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Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 3 - 4

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  drehender Verwandlung sich bewegend vermehren. Jeder Winkel ist
  vollgepfropft und jedes Gesims besetzt. Eier dehnen sich aus, und
  Riesengestalten ziehen sich in Pilze zusammen. Unglücklicherweise hat
  der Schwarzkünstler das Wort vergessen, womit er diese Geisterflut
  wieder zur Ebbe bringen könnte.--So saß Wilhelm, und mit unbekannter
  Bewegung wurden tausend Empfindungen und Fähigkeiten in ihm rege, von
  denen er keinen Begriff und keine Ahnung gehabt hatte. Nichts konnte
  ihn aus diesem Zustande reißen, und er war sehr unzufrieden, wenn
  irgend jemand zu kommen Gelegenheit nahm, um ihn von dem, was auswärts
  vorging, zu unterhalten.
  So merkte er kaum auf, als man ihm die Nachricht brachte, es sollte in
  dem Schloßhofe eine Exekution vorgehen und ein Knabe gestäupt werden,
  der sich eines nächtlichen Einbruchs verdächtig gemacht habe und, da
  er den Rock eines Perückenmachers trage, wahrscheinlich mit unter den
  Meuchlern gewesen sei. Der Knabe leugne zwar auf das hartnäckigste,
  und man könne ihn deswegen nicht förmlich bestrafen, wolle ihm aber
  als einem Vagabunden einen Denkzettel geben und ihn weiterschicken,
  weil er einige Tage in der Gegend herumgeschwärmt sei, sich des Nachts
  in den Mühlen aufgehalten, endlich eine Leiter an eine Gartenmauer
  angelehnt habe und herübergestiegen sei.
  Wilhelm fand an dem ganzen Handel nichts sonderlich merkwürdig, als
  Mignon hastig hereinkam und ihm versicherte, der Gefangene sei
  Friedrich, der sich seit den Händeln mit dem Stallmeister von der
  Gesellschaft und aus unsern Augen verloren hatte.
  Wilhelm, den der Knabe interessierte, machte sich eilends auf und fand
  im Schloßhofe schon Zurüstungen. Denn der Graf liebte die
  Feierlichkeit auch in dergleichen Fällen. Der Knabe wurde
  herbeigebracht: Wilhelm trat dazwischen und bat, daß man innehalten
  möchte, indem er den Knaben kenne und vorher erst verschiedenes
  seinetwegen anzubringen habe. Er hatte Mühe, mit seinen Vorstellungen
  durchzudringen, und erhielt endlich die Erlaubnis, mit dem
  Delinquenten allein zu sprechen. Dieser versicherte, von dem
  überfalle, bei dem ein Akteur sollte gemißhandelt worden sein, wisse
  er gar nichts. Er sei nur um das Schloß herumgestreift und des Nachts
  hereingeschlichen, um Philinen aufzusuchen, deren Schlafzimmer er
  ausgekundschaftet gehabt und es auch gewiß würde getroffen haben, wenn
  er nicht unterwegs aufgefangen worden wäre.
  Wilhelm, der, zur Ehre der Gesellschaft, das Verhältnis nicht gerne
  entdecken wollte, eilte zu dem Stallmeister und bat ihn, nach seiner
  Kenntnis der Personen und des Hauses diese Angelegenheit zu vermitteln
  und den Knaben zu befreien.
  Dieser launige Mann erdachte unter Wilhelms Beistand eine kleine
  Geschichte, daß der Knabe zur Truppe gehört habe, von ihr entlaufen
  sei, doch wieder gewünscht, sich bei ihr einzufinden und aufgenommen
  zu werden. Er habe deswegen die Absicht gehabt, bei Nachtzeit einige
  seiner Gönner aufzusuchen und sich ihnen zu empfehlen. Man bezeugte
  übrigens, daß er sich sonst gut aufgeführt, die Damen mischten sich
  darein, und er ward entlassen.
  Wilhelm nahm ihn auf, und er war nunmehr die dritte Person der
  wunderbaren Familie, die Wilhelm seit einiger Zeit als seine eigene
  ansah. Der Alte und Mignon nahmen den Wiederkehrenden freundlich auf,
  und alle drei verbanden sich nunmehr, ihrem Freunde und Beschützer
  aufmerksam zu dienen und ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.
  
  
  III. Buch, 10. Kapitel
  
  
  Zehntes Kapitel
  Philine wußte sich nun täglich besser bei den Damen einzuschmeicheln.
  Wenn sie zusammen allein waren, leitete sie meistenteils das Gespräch
  auf die Männer, welche kamen und gingen, und Wilhelm war nicht der
  letzte, mit dem man sich beschäftigte. Dem klugen Mädchen blieb es
  nicht verborgen, daß er einen tiefen Eindruck auf das Herz der Gräfin
  gemacht habe; sie erzählte daher von ihm, was sie wußte und nicht
  wußte; hütete sich aber, irgend etwas vorzubringen, das man zu seinem
  Nachteil hätte deuten können, und rühmte dagegen seinen Edelmut, seine
  Freigebigkeit und besonders seine Sittsamkeit im Betragen gegen das
  weibliche Geschlecht. Alle übrigen Fragen, die an sie geschahen,
  beantwortete sie mit Klugheit, und als die Baronesse die zunehmende
  Neigung ihrer schönen Freundin bemerkte, war auch ihr diese Entdeckung
  sehr willkommen. Denn ihre Verhältnisse zu mehrern Männern, besonders
  in diesen letzten Tagen zu Jarno, blieben der Gräfin nicht verborgen,
  deren reine Seele einen solchen Leichtsinn nicht ohne Mißbilligung und
  ohne sanften Tadel bemerken konnte.
  Auf diese Weise hatte die Baronesse sowohl als Philine jede ein
  besonderes Interesse, unsern Freund der Gräfin näherzubringen, und
  Philine hoffte noch überdies, bei Gelegenheit wieder für sich zu
  arbeiten und die verlorne Gunst des jungen Mannes sich wo möglich
  wieder zu erwerben.
  Eines Tags, als der Graf mit der übrigen Gesellschaft auf die Jagd
  geritten war und man die Herren erst den andern Morgen zurückerwartete,
  ersann sich die Baronesse einen Scherz, der völlig in ihrer Art war;
  denn sie liebte die Verkleidungen und kam, um die Gesellschaft zu
  überraschen, bald als Bauermädchen, bald als Page, bald als
  Jägerbursche zum Vorschein. Sie gab sich dadurch das Ansehn einer
  kleinen Fee, die überall und gerade da, wo man sie am wenigsten
  vermutet, gegenwärtig ist. Nichts glich ihrer Freude, wenn sie
  unerkannt eine Zeitlang die Gesellschaft bedient oder sonst unter ihr
  gewandelt hatte und sie sich zuletzt auf eine scherzhafte Weise zu
  entdecken wußte.
  Gegen Abend ließ sie Wilhelmen auf ihr Zimmer fordern, und da sie eben
  noch etwas zu tun hatte, sollte Philine ihn vorbereiten.
  Er kam und fand nicht ohne Verwunderung statt der gnädigen Frauen das
  leichtfertige Mädchen im Zimmer. Sie begegnete ihm mit einer gewissen
  anständigen Freimütigkeit, in der sie sich bisher geübt hatte, und
  nötigte ihn dadurch gleichfalls zur Höflichkeit.
  Zuerst scherzte sie im allgemeinen über das gute Glück, das ihn
  verfolge und ihn auch, wie sie wohl merke, gegenwärtig hierhergebracht
  habe; sodann warf sie ihm auf eine angenehme Art sein Betragen vor,
  womit er sie bisher gequält habe, schalt und beschuldigte sich selbst,
  gestand, daß sie sonst wohl so seine Begegnung verdient, machte eine
  so aufrichtige Beschreibung ihres Zustandes, den sie den vorigen
  nannte, und setzte hinzu, daß sie sich selbst verachten müsse, wenn
  sie nicht fähig wäre, sich zu ändern und sich seiner Freundschaft wert
  zu machen.
  Wilhelm war über diese Rede betroffen. Er hatte zu wenig Kenntnis der
  Welt, um zu wissen, daß eben ganz leichtsinnige und der Besserung
  unfähige Menschen sich oft am lebhaftesten anklagen, ihre Fehler mit
  großer Freimütigkeit bekennen und bereuen, ob sie gleich nicht die
  mindeste Kraft in sich haben, von dem Wege zurückzutreten, auf den
  eine übermächtige Natur sie hinreißt. Er konnte daher nicht
  unfreundlich gegen die zierliche Sünderin bleiben; er ließ sich mit
  ihr in ein Gespräch ein und vernahm von ihr den Vorschlag zu einer
  sonderbaren Verkleidung, womit man die schöne Gräfin zu überraschen
  gedachte.
  Er fand dabei einiges Bedenken, das er Philinen nicht verhehlte;
  allein die Baronesse, welche in dem Augenblick hereintrat, ließ ihm
  keine Zeit zu Zweifeln übrig, sie zog ihn vielmehr mit sich fort,
  indem sie versicherte, es sei eben die rechte Stunde.
  Es war dunkel geworden, und sie führte ihn in die Garderobe des Grafen,
  ließ ihn seinen Rock ausziehen und in den seidnen Schlafrock des
  Grafen hineinschlüpfen, setzte ihm darauf die Mütze mit dem roten
  Bande auf, führte ihn ins Kabinett und hieß ihn sich in den großen
  Sessel setzen und ein Buch nehmen, zündete die Argandische Lampe
  selbst an, die vor ihm stand, und unterrichtete ihn, was er zu tun und
  was er für eine Rolle zu spielen habe.
  Man werde, sagte sie, der Gräfin die unvermutete Ankunft ihres Gemahls
  und seine üble Laune ankündigen; sie werde kommen, einigemal im Zimmer
  auf und ab gehn, sich alsdann auf die Lehne des Sessels setzen, ihren
  Arm auf seine Schultern legen und einige Worte sprechen. Er solle
  seine Ehemannsrolle so lange und so gut als möglich spielen; wenn er
  sich aber endlich entdecken müßte, so solle er hübsch artig und galant
  sein.
  Wilhelm saß nun unruhig genug in dieser wunderlichen Maske; der
  Vorschlag hatte ihn überrascht, und die Ausführung eilte der
  überlegung zuvor. Schon war die Baronesse wieder zum Zimmer hinaus,
  als er erst bemerkte, wie gefährlich der Posten war, den er
  eingenommen hatte. Er leugnete sich nicht, daß die Schönheit, die
  Jugend, die Anmut der Gräfin einigen Eindruck auf ihn gemacht hatten;
  allein da er seiner Natur nach von aller leeren Galanterie weit
  entfernt war und ihm seine Grundsätze einen Gedanken an ernsthaftere
  Unternehmungen nicht erlaubten, so war er wirklich in diesem
  Augenblicke in nicht geringer Verlegenheit. Die Furcht, der Gräfin zu
  mißfallen oder ihr mehr als billig zu gefallen, war gleich groß bei
  ihm.
  Jeder weibliche Reiz, der jemals auf ihn gewirkt hatte, zeigte sich
  wieder vor seiner Einbildungskraft. Mariane erschien ihm im weißen
  Morgenkleide und flehte um sein Andenken. Philinens Liebenswürdigkeit,
  ihre schönen Haare und ihr einschmeichelndes Betragen waren durch
  ihre neueste Gegenwart wieder wirksam geworden; doch alles trat wie
  hinter den Flor der Entfernung zurück, wenn er sich die edle, blühende
  Gräfin dachte, deren Arm er in wenig Minuten an seinem Halse fühlen
  sollte, deren unschuldige Liebkosungen er zu erwidern aufgefordert war.
  
  Die sonderbare Art, wie er aus dieser Verlegenheit sollte gezogen
  werden, ahnete er freilich nicht. Denn wie groß war sein Erstaunen,
  ja sein Schrecken, als hinter ihm die Türe sich auftat und er bei dem
  ersten verstohlnen Blick in den Spiegel den Grafen ganz deutlich
  erblickte, der mit einem Lichte in der Hand hereintrat. Sein Zweifel,
  was er zu tun habe, ob er sitzen bleiben oder aufstehen, fliehen,
  bekennen, leugnen oder um Vergebung bitten solle, dauerte nur einige
  Augenblicke. Der Graf, der unbeweglich in der Türe stehengeblieben
  war, trat zurück und machte sie sachte zu. In dem Moment sprang die
  Baronesse zur Seitentüre herein, löschte die Lampe aus, riß Wilhelmen
  vom Stuhle und zog ihn nach sich in das Kabinett. Geschwind warf er
  den Schlafrock ab, der sogleich wieder seinen gewöhnlichen Platz
  erhielt. Die Baronesse nahm Wilhelms Rock über den Arm und eilte mit
  ihm durch einige Stuben, Gänge und Verschläge in ihr Zimmer, wo
  Wilhelm, nachdem sie sich erholt hatte, von ihr vernahm: sie sei zu
  der Gräfin gekommen, um ihr die erdichtete Nachricht von der Ankunft
  des Grafen zu bringen. "Ich weiß es schon", sagte die Gräfin; "was
  mag wohl begegnet sein? Ich habe ihn soeben zum Seitentor
  hereinreiten sehen." Erschrocken sei die Baronesse sogleich auf des
  Grafen Zimmer gelaufen, um ihn abzuholen.
  "Unglücklicherweise sind Sie zu spät gekommen!" rief Wilhelm aus, "der
  Graf war vorhin im Zimmer und hat mich sitzen sehen."
  "Hat er Sie erkannt?"
  "Ich weiß es nicht. Er sah mich im Spiegel, so wie ich ihn, und eh
  ich wußte, ob es ein Gespenst oder er selbst war, trat er schon wieder
  zurück und drückte die Türe hinter sich zu."
  Die Verlegenheit der Baronesse vermehrte sich, als ein Bedienter sie
  zu rufen kam und anzeigte, der Graf befinde sich bei seiner Gemahlin.
  Mit schwerem Herzen ging sie hin und fand den Grafen zwar still und in
  sich gekehrt, aber in seinen äußerungen milder und freundlicher als
  gewöhnlich. Sie wußte nicht, was sie denken sollte. Man sprach von
  den Vorfällen der Jagd und den Ursachen seiner früheren Zurückkunft.
  Das Gespräch ging bald aus. Der Graf ward stille, und besonders mußte
  der Baronesse auffallen, als er nach Wilhelmen fragte und den Wunsch
  äußerte, man möchte ihn rufen lassen, damit er etwas vorlese.
  Wilhelm, der sich im Zimmer der Baronesse wieder angekleidet und
  einigermaßen erholt hatte, kam nicht ohne Sorgen auf den Befehl herbei.
  Der Graf gab ihm ein Buch, aus welchem er eine abenteuerliche
  Novelle nicht ohne Beklemmung vorlas. Sein Ton hatte etwas Unsicheres,
  Zitterndes, das glücklicherweise dem Inhalt der Geschichte gemäß war.
  Der Graf gab einigemal freundliche Zeichen des Beifalls und lobte den
  besondern Ausdruck der Vorlesung, da er zuletzt unsern Freund entließ.
  
  
  III. Buch, 11. Kapitel
  
  
  Elftes Kapitel
  Wilhelm hatte kaum einige Stücke Shakespeares gelesen, als ihre
  Wirkung auf ihn so stark wurde, daß er weiter fortzufahren nicht
  imstande war. Seine ganze Seele geriet in Bewegung. Er suchte
  Gelegenheit, mit Jarno zu sprechen, und konnte ihm nicht genug für die
  verschaffte Freude danken.
  "Ich habe es wohl vorausgesehen", sagte dieser, "daß Sie gegen die
  Trefflichkeiten des außerordentlichsten und wunderbarsten aller
  Schriftsteller nicht unempfindlich bleiben würden."
  "Ja", rief Wilhelm aus, "ich erinnere mich nicht, daß ein Buch, ein
  Mensch oder irgendeine Begebenheit des Lebens so große Wirkungen auf
  mich hervorgebracht hätte als die köstlichen Stücke, die ich durch
  Ihre Gütigkeit habe kennenlernen. Sie scheinen ein Werk eines
  himmlischen Genius zu sein, der sich den Menschen nähert, um sie mit
  sich selbst auf die gelindeste Weise bekannt zu machen. Es sind keine
  Gedichte! Man glaubt vor den aufgeschlagenen ungeheuren Büchern des
  Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens
  saust und sie mit Gewalt rasch hin und wider blättert. Ich bin über
  die Stärke und Zartheit, über die Gewalt und Ruhe so erstaunt und
  außer aller Fassung gebracht, daß ich nur mit Sehnsucht auf die Zeit
  warte, da ich mich in einem Zustande befinden werde, weiterzulesen."
  "Bravo", sagte Jarno, indem er unserm Freunde die Hand reichte und sie
  ihm drückte, "so wollte ich es haben! Und die Folgen, die ich hoffe,
  werden gewiß auch nicht ausbleiben."
  "Ich wünschte", versetzte Wilhelm, "daß ich Ihnen alles, was
  gegenwärtig in mit vorgeht, entdecken könnte. Alle Vorgefühle, die
  ich jemals über Menschheit und ihre Schicksale gehabt, die mich von
  Jugend auf, mir selbst unbemerkt, begleiteten, finde ich in
  Shakespeares Stücken erfüllt und entwickelt. Es scheint, als wenn er
  uns alle Rätsel offenbarte, ohne daß man doch sagen kann: hier oder da
  ist das Wort der Auflösung. Seine Menschen scheinen natürliche
  Menschen zu sein, und sie sind es doch nicht. Diese geheimnisvollsten
  und zusammengesetztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen
  Stücken, als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse man
  von Kristall gebildet hätte, sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf
  der Stunden an, und man kann zugleich das Räder- und Federwerk
  erkennen, das sie treibt. Diese wenigen Blicke, die ich in
  Shakespeares Welt getan, reizen mich mehr als irgend etwas andres, in
  der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun, mich in
  die Flut der Schicksale zu mischen, die über sie verhängt sind, und
  dereinst, wenn es mir glücken sollte, aus dem großen Meere der wahren
  Natur wenige Becher zu schöpfen und sie von der Schaubühne dem
  lechzenden Publikum meines Vaterlandes auszuspenden."
  "Wie freut mich die Gemütsverfassung, in der ich Sie sehe", versetzte
  Jarno und legte dem bewegten Jüngling die Hand auf die Schulter.
  "Lassen Sie den Vorsatz nicht fahren, in ein tätiges Leben überzugehen,
  und eilen Sie, die guten Jahre, die Ihnen gegönnt sind, wacker zu
  nutzen. Kann ich Ihnen behilflich sein, so geschieht es von ganzem
  Herzen. Noch habe ich nicht gefragt, wie Sie in diese Gesellschaft
  gekommen sind, für die Sie weder geboren noch erzogen sein können.
  Soviel hoffe ich und sehe ich, daß Sie sich heraussehnen. Ich weiß
  nichts von Ihrer Herkunft, von Ihren häuslichen Umständen; überlegen
  Sie, was Sie mir vertrauen wollen. Soviel kann ich Ihnen nur sagen,
  die Zeiten des Krieges, in denen wir leben, können schnelle Wechsel
  des Glückes hervorbringen; mögen Sie Ihre Kräfte und Talente unserm
  Dienste widmen, Mühe und, wenn es not tut, Gefahr nicht scheuen, so
  habe ich eben jetzo eine Gelegenheit, Sie an einen Platz zu stellen,
  den eine Zeitlang bekleidet zu haben Sie in der Folge nicht gereuen
  wird." Wilhelm konnte seinen Dank nicht genug ausdrücken und war
  willig, seinem Freunde und Beschützer die ganze Geschichte seines
  Lebens zu erzählen.
  Sie hatten sich unter diesem Gespräche weit in den Park verloren und
  waren auf die Landstraße, welche durch denselben ging, gekommen.
  Jarno stand einen Augenblick still und sagte: "Bedenken Sie meinen
  Vorschlag, entschließen Sie sich, geben Sie mir in einigen Tagen
  Antwort, und schenken Sie mir Ihr Vertrauen. Ich versichre Sie, es
  ist mir bisher unbegreiflich gewesen, wie Sie sich mit solchem Volke
  haben gemein machen können. Ich hab es oft mit Ekel und Verdruß
  gesehen, wie Sie, um nur einigermaßen leben zu können, Ihr Herz an
  einen herumziehenden Bänkelsänger und an ein albernes, zwitterhaftes
  Geschöpf hängen mußten."
  Er hatte noch nicht ausgeredet, als ein Offizier zu Pferde eilends
  herankam, dem ein Reitknecht mit einem Handpferd folgte. Jarno rief
  ihm einen lebhaften Gruß zu. Der Offizier sprang vom Pferde, beide
  umarmten sich und unterhielten sich miteinander, indem Wilhelm,
  bestürzt über die letzten Worte seines kriegerischen Freundes, in sich
  gekehrt an der Seite stand. Jarno durchblätterte einige Papiere, die
  ihm der Ankommende überreicht hatte; dieser aber ging auf Wilhelmen zu,
  reichte ihm die Hand und rief mit Emphase: "Ich treffe Sie in einer
  würdigen Gesellschaft; folgen Sie dem Rate Ihres Freundes, und
  erfüllen Sie dadurch zugleich die Wünsche eines Unbekannten, der
  herzlichen Teil an Ihnen nimmt." Er sprach's, umarmte Wilhelmen,
  drückte ihn mit Lebhaftigkeit an seine Brust. Zu gleicher Zeit trat
  Jarno herbei und sagte zu dem Fremden: "Es ist am besten, ich reite
  gleich mit Ihnen hinein, so können Sie die nötigen Ordres erhalten,
  und Sie reiten noch vor Nacht wieder fort." Beide schwangen sich
  darauf zu Pferde und überließen unsern verwunderten Freund seinen
  eigenen Betrachtungen.
  Die letzten Worte Jarnos klangen noch in seinen Ohren. Ihm war
  unerträglich, das Paar menschlicher Wesen, das ihm unschuldigerweise
  seine Neigung abgewonnen hatte, durch einen Mann, den er so sehr
  verehrte, so tief heruntergesetzt zu sehen. Die sonderbare Umarmung
  des Offiziers, den er nicht kannte, machte wenig Eindruck auf ihn, sie
  beschäftigte seine Neugierde und Einbildungskraft einen Augenblick;
  aber Jarnos Reden hatten sein Herz getroffen; er war tief verwundet,
  und nun brach er auf seinem Rückwege gegen sich selbst in Vorwürfe aus,
  daß er nur einen Augenblick die hartherzige Kälte Jarnos, die ihm aus
  den Augen heraussehe und aus allen seinen Gebärden spreche, habe
  verkennen und vergessen mögen. "Nein", rief er aus, "du bildest dir
  nur ein, du abgestorbener Weltmann, daß du ein Freund sein könntest!
  Alles, was du mir anbieten magst, ist der Empfindung nicht wert, die
  mich an diese Unglücklichen bindet. Welch ein Glück, daß ich noch
  beizeiten entdecke, was ich von dir zu erwarten hätte!"
  Er schloß Mignon, die ihm entgegenkam, in die Arme und rief aus: "Nein,
  uns soll nichts trennen, du gutes kleines Geschöpf! Die scheinbare
  Klugheit der Welt soll mich nicht vermögen, dich zu verlassen noch zu
  vergessen, was ich dir schuldig bin."
  Das Kind, dessen heftige Liebkosungen er sonst abzulehnen pflegte,
  erfreute sich dieses unerwarteten Ausdrucks der Zärtlichkeit und hing
  sich so fest an ihn, daß er es nur mit Mühe zuletzt loswerden konnte.
  Seit dieser Zeit gab er mehr auf Jarnos Handlungen acht, die ihm nicht
  alle lobenswürdig schienen; ja es kam wohl manches vor, das ihm
  durchaus mißfiel. So hatte er zum Beispiel starken Verdacht, das
  Gedicht auf den Baron, welches der arme Pedant so teuer hatte bezahlen
  müssen, sei Jarnos Arbeit. Da nun dieser in Wilhelms Gegenwart über
  den Vorfall gescherzt hatte, glaubte unser Freund hierin das Zeichen
  eines höchst verdorbenen Herzens zu erkennen; denn was konnte
  boshafter sein, als einen Unschuldigen, dessen Leiden man verursacht,
  zu verspotten und weder an Genugtuung noch Entschädigung zu denken.
  Gern hätte Wilhelm sie selbst veranlaßt, denn er war durch einen sehr
  sonderbaren Zufall den Tätern jener nächtlichen Mißhandlung auf die
  Spur gekommen.
  Man hatte ihm bisher immer zu verbergen gewußt, daß einige junge
  Offiziere im unteren Saale des alten Schlosses mit einem Teile der
  Schauspieler und Schauspielerinnen ganze Nächte auf eine lustige Weise
  zubrachten. Eines Morgens, als er nach seiner Gewohnheit früh
  aufgestanden, kam er von ungefähr in das Zimmer und fand die jungen
  Herren, die eine höchst sonderbare Toilette zu machen im Begriff
  stunden. Sie hatten in einen Napf mit Wasser Kreide eingerieben und
  trugen den Teig mit einer Bürste auf ihre Westen und Beinkleider, ohne
  sie auszuziehen, und stellten also die Reinlichkeit ihrer Garderobe
  auf das schnellste wieder her. Unserm Freunde, der sich über diese
  Handgriffe wunderte, fiel der weiß bestäubte und befleckte Rock des
  Pedanten ein; der Verdacht wurde um soviel stärker, als er erfuhr, daß
  einige Verwandte des Barons sich unter der Gesellschaft befänden.
  Um diesem Verdacht näher auf die Spur zu kommen, suchte er die jungen
  Herren mit einem kleinen Frühstücke zu beschäftigen. Sie waren sehr
  lebhaft und erzählten viele lustige Geschichten. Der eine besonders,
  der eine Zeitlang auf Werbung gestanden, wußte nicht genug die List
  und Tätigkeit seines Hauptmanns zu rühmen, der alle Arten von Menschen
  an sich zu ziehen und jeden nach seiner Art zu überlisten verstand.
  Umständlich erzählte er, wie junge Leute von gutem Hause und
  sorgfältiger Erziehung durch allerlei Vorspiegelungen einer
  anständigen Versorgung betrogen worden, und lachte herzlich über die
  Gimpel, denen es im Anfange so wohlgetan habe, sich von einem
  angesehenen, tapferen, klugen und freigebigen Offizier geschätzt und
  hervorgezogen zu sehen.
  Wie segnete Wilhelm seinen Genius, der ihm so unvermutet den Abgrund
  zeigte, dessen Rande er sich unschuldigerweise genähert hatte. Er sah
  nun in Jarno nichts als den Werber; die Umarmung des fremden Offiziers
  war ihm leicht erklärlich. Er verabscheuete die Gesinnungen dieser
  Männer und vermied von dem Augenblicke, mit irgend jemand, der eine
  Uniform trug, zusammenzukommen, und so wäre ihm die Nachricht, daß die
  Armee weiter vorwärtsrücke, sehr angenehm gewesen, wenn er nicht
  zugleich hätte fürchten müssen, aus der Nähe seiner schönen Freundin,
  vielleicht auf immer, verbannt zu werden.
  
  
  III. Buch, 12. Kapitel
  
  
  Zwölftes Kapitel
  Inzwischen hatte die Baronesse mehrere Tage, von Sorgen und einer
  unbefriedigten Neugierde gepeinigt, zugebracht. Denn das Betragen des
  Grafen seit jenem Abenteuer war ihr ein völliges Rätsel. Er war ganz
  aus seiner Manier herausgegangen; von seinen gewöhnlichen Scherzen
  hörte man keinen. Seine Forderungen an die Gesellschaft und an die
  Bedienten hatten sehr nachgelassen. Von Pedanterie und gebieterischem
  Wesen merkte man wenig, vielmehr war er still und in sich gekehrt,
  jedoch schien er heiter und wirklich ein anderer Mensch zu sein. Bei
  Vorlesungen, zu denen er zuweilen Anlaß gab, wählte er ernsthafte, oft
  religiöse Bücher, und die Baronesse lebte in beständiger Furcht, es
  möchte hinter dieser anscheinenden Ruhe sich ein geheimer Groll
  verbergen, ein stiller Vorsatz, den Frevel, den er so zufällig
  entdeckt, zu rächen. Sie entschloß sich daher, Jarno zu ihrem
  Vertrauten zu machen, und sie konnte es um so mehr, als sie mit ihm in
  einem Verhältnisse stand, in dem man sich sonst wenig zu verbergen
  pflegt. Jarno war seit kurzer Zeit ihr entschiedener Freund; doch
  waren sie klug genug, ihre Neigung und ihre Freuden vor der lärmenden
  Welt, die sie umgab, zu verbergen. Nur den Augen der Gräfin war
  dieser neue Roman nicht entgangen, und höchstwahrscheinlich suchte die
  Baronesse ihre Freundin gleichfalls zu beschäftigen, um den stillen
  Vorwürfen zu entgehen, welche sie denn doch manchmal von jener edlen
  Seele zu erdulden hatte.
  Kaum hatte die Baronesse ihrem Freunde die Geschichte erzählt, als er
  lachend ausrief: "Da glaubt der Alte gewiß, sich selbst gesehen zu
  haben! Er fürchtet, daß ihm diese Erscheinung Unglück, ja vielleicht
  gar den Tod bedeute, und nun ist er zahm geworden wie alle die
  Halbmenschen, wenn sie an die Auflösung denken, welcher niemand
  entgangen ist noch entgehen wird. Nur stille! Da ich hoffe, daß er
  noch lange leben soll, so wollen wir ihn bei dieser Gelegenheit
  wenigstens so formieren, daß er seiner Frau und seinen Hausgenossen
  nicht mehr zur Last sein soll."
  Sie fingen nun, sobald es nur schicklich war, in Gegenwart des Grafen
  an, von Ahnungen, Erscheinungen und dergleichen zu sprechen. Jarno
  spielte den Zweifler, seine Freundin gleichfalls, und sie trieben es
  so weit, daß der Graf endlich Jarno beiseite nahm, ihm seine
  Freigeisterei verwies und ihn durch sein eignes Beispiel von der
  Möglichkeit und Wirklichkeit solcher Geschichten zu überzeugen suchte.
  Jarno spielte den Betroffenen, Zweifelnden und endlich den
  überzeugten, machte sich aber gleich darauf in stiller Nacht mit
  seiner Freundin desto lustiger über den schwachen Weltmann, der nun
  auf einmal von seinen Unarten durch einen Popanz bekehrt worden und
  der nur noch deswegen zu loben sei, weil er mit so vieler Fassung ein
  bevorstehendes Unglück, ja vielleicht gar den Tod erwarte.
  "Auf die natürlichste Folge, welche diese Erscheinung hätte haben
  können, möchte er doch wohl nicht gefaßt sein", rief die Baronesse mit
  ihrer gewöhnlichen Munterkeit, zu der sie, sobald ihr eine Sorge vom
  Herzen genommen war, gleich wieder übergehen konnte. Jarno ward
  reichlich belohnt, und man schmiedete neue Anschläge, den Grafen noch
  mehr kirre zu machen und die Neigung der Gräfin zu Wilhelm noch mehr
  zu reizen und zu bestärken.
  In dieser Absicht erzählte man der Gräfin die ganze Geschichte, die
  sich zwar anfangs unwillig darüber zeigte, aber seit der Zeit
  nachdenklicher ward und in ruhigen Augenblicken jene Szene, die ihr
  zubereitet war, zu bedenken, zu verfolgen und auszumalen schien.
  Die Anstalten, welche nunmehr von allen Seiten getroffen wurden,
  ließen keinen Zweifel mehr übrig, daß die Armeen bald vorwärtsrücken
  und der Prinz zugleich sein Hauptquartier verändern würde; ja es hieß,
  daß der Graf zugleich auch das Gut verlassen und wieder nach der Stadt
  zurückkehren werde. Unsere Schauspieler konnten sich also leicht die
  Nativität stellen; doch nur der einzige Melina nahm seine Maßregeln
  darnach, die andern suchten nur noch von dem Augenblicke soviel als
  möglich das Vergnüglichste zu erhaschen.
  Wilhelm war indessen auf eine eigene Weise beschäftigt. Die Gräfin
  hatte von ihm die Abschrift seiner Stücke verlangt, und er sah diesen
  Wunsch der liebenswürdigen Frau als die schönste Belohnung an.
  Ein junger Autor, der sich noch nicht gedruckt gesehn, wendet in einem
  solchen Falle die größte Aufmerksamkeit auf eine reinliche und
  zierliche Abschrift seiner Werke. Es ist gleichsam das goldne
  Zeitalter der Autorschaft; man sieht sich in jene Jahrhunderte
  versetzt, in denen die Presse noch nicht die Welt mit so viel unnützen
  Schriften überschwemmt hatte; wo nur würdige Geistesprodukte
  abgeschrieben und von den edelsten Menschen verwahrt wurden; und wie
  leicht begeht man alsdann den Fehlschluß, daß ein sorgfältig
  abgezirkeltes Manuskript auch ein würdiges Geistesprodukt sei, wert,
  von einem Kenner und Beschützer besessen und aufgestellt zu werden.
  Man hatte zu Ehren des Prinzen, der nun in kurzem abgehen sollte, noch
  ein großes Gastmahl angestellt. Viele Damen aus der Nachbarschaft
  waren geladen, und die Gräfin hatte sich beizeiten angezogen. Sie
  hatte diesen Tag ein reicheres Kleid angelegt, als sie sonst zu tun
  gewohnt war. Frisur und Aufsatz waren gesuchter, sie war mit allen
  ihren Juwelen geschmückt. Ebenso hatte die Baronesse das mögliche
  getan, um sich mit Pracht und Geschmack anzukleiden.
  Philine, als sie merkte, daß den beiden Damen in Erwartung ihrer Gäste
  die Zeit zu lang wurde, schlug vor, Wilhelmen kommen zu lassen, der
  
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