Vor Sonnenaufgang: Soziales Drama - 4

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Frau Krause. Sp...illern, die Moa'd sss... sool dooblei'n.
Der Vorhang fällt schnell.


Dritter Akt.

Zeit: wenige Minuten nach dem Vorfall zwischen Helene und ihrer
Stiefmutter im Hofe. Der Schauplatz ist der des ersten Vorgangs.
_Dr. Schimmelpfennig_ sitzt, ein Recept schreibend, Schlapphut,
Zwirnhandschuhe und Stock vor sich auf der Tischplatte, an dem
Tisch links im Vordergrunde. Er ist von Gestalt klein und
gedrungen, hat schwarzes Wollhaar und einen ziemlich starken
Schnurrbart. Schwarzer Rock im Schnitt der Jägerschen
Normalröcke. Die Kleidung im Ganzen solid, aber nicht elegant.
Hat die Gewohnheit, fast ununterbrochen seinen Schnurrbart zu
streichen oder zu drehen, um so stärker, je erregter er innerlich
wird. Sein Gesichtsausdruck, wenn er mit Hoffmann redet, ist
gezwungen ruhig, ein Zug von Sarkasmus liegt um seine Mundwinkel.
Seine Bewegungen sind lebhaft, fest und eckig, durchaus
natürlich. Hoffmann, in seidenem Schlafrock und Pantoffeln, geht
umher. Der Tisch rechts im Hintergrunde ist zum Frühstück
hergerichtet. Feines Porzellan. Gebäck. Rumcaraffe etc.
Hoffmann. Herr Doktor, sind Sie mit dem Aussehen meiner Frau zufrieden?
Dr. Schimmelpfennig. Sie sieht ja ganz gut aus, warum nicht.
Hoffmann. Denken Sie, daß alles gut vorüber gehen wird?
Dr. Schimmelpfennig. Ich hoffe.
Hoffmann (nach einer Pause, zögernd). Herr Doktor, ich habe mir
vorgenommen -- schon seit Wochen -- Sie, sobald ich hierher käme, in
einer ganz bestimmten Sache um Ihren Rath zu bitten.
Dr. Schimmelpfennig, (der bis jetzt unter dem Schreiben geantwortet hat,
legt die Feder beiseite, steht auf und übergiebt Hoffmann das
geschriebene Recept). So! ... das lassen Sie wohl bald machen; -- (indem
er Hut, Handschuhe und Stock nimmt) -- über Kopfschmerz klagt Ihre Frau,
-- (in seinen Hut blickend, geschäftsmäßig) -- ehe ich es vergesse:
suchen Sie doch Ihrer Frau begreiflich zu machen, daß sie für das
kommende Lebewesen einigermaßen verantwortlich ist. Ich habe ihr bereits
selbst einiges gesagt -- über die Folgen des Schnürens.
Hoffmann. Ganz gewiß, Herr Doktor ... ich will ganz gewiß mein
Möglichstes thun, ihr ...
Dr. Schimmelpfennig (sich ein wenig linkisch verbeugend). Empfehle mich.
(Geht, bleibt wieder stehen.) Ach so! ... Sie wollten ja meinen Rath
hören. (Er blickt Hoffmann kalt an.)
Hoffmann. Ja, wenn Sie noch einen Augenblick Zeit hätten ... (Nicht ohne
Affectirtheit.) Sie kennen das entsetzliche Ende meines ersten Jungen.
Sie haben es ja ganz aus der Nähe gesehen. Wie weit _ich_ damals war,
wissen Sie ja wohl auch. -- Man glaubt es nicht, dennoch: die Zeit
mildert! ... Schließlich habe ich sogar noch Grund zur Dankbarkeit, mein
sehnlichster Wunsch soll, wie es scheint, erfüllt werden. Sie werden
begreifen, daß ich alles thun muß ... Es hat mich schlaflose Nächte
genug gekostet und doch weiß ich noch nicht, noch _immer_ nicht, wie ich
es anstellen soll, um das jetzt noch ungeborene Geschöpf vor dem
furchtbaren Schicksale seines Brüderchens zu bewahren. Und das ist es,
weshalb ich Sie ...
Dr. Schimmelpfennig (trocken und geschäftsmäßig). Von seiner Mutter
trennen: Grundbedingung einer gedeihlichen Entwickelung.
Hoffmann. Also doch?! -- Meinen Sie, völlig trennen? ... Soll es auch
nicht in demselben Hause mit ihr ...?
Dr. Schimmelpfennig. Nein, wenn es Ihnen ernst ist um die Erhaltung
Ihres Kindes, dann nicht. Ihr Vermögen gestattet Ihnen ja in dieser
Beziehung die freieste Bewegung.
Hoffmann. Gott sei Dank, ja! Ich habe auch schon in der Nähe von
Hirschberg eine Villa mit sehr großem Park angekauft. Nur wollte ich
auch meine Frau ...
Dr. Schimmelpfennig (dreht seinen Bart und starrt auf die Erde. Unter
Nachdenken.) Kaufen Sie doch Ihrer Frau irgend wo anders eine Villa ...
Hoffmann (zuckt die Achseln).
Dr. Schimmelpfennig (wie vorher). Können Sie nicht -- Ihre Schwägerin --
für die Aufgabe, dieses Kind zu erziehen, interessiren?
Hoffmann. Wenn Sie wüßten, Herr Doktor, was für Hindernisse ...
außerdem: ein unerfahrenes, junges Ding ... Mutter ist doch Mutter.
Dr. Schimmelpfennig. Sie wissen meine Meinung. Empfehle mich.
Hoffmann (mit Ueberfreundlichkeit um ihn herum complimentirend).
Empfehle mich ebenfalls! Ich bin Ihnen äußerst dankbar ...
Beide ab durch die Mittelthür.
_Helene_, das Taschentuch vor den Mund gepreßt, schluchzend,
außer sich, kommt herein und läßt sich auf das Sopha links vorn
hinfallen. Nach einigen Augenblicken tritt Hoffmann,
Zeitungsblätter in den Händen haltend, abermals ein.
Hoffmann. Was ist denn _das_ --? Sag' mal, Schwägerin! soll denn das
noch lange so fort gehen? -- Seit ich hier bin, vergeht nicht ein Tag,
an dem ich Dich nicht weinen sehe.
Helene. Ach! -- was weißt Du!? -- Wenn Du überhaupt Sinn für so was
hätt'st, dann würd'st Du Dich vielmehr wundern, wenn ich mal nicht
weinte.
Hoffmann. -- Das leuchtet mir nicht ein, Schwägerin!
Helene. Mir um so mehr!
Hoffmann. ... Es muß doch wieder was passirt sein, hör' mal!
Helene (springt auf, stampft mit dem Fuße). Pfui! Pfui! ... und ich
mag's nicht mehr leiden ... Das hört auf! Ich lasse mir das nicht mehr
bieten! Ich sehe nicht ein warum ... ich ... (im Weinen erstickend).
Hoffmann. Willst Du mir denn nicht wenigstens sagen, worum sich's
handelt, damit ...
Helene (auf's Neue heftig ausbrechend). Alles ist mir egal! Schlimmer
kann's nicht kommen: -- einen Trunkenbold von Vater hat man, ein Thier
-- vor dem die .... die eigene Tochter nicht sicher ist. -- Eine
ehebrecherische Stiefmutter, die mich an ihren Galan verkuppeln möchte
.. Dieses ganze Dasein überhaupt. -- Nein --! ich sehe nicht ein, wer
mich zwingen kann, durchaus schlecht zu werden. Ich gehe fort! Ich renne
fort -- und wenn Ihr mich nicht loslaßt, dann .... Strick, Messer,
Revolver! .... mir egal! -- ich will nicht auch zum Branntwein greifen
wie meine Schwester.
Hoffmann (erschrocken, packt sie am Arm). Lene! .... Ich sag' Dir,
still! ... davon still!
Helene. Mir egal! .... mir ganz egal! -- Man ist ... man muß sich
schämen bis in die Seele 'nein. -- Man möchte was wissen, was sein, was
sein können -- und was ist man nu?
Hoffmann, (der ihren Arm noch nicht wieder losgelassen, fängt an, das
Mädchen allmählich nach dem Sopha hinzudrängen. Im Tone seiner Stimme
liegt nun plötzlich eine weichliche, übertriebene, gleichsam vibrirende
Milde.) _Lenchen_ --! Ich weiß ja recht gut, daß Du hier manches
auszustehen hast. Sei nur ruhig ...! Brauchst es mir gar nicht zu sagen.
(Er legt die Rechte liebkosend auf ihre Schulter, bringt sein Gesicht
nahe dem ihren.) Ich kann Dich gar nicht weinen sehen. Wahrhaftig! -- 's
thut mir weh. Sieh doch nur aber die Verhältnisse nicht schwärzer, als
sie sind --; und dann: -- hast Du vergessen, daß wir beide -- Du und ich
-- so zu sagen in der gleichen Lage sind? -- Ich bin in diese
Bauernatmosphäre hinein gekommen .... passe ich hinein? Genau so wenig
wie Du hoffentlich.
Helene (immer noch weinend). Hätte mein -- gutes -- M -- Muttelchen das
geahnt -- als sie .... als sie bestimmte -- daß ich in Herrnhut --
erzogen .... erzogen werden sollte. Hätte sie -- mich lieber ... mich
lieber zu Hause gelassen, dann hätte ich ... hätte ich wenigstens --
nichts Anderes kennen gelernt, wäre in dem Sumpf hier auf....
aufgewachsen --. Aber so ...
Hoffmann (hat Helene sanft auf das Sopha gezwungen und sitzt nun, eng an
sie gedrängt, neben ihr. Immer auffälliger verräth sich in seinen
Tröstungen das sinnliche Element.) Lenchen --! Sieh mich an, laß das gut
sein, tröste Dich mit mir. -- Ich brauch' Dir von Deiner Schwester nicht
zu sprechen. (Heiß und mit Innigkeit, indem er sie enger umschlingt.)
Ja, wäre sie wie _Du_ bist! ... So aber ... sag' selbst: was kann _sie_
mir sein? -- Wo lebt ein Mann, Lenchen, ein gebildeter Mann, -- (leiser)
-- dessen Frau von einer so unglückseligen Leidenschaft befallen ist? --
Man darf es gar nicht laut sagen: eine Frau -- und -- Branntwein ...
Nun, sprich, bin ich glücklicher? .... Denk an mein Fritzchen! -- Nun?
... bin ich am Ende besser dran, wie? ... (Immer leidenschaftlicher.)
Siehst Du: so hat's das Schicksal schließlich noch gut gemeint. Es hat
uns zu einander gebracht. -- Wir gehören für einander! Wir sind zu
Freunden voraus bestimmt, mit unsren gleichen Leiden. Nicht, Lenchen?
(Er umschlingt sie ganz. Sie läßt es geschehen, aber mit einem Ausdruck,
der besagt, daß sie sich zum Dulden zwingt. Sie ist still geworden und
scheint mit zitternder Spannung etwas zu erwarten, irgend eine
Gewißheit, eine Erfüllung, die unfehlbar herankommt.)
Hoffmann (zärtlich). Du solltest meinem Vorschlag folgen, solltest dies
Haus verlassen, bei uns wohnen. -- Das Kindchen, das kommt, braucht eine
Mutter. -- Komm! sei Du ihm das; -- (leidenschaftlich gerührt,
sentimental) -- sonst hat es eben keine Mutter. Und dann: -- bring ein
wenig, nur ein ganz, ganz klein wenig Licht in mein Leben. _Thuu's! --
thu -- 's!_ (Er will seinen Kopf an ihre Brust lehnen. Sie springt auf,
empört. In ihren Mienen verräth sich Verachtung, Ueberraschung, Ekel,
Haß.)
Helene. Schwager! Du bist, Du bist ... Jetzt kenn ich Dich durch und
durch. Bisher hab ich's nur so dunkel gefühlt. Jetzt weiß ich's ganz
gewiß.
Hoffmann (überrascht, fassungslos). Was ...? Helene ... -- einzig,
wirklich.
Helene. Jetzt weiß ich ganz gewiß, daß Du nicht um ein Haar besser bist
.... was denn! schlechter bist Du, der schlecht'ste von allen hier!
Hoffmann (steht auf, mit angenommener Kälte). Dein Betragen heut ist
sehr eigenthümlich, weißt Du!
Helene (tritt nahe zu ihm). Du gehst doch nur auf das eine Ziel los.
(Halblaut in sein Ohr.) Aber Du hast ganz andere Waffen als Vater und
Stiefmutter oder der ehrenfeste Herr Bräutigam, ganz andere. Gegen Dich
gehalten sind sie Lämmer, alle mit 'nander. Jetzt, jetzt auf einmal,
jetzt eben ist mir das sonnenklar geworden.
Hoffmann (in erheuchelter Entrüstung). Lene! Du bist .... Du bist nicht
bei Trost, das ist ja heller Wahn.... (Er unterbricht sich, schlägt sich
vor den Kopf.) Gott, wie wird mir denn auf einmal, natürlich! ... Du
hast .... es ist freilich noch sehr früh am Tage, aber ich wette, Du
hast .... Helene, Du hast heut früh schon mit Alfred Loth geredet.
Helene. Weshalb sollte ich denn nicht mit ihm geredet haben? Es ist ein
Mann, vor dem wir uns alle verstecken müßten vor Scham, wenn es mit
rechten Dingen zuginge.
Hoffmann. Also wirklich! ... Ach sooo! .... na jaaa! .. allerdings ...
da darf ich mich weiter nicht wundern -- So, so, so, hat also die
Gelegenheit benützt, über seinen Wohlthäter 'n bischen herzuziehen. Man
sollte immer auf dergleichen gefaßt sein, freilich!
Helene. Schwager! das ist nun geradezu _gemein_.
Hoffmann. Finde ich beinah auch!
Helene. Kein Sterbenswort, nicht ein Sterbenswort hat er gesagt über
Dich.
Hoffmann (ohne darauf einzugehen). Wenn die Sachen _so_ liegen, dann ist
es geradezu meine Pflicht, ich sage, meine Pflicht, als Verwandter,
einem so unerfahrenen Mädchen gegenüber wie Du bist .....
Helene. Unerfahrenes Mädchen --? Wie Du mir vorkommst!
Hoffmann (aufgebracht). Auf meine Verantwortung ist Loth hier in's Haus
gekommen. Nun mußt Du wissen: -- er ist -- gelinde gesprochen -- ein
höchst ge--fähr--licher Schwärmer, dieser Herr Loth.
Helene. Daß Du das von Herrn Loth sagst, hat für mich so etwas --
Verkehrtes -- etwas lächerlich Verkehrtes.
Hoffmann. Ein Schwärmer, der die Gabe hat, nicht nur Weibern, sondern
auch _vernünftigen_ Leuten die Köpfe zu verwirren.
Helene. Siehst Du: _wieder_ so eine Verkehrtheit! Mir ist es nach den
wenigen Worten, die ich mit Herrn Loth geredet habe, so wohlthuend klar
im Kopfe ....
Hoffmann (im Tone eines Verweises). Was ich Dir sage, ist durchaus
nichts Verkehrtes.
Helene. Man muß für das Verkehrte einen Sinn haben, und den hast Du eben
nicht.
Hoffmann (wie vorher). Davon ist jetzt nicht die Rede. Ich erkläre Dir
nochmals, daß ich Dir nichts Verkehrtes sage, sondern etwas, was ich
Dich bitten muß, als thatsächlich wahr hinzunehmen .... Ich habe es an
mir erfahren: er benebelt einem den Kopf, und dann schwärmt man von
Völkerverbrüderung, von Freiheit und Gleichheit, setzt sich über Sitte
und Moral hinweg .... Wir wären damals um dieser Hirngespinste willen --
weiß der Himmel -- über die Leichen unserer Eltern hinweggeschritten, um
zum Ziele zu gelangen. Und er, sage ich Dir, würde erforderlichen Falls
noch heute dasselbe thun.
Helene. Wie viele Eltern mögen wohl alljährlich über die Leichen ihrer
Kinder schreiten, ohne daß Jemand ....
Hoffmann (ihr in die Rede fallend). Das ist Unsinn! Da hört _alles_ auf!
... Ich sage Dir, nimm Dich vor ihm in Acht, in jeder .... ich sage ganz
ausdrücklich, in _jeder_ Beziehung. -- Von moralischen Skrupeln ist da
keine Spur.
Helene. Ne, wie verkehrt dies nun wieder ist. Glaub' mir, Schwager,
fängt man erst mal an d'rauf zu achten .... es ist so schrecklich
interessant .....
Hoffmann. Sag' doch, was Du willst, gewarnt bist Du nun. Ich will Dir
nur noch ganz im Vertrauen mittheilen: ein Haar, und ich wäre damals
durch ihn und mit ihm greulich in die Tinte gerathen.
Helene. Wenn dieser Mensch so gefährlich ist, warum freutest Du Dich
denn gestern so aufrichtig, als ....
Hoffmann. Gott ja, er ist eben ein Jugendbekannter! Weißt Du denn, ob
nicht ganz bestimmte Gründe vorlagen ....
Helene. Gründe? Wie denn?
Hoffmann. Nur so. -- Käme er allerdings heut und wüßte ich, was ich
jetzt weiß --
Helene. Was weißt Du denn nur? Ich sagte Dir doch bereits, er hat kein
Sterbenswort über Dich verlauten lassen.
Hoffmann. -- Verlaß Dich d'rauf! Ich hätte mir's zweimal überlegt und
mich wahrscheinlich sehr in Acht genommen, ihn hier zu behalten. Loth
ist und bleibt 'n Mensch, dessen Umgang compromittirt. Die Behörden
haben ihn im Auge.
Helene. Ja, hat er denn ein Verbrechen begangen?
Hoffmann. Sprechen wir lieber darüber nicht. Laß es Dir genug sein,
Schwägerin, wenn ich Dir die Versicherung gebe: mit Ansichten, wie er
sie hat, in der Welt umherzulaufen, ist heutzutage weit schlimmer und
vor allem gefährlicher als stehlen.
Helene. Ich will's mir merken. -- Nun aber -- Schwager! hörst Du? Frag'
mich nicht -- wie ich nach Deinen Reden über Herrn Loth noch von _Dir_
denke. -- Hörst Du?
Hoffmann (cynisch kalt). Denkst Du denn wirklich, daß mir so ganz
besonders viel daran liegt das zu wissen? (Er drückt den Klingelknopf.)
Uebrigens höre ich ihn da eben hereinkommen.
Loth tritt ein.
Hoffmann. Nun --? gut geschlafen, alter Freund?
Loth. Gut, aber nicht lange. Sag' doch mal: ich sah da vorhin Jemand aus
dem Haus kommen, einen Herrn.
Hoffmann. Vermuthlich der Doktor, der soeben hier war. Ich erzählte Dir
ja ... dieser eigenthümliche Mischmasch von Härte und Sentimentalität.
Helene verhandelt mit Eduard, der eben eingetreten ist. Er geht
ab und servirt kurz darauf Thee und Kaffee.
Loth. Dieser Mischmasch, wie Du Dich ausdrückst, sah nämlich einem alten
Universitätsfreunde von mir furchtbar ähnlich -- ich hätte schwören
können, daß er es sei -- einem gewissen Schimmelpfennig.
Hoffmann (sich am Frühstückstisch niederlassend). Nu ja, ganz recht:
Schimmelpfennig!
Loth. Ganz recht? Was?
Hoffmann. Er heißt in der That Schimmelpfennig.
Loth. Wer? Der Doktor hier?
Hoffmann. Du sagtest es doch eben. Ja, der Doktor.
Loth. Dann .... das ist aber auch wirklich wunderlich! Unbedingt ist
er's dann.
Hoffmann. Siehst Du wohl, schöne Seelen finden sich zu Wasser und zu
Lande. Du nimmst mir's nicht übel, wenn ich anfange; wir wollten uns
nämlich gerade zum Frühstück setzen. Bitte, nimm Platz! Du hast doch
wohl nicht schon irgendwo gefrühstückt?
Loth. Nein!
Hoffmann. Nun dann, also. (Er rückt, selbst sitzend, Loth einen Stuhl
zurecht. Hierauf zu Eduard, der mit Thee und Kaffee kommt.) Ae! wird ..
e .. meine Frau Schwiegermama nicht kommen?
Eduard. Die gnädige Frau und Frau Spiller werden auf ihrem Zimmer
frühstücken.
Hoffmann. Das ist aber doch noch nie ....
Helene (das Service zurechtrückend). Laß nur! Es hat seinen Grund.
Hoffmann. Ach so .. Loth! lang' zu .... ein Ei? Thee?
Loth. Könnte ich vielleicht lieber ein Glas Milch bekommen?
Hoffmann. Mit dem größten Vergnügen.
Helene. Eduard! Miele soll frisch einmelken.
Hoffmann (schält ein Ei ab). Milch -- brrr! mich schüttelt's. (Salz und
Pfeffer nehmend.) Sag' mal, Loth, was führt Dich eigentlich in unsre
Gegend? Ich hab' bisher ganz vergessen, Dich danach zu fragen.
Loth (bestreicht eine Semmel mit Butter). Ich möchte die hiesigen
Verhältnisse studiren.
Hoffmann (mit einem Aufblick). Bitte ...? ... was für Verhältnisse?
Loth. Präcise gesprochen: ich will die Lage der hiesigen Bergleute
studiren.
Hoffmann. Ach, die ist im Allgemeinen doch eine sehr gute.
Loth. Glaubst Du? -- Das wäre ja übrigens recht schön .... Doch eh ich's
vergesse: Du mußt mir dabei einen Dienst leisten. Du kannst Dich um die
Volkswirthschaft sehr verdient machen, wenn ....
Hoffmann. Ich? I! wieso ich?
Loth. Nun, Du hast doch den Verschleiß der hiesigen Gruben?
Hoffmann. Ja! und was dann?
Loth. Dann wird es Dir auch ein Leichtes sein, mir die Erlaubniß zur
Besichtigung der Gruben auszuwirken. Das heißt: ich will mindestens vier
Wochen lang täglich einfahren, damit ich den Betrieb einigermaßen kennen
lerne.
Hoffmann (leichthin). Was Du da unten zu sehen bekommst, willst Du dann
wohl schildern?
Loth. Ja. Meine Arbeit soll vorzugsweise eine descriptive werden.
Hoffmann. Das thut mir nun wirklich leid, mit der Sache habe ich gar
nichts zu thun. -- Du willst bloß über die Bergleute schreiben, wie?
Loth. Aus dieser Frage hört man, daß Du kein Volkswirthschaftler bist.
Hoffmann (in seinem Dünkel gekränkt). Bitte _sehr_ um Entschuldigung! Du
wirst mir wohl zutrauen ..... Warum? Ich sehe nicht ein, wieso man diese
Frage nicht thun kann? -- und schließlich: es wäre kein Wunder ....
Alles kann man nicht wissen.
Loth. Na, beruhige Dich nur, die Sache ist einfach die: wenn ich die
Lage der hiesigen Bergarbeiter studiren will, so ist es unumgänglich,
auch alle die Verhältnisse, welche diese Lage bedingen, zu berühren.
Hoffmann. In solchen Schriften wird mitunter schauderhaft übertrieben.
Loth. Von diesem Fehler gedenke ich mich frei zu halten.
Hoffmann. Das wird sehr löblich sein. (Er hat bereits mehrmals und jetzt
wiederum mit einem kurzen und prüfenden Blick Helenen gestreift, die mit
naiver Andacht an Loth's Lippen hängt, und fährt nun fort.) Doch .... es
ist urkomisch, wie einem so was ganz urplötzlich in den Sinn kommt. Wie
so was im Gehirn nur vor sich gehen mag?
Loth. Was ist Dir denn auf einmal in den Sinn gekommen?
Hoffmann. Es betrifft Dich. -- Ich dachte an Deine Ver..... nein, es ist
am Ende tactlos, in Gegenwart von einer jungen Dame von Deinen
Herzensgeheimnissen zu reden.
Helene. Ja, dann will ich doch lieber ....
Loth. Bitte sehr, Fräulein! .. _bleiben_ Sie ruhig, meinetwegen
wenigstens -- ich merke längst, worauf er hinaus will. Ist auch durchaus
nichts Gefährliches. (Zu Hoffmann.) Meine Verlobung, nicht wahr?
Hoffmann. Wenn Du selbst darauf kommst, ja! -- Ich dachte in der That an
Deine Verlobung mit Anna Faber.
Loth. Die ging auseinander -- naturgemäß -- als ich damals in's
Gefängniß mußte.
Hoffmann. Das war aber nicht hübsch von Deiner .....
Loth. Es war jedenfalls ehrlich von ihr! Ihr Absagebrief enthielt ihr
wahres Gesicht; hätte sie mir dies Gesicht früher gezeigt, dann hätte
sie sich selbst und auch mir manches ersparen können.
Hoffmann. Und seither hat Dein Herz nicht irgendwo festgehakt?
Loth. Nein.
Hoffmann. Natürlich! Nun: Büchse in's Korn geworfen -- heirathen
verschworen! verschworen wie den Alkohol! Was? Uebrigens _chacun à son
goût_.
Loth. Mein Geschmack ist es eben nicht, aber vielleicht mein Schicksal.
Auch habe ich Dir, soviel ich weiß, bereits einmal gesagt, daß ich in
Bezug auf das Heirathen nichts verschworen habe; was ich fürchte, ist:
daß es keine Frau geben wird, die sich für mich eignet.
Hoffmann. Ein großes Wort, Lothchen!
Loth. Im Ernst! -- Mag sein, daß man mit den Jahren zu kritisch wird und
zu wenig gesunden Instinkt besitzt. Ich halte den Instinkt für die beste
Garantie einer geeigneten Wahl.
Hoffmann (frivol). Der wird sich schon noch mal wiederfinden --
(lachend) -- der Instinkt nämlich.
Loth. -- Schließlich, was kann ich einer Frau bieten? Ich werde immer
mehr zweifelhaft, ob ich einer Frau zumuthen darf, mit dem kleinen
Theile meiner Persönlichkeit vorlieb zu nehmen, der nicht meiner
Lebensarbeit gehört -- dann fürchte ich mich auch vor der Sorge um die
Familie.
Hoffmann. Wa... was? -- vor der Sorge um die Familie? Kerl! hast Du denn
nicht Kopf, Arme, he?
Loth. Wie Du siehst. Aber ich sagte Dir ja schon, meine Arbeitskraft
gehört zum größten Theil meiner Lebensaufgabe und wird ihr immer zum
größten Theil gehören: sie ist also nicht mehr mein. Ich hätte außerdem
mit ganz besonderen Schwierigkeiten ....
Hoffmann. Pst! klingelt da nicht Jemand?
Loth. Du hältst das für Phrasengebimmel?
Hoffmann. Ehrlich gesprochen, es klingt etwas hohl! Unser einer ist
schließlich auch kein Buschmann, trotzdem man verheirathet ist. Gewisse
Menschen geberden sich immer, als ob sie ein Privilegium auf alle in der
Welt zu vollbringenden guten Thaten hätten.
Loth (heftig). Gar nicht! -- denk ich gar nicht d'ran! -- Wenn Du von
Deiner Lebensaufgabe nicht abgekommen wärst, so würde das an Deiner
glücklichen materiellen Lebenslage mitliegen.
Hoffmann (mit Ironie). Dann wäre das wohl auch eine Deiner Forderungen.
Loth. Wie? Forderungen? was?
Hoffmann. Ich meine: Du würdest bei einer Heirath auf Geld sehen.
Loth. Unbedingt.
Hoffmann. Und dann giebt es -- wie ich Dich kenne -- noch eine lange
Zaspel anderer Forderungen.
Loth. Sind vorhanden! Leibliche und geistige Gesundheit der Braut zum
Beispiel ist _conditio sine qua non_.
Hoffmann (lachend). Vorzüglich! Dann wird ja wohl vorher eine ärztliche
Untersuchung der Braut nothwendig werden. -- Göttlicher Hecht!
Loth (immer ernst). Ich stelle aber auch an mich Forderungen, mußt Du
nehmen.
Hoffmann (immer heiterer). Ich weiß, weiß! ... wie Du mal die Literatur
über Liebe durchgingst, um auf das Gewissenhafteste festzustellen ob
das, was Du damals für irgend eine Dame empfandest, auch wirklich Liebe
sei. Also sag' doch mal noch einige Deiner Forderungen.
Loth. Meine Frau müßte zum Beispiel entsagen können.
Helene. -- Wenn ... wenn .... Ach! ich will lieber nicht reden ... ich
wollte nur sagen: die Frau ist doch im Allgemeinen an's Entsagen
gewöhnt.
Loth. Um's Himmels willen! Sie verstehen mich durchaus falsch. So ist
das Entsagen nicht gemeint. Nur in sofern verlange ich Entsagung, oder
besser, nur auf den Theil meines Wesens, der meiner Lebensaufgabe
gehört, müßte sie freiwillig und mit Freuden verzichten. Nein, nein! im
Übrigen soll meine Frau fordern und immer fordern -- alles was ihr
Geschlecht im Laufe der Jahrtausende eingebüßt hat.
Hoffmann. Au! au! au! ... Frauenemancipation! -- wirklich Deine
Schwenkung war bewunderungswürdig -- nun bist Du im rechten Fahrwasser.
Fritz Loth, oder der Agitator in der Westentasche! ... Wie würdest Du
denn hierin Deine Forderungen formuliren, oder besser: wie weit müßte
Deine Frau emancipirt sein? -- Es amüsirt mich wirklich Dich anzuhören
-- Cigarren rauchen? Hosen tragen?
Loth. Das nun weniger -- aber -- sie müßte allerdings über gewisse
gesellschaftliche Vorurtheile hinaus sein. Sie müßte zum Beispiel nicht
davor zurückschrecken zuerst -- falls sie nämlich wirklich Liebe zu mir
empfände -- das bewußte Bekenntniß abzulegen.
Hoffmann (ist mit frühstücken zu Ende. Springt auf, in halb ernster,
halb komischer Entrüstung.) Weißt Du? das ... das ist ... eine geradezu
_unverschämte_ Forderung! mit der Du allerdings auch -- wie ich Dir
hiermit prophezeihe -- wenn Du nicht etwa vorziehst sie fallen zu
lassen, bis an Dein Lebensende herumlaufen wirst.
Helene (mit schwer bewältigter, innerer Erregung). Ich bitte die Herren
mich jetzt zu entschuldigen -- die Wirthschaft ... Du weißt, Schwager:
Mama ist in der Stube und da ...
Hoffmann. Laß Dich nicht abhalten.
Helene verbeugt sich; ab.
Hoffmann (mit dem Streichholzetui nach dem Cigarrenkistchen, das auf dem
Buffet steht, zuschreitend). Das muß wahr sein ... Du bringst einen in
Hitze, ... ordentlich unheimlich. (Nimmt eine Cigarre aus der Kiste und
läßt sich dann auf das Sopha links vorn nieder. Er schneidet die Spitze
der Cigarre ab und hält während des Folgenden die Cigarre in der linken,
das abgetrennte Spitzchen zwischen den Fingern der rechten Hand.) Bei
alledem ... es amüsirt doch. Und dann: Du glaubst nicht, wie wohl es
thut, so'n paar Tage auf dem Lande, abseit von den Geschäften,
zuzubringen. Wenn nur nicht heute dies verwünschte ... wie spät ist es
denn eigentlich? Ich muß nämlich leider Gottes heute zu einem Essen nach
der Stadt. -- Es war unumgänglich: dies Diner mußte ich geben. Was soll
man machen als Geschäftsmann? -- Eine Hand wäscht die andere. Die
Bergbeamten sind nun mal d'ran gewöhnt. -- Na! eine Cigarre kann man
noch rauchen -- in aller Gemüthsruhe. (Er trägt das Spitzchen nach dem
Spucknapf, läßt sich dann abermals auf das Sopha nieder und setzt seine
Cigarre in Brand.)
Loth (am Tisch; blättert stehend in einem Prachtwerk). Die Abenteuer des
Grafen Sandor.
Hoffmann. Diesen Unsinn findest Du hier bei den meisten Bauern
aufliegen.
Loth (unter dem Blättern). Wie alt ist eigentlich Deine Schwägerin?
Hoffmann. Im August einundzwanzig gewesen.
Loth. Ist sie leidend?
Hoffmann. Weiß nicht. - Glaube übrigens nicht -- macht sie Dir den
Eindruck? --
Loth. Sie sieht allerdings mehr verhärmt als krank aus.
Hoffmann. Na ja! die Scheerereien mit der Stiefmutter ...
Loth. Auch ziemlich reizbar scheint sie zu sein!?
Hoffmann. Unter solchen Verhältnissen ...... Ich möchte den sehen, der
unter solchen Verhältnissen nicht reizbar werden würde ...
Loth. Viel Energie scheint sie zu besitzen.
Hoffmann. Eigensinn!
Loth. Auch Gemüth, nicht?
Hoffmann. Zu viel mitunter .......
Loth. Wenn die Verhältnisse hier so mißlich für sie sind -- warum lebt
Deine Schwägerin dann nicht in _Deiner_ Familie?
Hoffmann. Frag' sie, warum! -- Oft genug hab ich ihr's angeboten.
Frauenzimmer haben eben ihre Schrullen. (Die Cigarre im Munde, zieht
Hoffmann ein Notizbuch und summirt einige Posten.) Du nimmst es mir doch
wohl nicht übel, wenn ich ... wenn ich Dich dann allein lassen muß?
Loth. Nein, gar nicht.
Hoffmann. Wie lange gedenkst Du denn noch ...?
Loth. Ich werde mir bald nachher eine Wohnung suchen. Wo wohnt denn
eigentlich Schimmelpfennig? Am besten, ich gehe zu ihm. Der wird mir
gewiß etwas vermitteln können. Hoffentlich findet sich bald etwas
Geeignetes, sonst würde ich die nächste Nacht im Gasthaus nebenan
zubringen.
Hoffmann. Wieso denn? Natürlich bleibst Du dann bis morgen bei uns.
Freilich, ich bin selbst nur Gast in diesem Hause -- sonst würde ich
Dich natürlich auffordern ... Du begreifst ...!
Loth. Vollkommen! ...
Hoffmann. Aber sag' doch mal -- sollte das wirklich Dein Ernst gewesen
sein ....?
Loth. Daß ich die nächste Nacht im Gast....?
Hoffmann. Unsinn! ... Bewahre! Was Du vorhin sagtest, meine ich. Die
Geschichte da -- mit Deiner vertrackten descriptiven Arbeit?
Loth. Weshalb nicht?
Hoffmann. Ich muß Dir gestehen, ich hielt es für Scherz. (Er erhebt
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