_ schrieb und für alle kommende Zeiten wie ein glorreich helles
Licht aus dem dunklen Jahrhundert, in welchem er lebte und wirkte,
herüberleuchtete. Darauf schickte er mich in _re herbaria_ auf die Jagd
und blieb selber seufzend zu Hause, versorgte die Praxis und
durchblätterte seine Kräuterbücher, die wirklich merkwürdig in ihrer Art
waren und nach seinem Tode sicherlich auf den Mist geworfen sind. Zu
jeder Jahreszeit fast hatte ich für ihn das Land abzulaufen, denn er
war auch in der Kenntnis der Moose bedeutend, und in den Monaten, wo die
übrige Flora in ihrer Pracht steht, ging ich fast täglich meilenweit ins
Land oder in die Berge, um irgend eine einzige Pflanze zu suchen, auf
deren Besitz und Studium er augenblicklich sein Herz gewendet hatte.
-- Das war eine schöne Zeit! das waren Tage, wie ich sie seit Jahren
nicht in so ununterbrochen glücklicher Folge durchlebt hatte, und da
ich, wie gesagt, auch bald den Namen und das Bild meiner Braut mit mir
auf die Höhen und sonnigen Halden und in die schattigen Thäler nehmen
konnte, so ist denn weiter nichts mit dem Scheine zu vergleichen, wie er
mir damals über der Erde und in der Seele lag. Daß ich Rad durch den
Sonnenglanz auf den Bergen geschlagen hätte, will ich aber nicht gesagt
haben. Im Gegenteil! in die Lust am Leben machte sich immer ein
bänglicher Zug. Kam ich aus meinen Wäldern zurück in die kleine,
winklige Stadt, wieder hinein in das Gewirr und zänkische Durcheinander
selbst dieser wenigen Menschen, so wurde mir oft sogar sehr bänglich zu
Mute.«
»Das geht allen Leuten so, die ihr Geschäft viel im Freien aufhält, mir
auch!« sagte der Förster Ulebeule.
»Aber noch lange,« fuhr der Erzähler, ohne auf die Unterbrechung weiter
zu achten, fort, »noch lange war und blieb im Freien alles für mich
Gegenwart, und erst nach und nach wurde drinnen im Städtchen alles
Zukunft, sorgenvolle, angstvolle, nebelige Zukunft:
»Was soll denn eigentlich zuletzt aus dir und deinem Mädchen werden?
»Ich habe es schon gesagt, daß die richtige Schwerblütigkeit mich erst
im zweiten Jahre meines dortigen Aufenthalts übermannte. Im Anfange
blieben die trüben sorglosen Gedanken bei jedem Ausmarsche innerhalb der
alten Mauern der Stadt eingeschlossen zurück; erst nach und nach
begleiteten sie mich über das Weichbild hinaus und folgten mir weiter
und weiter, bis im dritten Frühlinge der dunkle Finger mir überall auf
meinen Wegen drohte und der Prinzipal die Bemerkung machte, daß ich
anfange, bedeutend abzumagern, und mich wohlmeinend und besorgt an
verschiedene nerven- und magenstärkende Droguen unserer Materialkammer
verwies.
»Ach, kein Arzneistoff konnte mir wieder zu vollerer Leibesrundung
verhelfen! Zwischen Hypochondrie und gutem Lebensmut hin- und
hergeworfen, schweifte ich umher, bis ich den Mann fand, der mir half!
»Meine Herren und lieben Freunde, in eben diesem Sommer machte ich eine
Bekanntschaft, eine seltsame, geheimnisvolle und, wie Johanne sagte,
eigentlich unheimliche Bekanntschaft. Ihr habe ich es zu danken, daß ich
heute der Besitzer dieser Apotheke >zum wilden Mann< bin, und sie ist
bis heute, -- ja bis heute, und also länger als dreißig Jahre das
ungelöste Rätsel, das Mysterium in meinem Leben geblieben --«
»Erzählen Sie, o erzählen Sie!« rief der Pastor atemlos, den Erzähler in
der besten raschesten Mitteilung seines Berichtes aus übergroßer
Spannung unterbrechend, und Herr Philipp Kristeller benutzte die
Gelegenheit, um Atem zu schöpfen, ehe er fortfuhr.
Es schien ihm aber wirklich daran gelegen zu sein, das Geheimnis seines
Lebens von der Seele los zu werden, und so fuhr er fort:
»Ich fand einfach einen Weggenossen und so zu sagen Kollegen auf meinen
Gängen, einen jungen wohlgekleideten Mann, der sich gleichfalls mit der
Botanik beschäftigte, nur um ein Weniges jünger als ich zu sein schien
und sich als ein Naturfreund und Pflanzenkenner auswies, der selbst
meinen Prinzipal im verständnisvollen Eindringen in unsere hinreißende
Wissenschaft übertraf. Aus der Gegend war er nicht, seinen Namen haben
wir nie recht erfahren; wir nannten ihn Herr August und später auch
einfach August. Sein Familienname war das aber jedenfalls nicht.
»Der Zufall stieß uns an einem heißen Julinachmittage auf einer
abgeholzten, glühenden Berglehne unter den manneshohen Fingerhutbüschen
zwischen dem Gewirr der Granitblöcke die Köpfe zusammen und ließ uns
sofort höflich das Handwerk grüßen. Zuerst begrüßten wir jedoch
natürlich höflich uns selber und betrachteten einander. Was der Fremde
an mir sah, weiß ich nicht; mir steht er heute noch so klar und deutlich
wie damals vor den Augen. Es war ein junger Mann, wie gesagt, ungefähr
von meinem Alter, hochgewachsen, wohlgebaut, von schwarzem Haar und mit
einem ernsthaften, energischen Gesicht von etwas gelbweißer, jedoch
keineswegs krankhafter Farbe. Den Kopf trug er ein wenig gesenkt, und
seine Stimme war wohllautend, er gebrauchte sie aber nur zu selten.
Während unseres ganzen Verkehrs überließ er es mir vollständig allein,
die Unterhaltung zu führen; und wie ihr wißt, liebe Nachbarn, bin ich
stets für einen lebhaften mündlichen Verkehr gewesen -- vielleicht oft
nur zu sehr.«
An dieser Stelle hatte die Schwester etwas zu sagen, und etwas unmutig
rief sie:
»Bester Bruder, sie reden im Dorfe doch schon dumm genug von dir!«
Der geistliche Herr lächelte; aber der Förster lachte laut und rief:
»Ja, Fräulein Dorette, für den Anstand ist seine Natur freilich nicht
eingerichtet, das habe ich zweimal in Erfahrung gebracht und werde es
mit meiner Einwilligung nicht zum drittenmal erleben. Das ist so! er
hält jedem Fuchs, der herüberwechselt, eine Standrede, ehe er losbrennt
und vorbeipafft. Aber hingegen bei einem Treiben wäre er wohl an Ort und
Stelle, und eine Hasenklapper ist auch ein recht nützliches Ding.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Bemerkung, Ulebeule!« sprach das alte
Fräulein spitz und kurz, und jetzt lächelte Herr Philipp Kristeller und
ließ sich nicht weiter auf seinem Wege aufhalten.
»Ich gab also, wie es nicht anders sein konnte, meiner Natur nach. Ich
erzählte dem neuen Bekannten so nach und nach von allem, was mir an mir,
meinem Leben und Zuständen wichtig dünkte. Um alles, von meiner Geburt
an, wußte er bald Bescheid; was ich von ihm dagegen erfuhr, war so wenig
als möglich, das heißt gar nichts! -- Aber ein guter Gesellschafter war
er doch, und wurde ein immer besserer, je häufiger wir uns trafen. Wir
fingen an, die Plätze miteinander zu verabreden, an welchen wir uns
finden wollten, und er, als der freiere Mann, war stets am Orte.
Manchmal begleitete er mich bis an den Hügelhang, an welchem die Stadt
liegt; allein so oft ich ihn auch einlud, nun auch mit mir in dieselbe
hinunterzusteigen, so lehnte er das stets bestimmt ab, ohne einen Grund
für die Weigerung anzugeben. Am Waldrande über dem Nordthore nahm er
stets Abschied, drückte mir die Hand und ging zurück. In der Stadt und
Umgegend kannte ihn keiner, so oft und viel ich auch die Leute nach ihm
ausfragte. Gesehen hatte ihn wohl mancher, und manchem war er auch in
seinem Wesen und Treiben aufgefallen; doch nähere Auskunft über ihn
wußte niemand zu geben. In einem Dorfe, mitten in den Bergen, hatte er
für ein Pferd und einen leichten Wagen ein Standquartier, doch auch da
nannte man ihn einfach nur Herr August und hielt ihn für einen Studiosen
aus der Universitätsstadt in der Ebene, der, >wie schon viele<, von dort
in die Berge komme, um >die Kräuter zu verstudieren<.«
»Scheint mir eine kalte Fährte gewesen zu sein,« meinte der Förster, und
der Pastor war derselben Meinung.
»Ich gab auch nichts darauf,« erzählte Herr Philipp weiter, »sondern
setzte den Verkehr fort, wie er sich eben machte, und nachdem ich mit
dem Herrn August ein halbdutzend Male zusammengetroffen war, fügte es
der Zufall, daß er auch meine Braut kennen lernte. Die hatte mit ihren
Verwandten und Bekannten an einem schönen Sonntage einen Ausflug in den
Wald gemacht, und da trafen wir, -- als Johanne und ich uns von der
lustigen Gesellschaft abseits geschlagen hatten und allein für uns
gingen, auf einem überwachsenen Pfade auf meinen geheimnisvollen Freund.
Wir gingen Arm in Arm, und er ging wieder einsam, und sein Gesicht war
ernster und trüber denn je. Als er uns erblickte, erhellten sich seine
Mienen zwar, aber nicht auf lange. Er wollte mit uns fröhlich und heiter
sein; aber es gelang ihm schlecht. Er sprach sehr gut und freundlich zu
meinem Schatz; doch je länger er mit uns ging und je munterer wir auf
ihn einplauderten, desto stiller wurde er. Und als nun gar die übrige
Gesellschaft singend, lachend und jubelnd zu uns stieß, da war er
plötzlich wieder verschwunden, und wir sahen ihn an jenem fröhlichen
Tage nicht mehr. >Du, Philipp, der hat ein großes Unglück erfahren oder
windet sich noch durch ein solches<, sagte mir Johanne nachher; >Philipp,
der Mensch thut mir unendlich leid; -- ist es dir denn noch niemals bange
und traurig in seiner Nähe zu Mute geworden?<
»Die Weiber haben in der Hinsicht einen feinen Blick und Sinn, und sie
verstehen es, uns Mannsvolk auf manches aufmerksam zu machen, was man
gefühlt hat, ohne daß es einem im Bewußtsein klar geworden ist. Ich
stutzte, und jetzt zuerst fiel es auch mir bei, daß mein schweigsamer
Freund auch mir schon einige Male sehr leid gethan habe. Bänglich war's
mir freilich noch nicht in seiner Gesellschaft zu Mute gewesen; doch
schon auf dem lustigen Heimwege nach der Stadt war es mir ganz klar, daß
von nun an auch das Bangen mich zu Zeiten wohl überkommen könne. Von
jenem Tage an achtete ich schärfer und schärfer auf meinen Freund
August, und dann einmal fragte ich ihn mit aller Aufbietung meiner
Beredsamkeit und Überredungskraft, was ihm eigentlich fehle und ob es
durchaus nicht möglich sei, daß ich ihm helfe? Ich beschwor ihn
inständigst, doch ein Herz zu fassen und alles, was ihn drücke, mir
mitzuteilen. Ich sagte ihm, daß ich mein Blut und meine Seele dran geben
würde, ihm zu helfen, und fügte auch sonst noch bei, was man bei einer
solchen zum Zittern aufgeregten Gelegenheit ernstlich und innig einem
geliebten, geschätzten und geachteten Menschen sagen kann. Natürlich
versuchte er zu lachen und versicherte mich, er befinde sich körperlich
wie geistig vollkommen wohl, sein Gewissen sei durchaus nicht durch
irgend eine unaussprechliche Schandthat belastet; aber für sein
Temperament könne er freilich nichts, und es sei in der That ein
ziemlich unbehagliches zu nennen und schon Mehreren aufgefallen. Er
sagte, er habe ein unglücklich Blut von seinen Vorfahren geerbt, und
wahr sei, daß er es stets kräftig und aufmerksam im Zaume halten müsse,
wenn nicht jeder Tag, den er lebe, zu einem jähzornigen bösen Ende
gelangen solle. Er dankte mir herzlich für meine Güte, wie er's nannte,
und es war mir fast, als sähe ich eine Thräne in seinen Augen, allein
das mochte doch wohl eine Täuschung sein, denn ein solches römisches
Münzengesicht, wie das seinige, war auf dergleichen Weichheiten hin
nicht in die gehörige Form gegossen.«
»Was für eine Art Visage hatte er, Kristeller?« fragte der Förster
Ulebeule.
»Ein Gesicht wie die Kaiser Nero, Caracalla oder Caligula auf ihren
Dukaten!« erläuterte der Pfarrherr, und der Apotheker »zum wilden Mann«
schüttelte den Kopf, glaubte sich aber jeder anderen Antwort überhoben
und ging in seiner Erzählung weiter:
»Meine Braut hatte ihm sehr gefallen. Er lobte ihr Äußeres und alles,
was sie während des kurzen Zusammenseins gesprochen hatte, ausnehmend.
Er nannte sie ein liebes, braves Mädchen -- was sie wirklich auch war
-- und er sprach mit tiefen Seufzern den Wunsch aus, eine ihr gleichende
Schwester zu haben. Da erkundigte ich mich denn selbstverständlich noch
einmal nach seinen Familienverhältnissen, er aber versicherte mich, daß
er ganz allein in der Welt stehe, Vater und Mutter durch den Tod
verloren und Geschwister nie gehabt habe; und wie um das Gespräch
schnell zu wenden, fragte er seinerseits, ob der Tag meiner Hochzeit
bereits festgesetzt sei.
»Als ich ihm nun gesagt hatte, wie es sich damit verhalte, seufzte er:
>O, könnte ich Ihnen helfen, Philipp, so würde es heute noch geschehen!<
-- -- Wie er mir half, und weshalb der Ehrensessel da seit dreißig
Jahren leer steht und auf ihn wartet, das will ich euch jetzt sagen.«


Fünftes Kapitel.

Die kleine Gesellschaft in dem bilderreichen Hinterstübchen der Apotheke
»zum wilden Mann« war dicht am Tische zusammengerückt. Sie wußten, daß
der alte Freund nicht übel zu erzählen verstehe, doch so wie heute hatte
er seine Gabe noch nicht gezeigt. Dem Förster Ulebeule war die Pfeife
ausgegangen, Schwester Dorette hielt die Hand des Bruders fest in der
ihrigen und der Pastor _loci_ klopfte leise mit der Dose auf dem Tische
und sagte:
»Also endlich! -- Kein Mensch sollte es doch für möglich halten, daß
einen solch braves Möbel, wie ein weichgepolsterter Lehnstuhl, dreißig
Jahre lang auf die Folter spannen könne. Lieber Kristeller, dieser
Sessel da hat mich in der That dreißig Jahre lang auf die Folter
gespannt!«
Sie lachten doch trotz ihrer Erregung, und der Herr Philipp lachte mit
und erzählte dann weiter.
»Der Sommer ging, der Herbst kam. Es wurde September und es wurde
Oktober, und die Pracht und Fülle der Natur ging für dieses Jahr auf
die Neige. Mein Prinzipal, der zur Zeit der Äquinoktialstürme stets
anfing, an Gesichtsschmerzen zu leiden, war gezwungen, mich nun fester
an die Offizin zu binden. Es ging wohl ein Monat hin, ehe er mich wieder
in die Weite schickte; -- am 15. Oktober aber jagte er mich drei Meilen
weit nach jener berühmten Felsgruppe, die ihr alle unter dem Namen der
Blutstuhl kennt, einer Moosart wegen, die um diese Zeit dort blühte und
zwar nur dort allein.
»Ich war damals auf dem Blutstuhle, doch nachher nicht wieder. Ich habe
eine Furcht vor dem wilden Orte behalten, trotzdem daß damals mir das
gegeben wurde, welches dieses Haus in meinen Besitz brachte und mir das
Leben, wie ich es geführt habe, möglich machte. Das Rätsel liegt noch
ungelöst da. Wenn ihr, meine Freunde, nachher euren Scharfsinn daran
prüfen wollt, so soll es mir lieb sein. Ich habe es aufgegeben, nachdem
ich ein Menschenalter darüber habe nachgrübeln müssen, und jetzt wird es
ja auch wohl gleichgültig sein, ob einer hier im Kreise noch zuletzt das
rechte Wort findet. Jenen Tag aber, diesen mir bedeutungsvollen 15.
Oktober, werde ich euch nun mit allen seinen Umständen so genau als
möglich schildern, und ihr müßt es euch schon gefallen lassen.«
»Kein Hase macht neugieriger seinen Kegel als ich!« rief der Förster.
»Lieber Gott, welch ein Abend!« sagte der geistliche Herr. »Hören Sie
nur diesen Sturm! O erzählen -- erzählen Sie!«
In der That ein stürmischer Abend! Je weiter die Nacht vorschritt, desto
wilder tobte es von Norden her gegen das Gebirge heran, und die Apotheke
»zum wilden Mann« bekam ihr volles Teil.
»Solch ein Wetter war es an jenem Tage nicht,« sagte Herr Philipp in
seinem gewohnten Tone, ruhig und gelassen, wie jemand, der eben ein
Menschenalter Zeit hatte, ein Erlebnis zu überdenken. Er wurde aber
auch noch einmal unterbrochen, denn es kam ein Kunde und holte für einen
Groschen Bittersalz und setzte eine Viertelstunde lang dem Verkäufer
auseinander wozu; -- was beides auch Zeit hatte bis morgen, wie Ulebeule
mürrisch bemerkte. Die Schwester jedoch benutzte die Pause, die
chinesische Schale auf dem Tische von neuem zu füllen, und endlich
erfuhren die Freunde doch, was der Apotheker Kristeller an jenem 15.
Oktober erlebte.
»Um neun Uhr morgens zog ich mit meinem Auftrage, das Frühstück in der
Tasche, die Botanisierbüchse auf dem Rücken, vom Hause, das beiläufig
das Zeichen >Zum König David< führte, ab; bei stiller Luft und dichtem
Nebel und diesmal im höchsten Grade geknickt und gebrochen. Ich hatte
Grund dazu, melancholisch auch in die schönste Witterung hineinzusehen!
Am Abend vorher hatte Johanne's Onkel mich bitten lassen, ihn doch
einmal auf ein Viertelstündchen zu besuchen, und ich hatte ihn besucht,
und er hatte mich zwei Stunden lang unterhalten. Zwei Stunden lang hatte
er mir eindringlich zugeredet, endlich doch ein Einsehen zu haben und
mir meine Lebensaussichten einmal recht klar zu machen und seine Nichte
-- nicht unglücklich! Kurz gesagt, er hatte mich aufgefordert, meiner
Braut ihr Wort zurückzugeben, und dafür seiner -- des Onkels -- ewigen
Freundschaft und Zuneigung gewiß zu werden. Und der Mann hatte in allem,
was er sagte, Recht gehabt, und er hatte nicht nur verständig, sondern
auch gutmütig gesprochen. Ohne die geringste Leidenschaft und
Zornmütigkeit hatte er mir seine und der Welt Meinung vorgetragen: er
hatte nichts gegen mich einzuwenden -- ich war ihm sogar sehr lieb und
wert, -- und doch! Ich war eben nach Hause gegangen oder vielmehr
getaumelt und hatte die Nacht über auf dem Stuhle vor meinem Bette
gesessen und die Stirn mit beiden Händen gehalten -- durch dieses
verständige Zureden unfähig zu allem und jedem Überlegen und
vernünftigem Überdenken: daß Johanne, meine arme, liebe Johanne, diese
selbige Nacht durchweint habe, wußte ich dazu. Betäubt verstand ich den
Prinzipal, der ebenfalls an Schlaflosigkeit litt, kaum, als er schon um
fünf Uhr mit dem Nachtlichte in der Hand an meine Thür kam, um mir
seinen neuen Herzenswunsch mitzuteilen und mir seinen Auftrag für den
Tag zu geben. Verdrießlich ging er, nachdem ich ihn endlich begriffen
hatte, seinen verbundenen Kopf schüttelnd, und ich hörte ihn noch auf
der Schwelle deutlich genug murren:
»>Auch der wird mir wieder mal unter den Händen zum Narren!<
»>Schreiben Sie dem Mädchen einen braven, ehrlichen, freundlichen Brief,
in welchem Sie das Nötige mit etwas Poesie meinetwegen sagen. Ich will
ihn abgeben und das Meinige, ohne Poesie natürlich, beimerken -- und
dann lassen Sie dem Jammer und meinetwegen auch sich selber in Ihrem
Elend alle Zeit -- es wird schon alles recht werden,< hatte mir der
Onkel vorigen Abend zum Beschlusse seiner schönen Rede geraten, -- und
dabei sollte man denn nicht zum Narren werden!! -- Das blühende Moos
drei Meilen ab vom >König David<, dem Hause des Herrn Onkels und meiner
Braut, war unter diesen Umständen in Wahrheit der einzige Trost, der mir
in der Welt wuchs. Ein Tag wurde wenigstens durch den Weg und das
Aufsuchen für mich und mein armes Kind gewonnen, und wie sich der Mensch
in seinen Nöten an den e i n e n Tag, die e i n e Stunde, die e i n e
Minute klammert, wer hätte das nicht schon in irgend einer Weise
erfahren?
»Ich schlich selbstverständlich unter Johanne's Fenster vorbei. Mein
Mädchen erblickte ich nicht; aber den Onkel sah ich. Er stand mit der
Pfeife hinter den Scheiben und schien nach dem Thermometer zu sehen;
seine eigene Temperatur hatte sich seit gestern Abend nicht verändert,
denn er zog höflichst die Nachtmütze ab und erhob dabei den
Zeigefinger. Der Gestus konnte nichts anderes bedeuten als: Vergessen
Sie nicht, mein Bester, was ich Ihnen gesagt habe; ich bestehe darauf
und weiß, was uns allen gut ist; -- ich bin ein alter erfahrener Kerl
und kenne die Welt ein wenig genauer als ihr guten, jungen,
leichtsinnigen, unerfahrenen Leute -- Auch ich grüßte so höflich und
submiß, wie ich noch nie einen Menschen gegrüßt hatte, und schleppte
mich seufzend matt weiter durch den grauen Dunst des Herbstmorgens.
»>O wie voll Dornen ist diese Werkeltagswelt<, läßt der englische Poet
Shakespeare eine seiner erdichteten Personen in einem seiner Stücke
sagen. Ich habe diesen Poeten immer gern gelesen und besitze eine
Übersetzung von ihm und habe mir vieles darin unterstrichen. Das Wort
von den Dornen und der Alltagswelt fiel mir diesmal auf die Seele, und
ich wiederholte es mir fort und fort bis auf die Berge hinauf. Freilich
war mir jetzo die Welt nach allen vier Himmelsgegenden durch das
dichteste Dornengestrüpp verwachsen, und daß es eine erbärmliche und in
ihrer Gewöhnlichkeit thränenreiche Werkeltagswelt war, das konnten mir
der Boden unter den Füßen und das Luftgewölbe über mir bezeugen.
»Der Nebel blieb wohl hinter mir in den Thälern zurück; aber in meiner
Brust nahm ich die Trübe auf die sonnigsten Gipfel mit empor. Ich
schritt rasch zu und tauchte mehrmals das Taschentuch in einen kalten
Waldbach, um es mir dann auf die heiße übernächtige Stirn und die
fiebernden Schläfen zu drücken. Um sah ich mich nicht, und es ist ein
Irrtum oder gar eine Lüge, wenn man behaupten will, daß einem
unglücklichen oder von Not und Sorge bedrängten Menschen eine schöne
Gegend und herrliche erhabene Aussicht zum Heil und zur Genesung
gereiche. Es ist einfach nicht wahr!
»Im Gegenteil, nichts ist schlimmer für einen Kummervollen,
Schmerzbeladenen als eine weite sonnenklare, in allen süßen Farben der
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